FORVM, No. 331/332
Juli
1981

Reggae auf der Bastille

Paris im Mai 1981
Neue linke Welle?
François Mitterrand und Bruno Kreisky bei der Tagung der Sozialistischen Internationale November 1980

1 Babylon

Die Hauptstadt ist dauernd in Bewegung. Demonstrationen, Umzüge, Aufmärsche, meist über die großen Boulevards, leergefegt von Autos, Platz für die Leute. Die Luft ist klar und durchsichtig vom Regen, die Bäume stehen im ersten Grün. An einem Tag eine Schwulen- und Lesbendemonstration, am nächsten Tag eine Demo gegen politische Attentate (Ronald Reagan); dann eine für politiische Attentate (die Anarchisten); gegen Vivisektion (die größte Demo); gegen Marchais und für Marchais. Überall Spektakel! Die Straße reagiert blitzschnell auf aktuelle Vorfälle, sie nimmt Stellung, ergreift Partei. Ein paar Plätze sind in Paris die Ausgangsorte für Demonstrationen: Place de la Republique, Place de la Bastille ... Die Leute strömen herbei, Transparente werden entrollt, Lautsprecherwagen zockeln heran, Grüppchen bilden sich und los geht’s.

Nahe der Porte St. Martin, diesem blutgetränkten Boden der Revolution, enden viele Aufmärsche, oder sie kommen wenigstens vorbei, den Boulevard Montmartre hinauf. Lautsprecher, blechern, Stimmengewirr, der Rhythmus der Parolen, Pfiffe, und immer wieder das „Ça ira“ und die Internationale. Politik ist hier sinnlich, nichts von bleierner Langeweile, keine mißmutigen Autoritäten. Die Porte St. Martin ist ein Ausfallstor für die riesigen Arbeiterbezirke, für das zehnte, elfte und zwölfte Arrondissement, die schwarzen Viertel, die Bezirke der Immigranten. Wer sich unter die Leute mischt, hört alle Sprachen — Türkisch, Arabisch, Griechisch, Ungarisch, Polnisch, Jiddisch und dazwischen ein schauderhaftes Französisch. Koschere Fleischhauer und arabische Gemüseläden finden sich Seite an Seite.

Neben den paar Kilometern der Prachtstraßen mit den eleganten großen Geschäften besteht Paris aus Tausenden winziger Läden, oft bis Mitternacht offen, die arabischen Greißler auch am Sonntag. Wovon leben sie eigentlich? Und erst die zahllosen Quetschen, die kleinen Handwerker in den Höfen und Hinterhöfen der Wohnhäuser? Automaten findet man auffallend wenige. Hier merkt man erst, wie oft man bei uns das Geld in den Schlitz steckt. Zigarettenautomaten fehlen, Zigaretten kriegt der Raucher im Café tabac. Wieder ein kleiner Verdienst für den Patron! Jedes Quartier ist ein Dorf. Man hat den Eindruck, Paris besteht aus lauter ineinander verschachtelten Kleinstädten. Vielleicht ist das die soziologische Grundlage des Gaullismus, der mit seiner chauvinistischen Politik das Kleinbürgertum vor den ausländischen Multis schützen möchte.

Das Centre Pompidou, ein gläserner Bauch, durch dessen Därme sich die Massen winden; davor ein großer freier Platz, den alle möglichen Schausteller für sich erobert haben. Feuerschlucker treten auf, Fakire, Entfessungskünstler, Clowns mit Narrenhut und Feder halten Ansprachen und parodieren die Politiker. Einmal kommt Coluche, den man auch im Ausland kennt, weil er — zum Spaß natürlich — bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert. Die Pariser Intelligenz jammert und schimpft über ihre Tageszeitungen und Zeitschriften, aber sie weiß gar nicht, was sie an Le Canard enchainé hat — eine satirische Zeitschrift, das wichtigste politische Organ Frankreichs.

Bild: Le Canard enchainé

2 Technokratenwunden

Paris, der gallische Hahn, Germinal ... ein Land, das immer wieder aus der Reihe tanzt. Der französische Eigensinn überrascht die Welt. Vor dem 10. Mai 1981 schien der Lauf der Zeitgeschichte unwiderruflich nach rechts zu gehen. Die Opportunisten der freien Welt hatten schon die Flaggen gewechselt. Energisch gab der neue Kaiser des Westens, seit Jänner dieses Jahres im Weißen Haus, den Ton an. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis eine ausgeblutete Sozialdemokratie einem frisch erwachten Neo-Konservativismus Platz zu machen hatte. Unter diesem Blickwinkel wurde der französische Wahlkampf im Ausland wiedergegeben.

Die ausländischen Korrespondenten in Paris bewunderten die königlichen Allüren Giscards. Auch seine mörderischen Skandale verliehen ihm Glanz und Gloriole eines fast absoluten Herrschers. Giscard erschien als Sozialliberaler, fast als Sozialdemokrat. Er wurde als Busenfreund des Bonner Bundeskanzlers gefeiert, mit dem er — wenn man dem Spiegel glauben dürfte — ein imperiales Pärchen bildete. Intime Plauderstündchen der beiden hohen Herren, nächtliche Konversationen im Whisky-Keller des Hamburger Eigenheimes belebten die ausschweifende Phantasie der Journalisten: Helmut Schmidt am privaten Tresen mixte die harten Drinks der deutsch-französischen Compagnie.

Was für ein Jammer, daß die Franzosen selbst von ihrem Staatslenker keineswegs so begeistert waren. Seine großspurigen Auftritte, die Heldentaten seiner Fallschirmjäger am Kongo, in der Sahara und im Libanon imponierten dem Ausland mehr als seinen Landsleuten. Giscard behandelte sie immer hochnäsiger, wie Untertanen. Mitterrand hingegen — vor dem 10. Mai war er das arme Würstchen, der ewige Verlierer. Man vergaß, daß Mitterrand die Sozialistische Partei in den sechziger Jahren neu gegründet hat. Es ist merkwürdig, aber in einem so zentralisierten Staat wie Frankreich wird die Innenpolitik von den lokalen Größen gemacht, nicht von Parteizentralen in Paris, sondern von den Notabeln, den „Kaziken“ und „Markgrafen“.

Hatte Mitterrand nicht schon gegen alle Präsidenten der 5. Republik verloren? Gegen de Gaulle, gegen Pompidou, zweimal gegen Giscard, dessen Bürgerblock die entzweite Linksunion bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 1978 glatt geschlagen hatte. Mitterrand galt als Stehsatz-Politiker, denn die wirkliche Opposition stellten natürlich die Kommunisten dar, die freilich ihr giftiges Schlangenhaupt in der Ära Ronald Reagan einziehen müßten. Jetzt schlägt die Stunde, da die Völker des Westens enger zusammenrücken, unter dem Schutz von Pershing-Raketen ... Bomben auf Moskau! So war die Parole. Seit dem 10. Mai sollte es vielleicht heißen: Bomben auf Paris?

Generell zeigen die Franzosen wenig Lust, sich den Direktiven aus Washington zu unterwerfen. Eigentlich hätte man das schon seit den Tagen de Gaulles wissen können. Jene feuchtfröhliche Freundschaft Giscards mit „le Feldwebel“ erfreute ganz und gar nicht ihr chauvinistisches Herz. Giscard, der fühlte, daß er sich zu herzlich mit Amerikanern und Westdeutschen eingelassen hatte, beeilte sich, um als erster westlicher Staatsmann nach der Invasion Afghanistans Breschnew zu besuchen (und zwar ausgerechnet in Warschau!). Daß auch die französische Rechte nicht einmal im Traum daran denkt, sich den Nachbarn an den Hals zu werfen, illustriert eine Episode aus dem Jahr 1977, aus der dunklen Zeit des „deutschen Herbstes“, als sich die Germanen auf den Kriegspfad begaben.

Klaus Croissant, der RAF-Anwalt, dessen Auslieferung von der deutschen Polizei verlangt wurde, durfte sich damals wochenlang in Paris frei bewegen. Jean Genet, der Dichter und Dieb, publizierte in Le Monde eine poetische Verherrlichung des deutschen Terrorismus, was in der deutschen (und österreichischen) Öffentlichkeit ein blutrünstiges Gemurre gegen die Welschen auslöste. Erst nach dem Sieg der Giscardianer bei den Parlamentswahlen im März 1978 legte sich die künstliche Aufregung.

Keine Klasse der französischen Gesellschaft ist von der Aussicht begeister, als Aushängeschild und Stoßtrupp des neudeutschen Imperialismus verheizt zu werden. Dabei hatte sich der Spiegel diese Kooperation schon so schön ausgemalt: französischer Charme plus deutsche Kraft. Das sind keine leeren Worte. Daran hängt das große Geld. Etwa in der Rüstungsindustrie, einer vielversprechenden Wachstumsbranche. Über französisch-deutsche Coproduktionen liefen und laufen gewaltige Waffenexporte, die in der Bundesrepublik gesetzlich verboten sind. Ein ähnlicher Fall ist die Atomenergie. Giscard war ihr eifrigster Verfechter. In Sachen Waffenexporte hat er vieles abzustreiten versucht („Daran kann ich mich nicht erinnern“). Aber mit dem Atomstrom identifizierte er sich unverblümt.

Giscard: Aufforderung zum Tanz
Bild: Le Canard enchainé

Schwer zu sagen, ob im Wahlkampf die Kernkraft für Giscard ... oder umgekehrt Giscard für die Kernkraft werben sollte. Auf Flugblättern, Plakaten, Handzetteln der Giscardianer erblickte man den charakteristischen Umriß eines AKW, das bereits wie ein Parteiabzeichen wirkte. So betrachtet ist das Resultat vom 10. Mai ein — wenigstens symbolischer — Sieg über die Großtechnologie. Östlich des Rheins wurde vom französischen Wahlkampf fast nur der Clown Coluche wahrgenommen, zweifellos ein witziger Typ, der mit seiner Parodie auf Kandidaten und Kandidaturen allerdings nur im Ausland tierisch ernst genommen wurde. Zumal in den Nachfolgestaaten des Heiligen Römischen Reichs, wo die Anbetung der Führerfiguren devoter betrieben wird als im Vaterland der Jakobiner. Unbegreiflich also für unsere Verhältnisse, daß die Franzosen zu ihren Popanzen ein satirisches Verhältnis haben.

Vor dem ersten Wahldurchgang — dann gab es nur noch Mitterrand contra Giscard — ist keineswegs der Clown Coluche der ernsthafte Außenseiter gewesen, sondern der Kandidat der „Grünen“, Brice Lalond, der es am 26. April immerhin auf 4,5 Prozent der Stimmen brachte. Er hat sich dann auf die Seite Mitterrands geschlagen, die französischen Grünen sind eine der Säulen der „neuen Mehrheit“ (neben Sozialisten, Kommunisten und der unabhängigen Linken).

Klugerweise hat sich Mitterrand im Wahlkampf nicht in jene Sackgasse verrannt, in der heute die sozialdemokratischen Schwesterparteien an Rhein und Donau feststecken. SPÖ & SPD sind auf Atomprogramme fixiert, die sie politisch schwer verwirklichen können, sie machen sich deshalb Feinde auf beiden Seiten und zittern um die entscheidenden Prozente der abgegebenen Stimmen. Die Wahlniederlage in Westberlin, von den Alternativen Listen herbeigeführt, die innere Auflösung der Hamburger SPD, überdies der immer breiter werdende Krankenhaus-Skandal in Wien — all das beweist, wie tief die Wunde ist, die von der Großtechnologie geschlagen wurde.

Mitterrand, der es in der Opposition allerdings leichter hatte, zog durch Kompromisse den Ökologischen Protest auf seine Seite: eine Bewegung, die in Frankreich momentan mehr Gewicht und Bedeutung hat als der Gaullismus. Selbstredend spielte in den Medien hierzulande nur Chirac eine Rolle, der grüne Lalond fast gar keine.

3 Cadre de vie

Seit mehr als zwanzig Jahren heftet die 5. Republik bedingungslos den technischen Fortschritt auf ihre Fahnen. Auf der Trikolore müßten Buckel und Schornstein eines AKW prangen. De Gaulle, Pompidou, Giscard — alle drei faßten es als ihre historische Mission auf, aus Frankreich einen supermodernen technologischen Staat zu machen. Force de frappe, Atom-U-Boote, der Düsenjäger Mirage, das Überschallflugzeug Concorde, die Wiederaufbereitungsanlage La Hague, das überdimensionale Atomkraftwerk-Bauprogramm: diese Monstren stellen die Kathedralen einer technokratischen Gesellschaft dar, in die sich Frankreich nach den Plänen seiner Staatschefs verwandeln sollte. Pfui über Schöngeister & Feinschmecker!

Giscard ist es gelungen, die Allonge-Perücke mit der Kernspaltung zu vereinen. Mitterrand konnte nur siegen, weil er den Protest gegen die Technokratie in seine Politik integrierte.

In Frankreich stecken aber gerade die Kommunisten in der sozialdemokratischen Sackgasse. Die KPF bejubelte, unter dem sattsam bekannten Titel „Arbeitsplatzsicherung“, die Mammutprojekte des Giscard-Regimes. Am blamabelsten bei der Concorde, die sich als kommerzieller und technischer Reinfall entpuppt hat. Giscard ist seinerzeit mit der Concorde extra nach New York geflogen, um in Amerika die Landerechte für das Überschallflugzeut zu erzwingen. Georges Marchais, wenn er nur in die USA hinein dürfte, hätt’s ihm am liebsten nachgemacht.

Gerade in dem Punkt haben sich die Kommunisten mit der Regierungspolitik gemeingemacht, wo sich die effektvollste Opposition entzündete. Es war in Frankreich, wo die Grünen ihre ersten Wahlerfolge errangen. Typisch, daß der frisch gewählte Präsident Mitterrand („Francois, bleib Franzose“, mahnten die Spötter vom Canard) zuerst mit dem Baustopp zweier Atomkraftwerke am Atlantik und mit den französischen Atomversuchen in der Südsee beschäftige. Mitterrands Wahlprogramm ist für die französische Atomstreitmacht, aber gegen eine Ausdehnung der „friedlichen“ Atomenergie. Sofort nach Amtsantritt hat es über diesen Punkt innerhalb des neuen sozialistischen Kabinetts internen Streit gegeben. Ob sich der Präsident Mitterrand an die Versprechen des Wahlkämpfers halten wird? Er muß wohl, weil in der Wirtschaftspolitik rasche Erfolge unwahrscheinlich sind.

Das Resultat der Parlamentswahlen im Juni, bei denen Mitterrand um eine Mehrheit in der Nationalversammlung kämpft, hängt auch davon ab, ob er die Grünen zufriedenstellt. „Cadre de vie“, was mehr bedeutet als unser Wort Lebensqualität, ist ein Stichwort der linken Agitation (und nicht der rechten, wie bei uns). Unter dem Regime Giscards plusterte sich Frankreich zum rücksichtslosen Vorreiter der internationalen Atomlobby auf. Cap La Hague solite auch die „Abfälle“ vom österreichischen AKW Zwentendorf aufnehmen, die Verträge mit Frankreich wurden bei der österreichischen Debatte um Zwentendorf 1978 in die Waagschale geworfen.

Nach Frankreich blickten alle Anhänger des Atomstroms: hier wurden AKWs in Serie gebaut, während in der Bundesrepublik ein faktischer, in Österreich ein legistischer Baustopp besteht. Auf diese Weise wurde Frankreich aber erst recht von ausländischen Interessen abhängig gemacht. Ein Punkt, der den ansonsten so patriotischen und über eine westdeutsche Hegemonie besorgten Kommunisten anscheinend entgangen ist. Allerdings hat der Widerstand gegen die Strategien der Großtechnologie nicht nur Ökologische Motive. Es geht vor allem um die Arbeitslosigkeit: „le chomage“ war die am meisten gebrauchte Vokabel der Wahlkämpfer.

Die forsche Industrialisierungspolitik, deren Spitze die Atomenergie darstellt, hat den 1,7 Millionen Arbeitslosen keineswegs geholfen. Für Ende 1981 werden zwei Millionen Arbeitslose prophezeit. Das wird ein harter Knochen für die sozialistische Wirtschaftspolitik, die ja auch viel vom „Strukturwandel“ moderner Konzerne erhofft. In Frankreich bestätigt sich das Argument der Grünen, daß mit der Vermehrung industrieller Energie die Arbeitsplätze schrumpfen. Gewachsen sind allerdings unter Giscard Rüstung und Rüstungsindustrie, die sich nicht nur in den französischen Waffenexporten nach aller Welt und in den Blitzaktionen der Fallschirmjäger ausdrücken. Im Ausland fiel es zu wenig auf, daß die französische Protestbewegung gegen diesen Militarismus aufbegehrte.

Zuerst einmal mit den „Soldatenkomitees“, die Streiks und Politisierung in die Kasernen gebracht haben. Und zweitens mit den Demonstrationen und Massenkundgebungen gegen die militärischen Anlagen von Lazarc im Zentralmassiv, dem französischen Gegenstück zu Whyl. Der Truppenübungsplatz von Lazarc hat genauso wie das AKW am deutschen Ufer des Oberrheins ein gemeinsames Thema für konservative Bauern und städtische Linksintellektuelle hergegeben: das französische Zentralmassiv und die Winzerstadt Whyl sind die zwei Geburtsorte der grünen Bewegung.

Georges Marchais
Bild: Le Canard enchainé

4 Rote Rassisten

Östlich des Rheins sind die enttäuschten Maoisten zur Umweltpolitik übergelaufen, westlich die ausgeschlossenen KP-Intellektuellen. Nach dem Ende der Euro-Phase — wer erinnert sich noch an Berlinguer? — errichtete Marchais in der KPF eine Schreckensherrschaft, die lediglich vergleichbar ist mit den Säuberungen Helmut Schmidts in der SPD. Die beiden ziehen auch sonst an einem Strang. Unabhängig voneinander, aber gleichen Sinnes, haben der KPF-Chef und der BRD-Kanzler gegen Mitterrand Stimmung gemacht. Nur zu begreiflich die Freude, mit der Willy Brandt, der seit Jahren die Fußtritte Helmut Schmidts einsteckt, den Amtsantritt seines Freundes Mitterrand in Paris mitgefeiert hat.

Die KPF überschritt beim ersten Wahlgang am 26. April nur knapp die 15 Prozent. Giscard, dessen letzte Hoffnung die rote Gefahr war, mußte selbst zugeben, daß den Kommunisten damit die Zähne gezogen wurden. Marchais kriegte einen Herzanfall.

Nach dem 10. Mai bot er sofort dem Sieger servil seine Dienste an. Warum nicht auch ein paar kommunistische Minister ...? Wir sind auf dem Posten, rief er pathetisch in einer Pressekonferenz aus. Mitterrand zuckte kühl mit den Achseln. In Wahrheit hat die KPF längst keine Politik mehr. Sie präsentiert sich mehr als Prügelgarde. Wenn’s nicht die authentischen Marxisten wären, würde man von „brutaler faschistischer Demagogie“ sprechen.

An einem kalten Wintertag Anfang 1981 demolierten städtische Bagger ein Wohnheim mit farbigen Fremdarbeitern, vornehmlich Straßenkehrern und Rauchfangkehrern, eingewandert aus den Dörfern des Mali und Senegal. Treppen und Heizungen werden abgerissen, auf Anordnung des kommunistischen Bürgermeisters der Pariser Vorstadt Vitry, der die Schwarzen aus seinem Bezirk hinaushaben will.

Kurz darauf eröffnete Marchais — endlich wieder in den Schlagzeilen! — eine Hetzjagd gegen marokkanische Familien, angeblich lauter Drogenhändler. Reinheit und Tugend der französischen Jugend stehen auf dem Spiel. Der Parteichef und sein Bürgermeister gratulieren einander. Rassismus, die eiserne Front gegen die Arbeitslosigkeit! Die KPF gibt zu, daß sie keine Alternative zur merkantilistischen Wirtschaftspolitik Giscards weiß.

Derart ideologisch aufgerüstet, zog die Kommunistische Partei in den Wahlkampf. Atomstrom ja, Fremdarbeiter nein! Für diese Parole kassierte die Partei des proletarischen Internationalismus am 26. April ihren Lohn. Mit Marchais & Giscard wurden zwei Rassisten geschlagen. Der eine läßt die Afrikaner aus den kommunistischen Stadtteilen vertreiben, der andere gleich in ihrer Heimat von seinen Fallschirmjägern niederschießen.

Bei den Umzügen am 1. Mai, die vom Place de la Republique ausgingen, marschierten lediglich in den Kolonnen der KPF keine Farbigen mit. An den Straßenrändern standen die Schwarzen schweigend Spalier, als Lenins besiegte Kohorten vorbeizogen. Hätte es nicht geregnet, wäre es möglicherweise zu Schlägereien gekommen. Wenigstens rechnete man damit; weit und breit war kein Flic zu sehen.

Am 10. Mai, bei der spontanen Siegesfeier auf der Place de la Bastille, haben vor allem die Afrikaner ihren Sieg gefeiert: den Sieg Mitterrands, den sie selbst gar nicht wählen durften. Die Immigranten bedankten sich bei den Einheimischen. Von den mindestens 150.000 Anwesenden (eine Zahlenangabe in den Zeitungen) war ein Drittel Farbige. Le Monde kommentierte gerührt das Freudenfest auf der Place de la Bastille: „Wieder lieben lernen ...“.

5 Akustik der Freude

10. Mai, nachts um zehn Uhr auf dem feinen Boulevard St. Germain des Prés. Autokolonnen, die einen Höllenlärm veranstalten, ein rasendes Hupkonzert, die Akustik der Freude. Auf offenen Kleinwagen Menschentrauben, die rufen, schreien, winken. Jungs und Mädchen schwenken rote Fahnen, die Trikolore. Lachende Gesichter, geballte linke Fäuste. Am Straßenrand umarmen einander wildfremde Leute, Tränen in den Augen. Schwarze schütteln den Weißen die Hände, küssen einander, fallen einander um den Hals. Frauen halten ihre Babies den Vorbeifahrenden entgegen — ein rasender Freudentaumel hat die Leute erfaßt, wie berauscht sind alle, der Rausch ist ansteckend. Die Linke hat gesiegt, zum ersten Mal in der 5. Republik! Zum ersten Mal seit 1936! Das Defilé der Autos hört nicht auf, ihr Hupen; die Kolonnen rollen-und rollen. Auf den Balkonen hoch oben an den vornehmen Stadtpalästen starren die Bourgeois ungläubig auf dieses Spektakel. Rufe: Auf zur Place de la Bastille! Zur Bastille!

Um elf Uhr nachts die erste Zeitung, Extra-Ausgabe, ein reaktionäres Boulevard-Blatt, das aber gleich den neuen Präsidenten feiert. Mitterrands Sieg steht fest, die Prozentzahlen sind schon publik. Gegen den Strom der Menge geht’s in die Rue Solferino Nr. 10, zu den Headquarters der Sozialisten. Ein äußerst nobles Quartier, eine Riege von Flics, die aber ganz lässig dreinschauen. Ein paar Absperrschranken, über die jeder drüberhüpft ... Vorm SP-Sitz Funkwagen, in drei riesigen TV-Geräten läuft die Wahlberichterstattung, in Farbe. Ein Fernsehteam nimmt an Ort und Stelle die neugierige Menge auf. Viele tragen rote Nelken, rote Rosen angesteckt.

Im Fernsehen kommen die Prozentzahlen der einzelnen Wahlkreise; dann eine Diskussion mit den unvermeidlichen Experten „zur Lage“, die verdatterten langen Gesichter der TV-Chefredakteure. Man merkt, wie die konservativen Ideologen, bisher im Saft der Macht, entsetzt bibbern. Das ist ihnen ordentlich in die Knochen gefahren! Schon fangen sie an, vor den Linken zu kriechen.

In der überfüllten Metro wird gebimmelt, geklingelt, gescheppert, mit allen erdenklichen Instrumenten Lärm gemacht, und alles lacht dazu. Dichtgedrängt stehen die Leute auf der Place de la Bastille, Kopf an Kopf, unübersehbar. Ein einziger Aufschrei: Reggae-Musik, gesungen von Bob Marley, peitscht über den Platz. Hier rempelt keiner den andern, nichts als geschmeidige, gleitende Bewegungen. Einmal kein Blutbad! Sinnliches Eintauchen in erhitztes fremdes Fleisch: die solidarische Orgie der Politik. Das Pflaster ist übersät von zermantschten Giscard-Stimmzetteln, demonstrativ von den Mitterrand-Wählern weggeschmissen.

Unvermutet öffnen sich die Schleusen des Himmels, ein wildes Gewitter geht nieder, Wolkenbrüche. Die Freude der Leute läßt sich durch nichts erschüttern, sie feiern die grellen Blitze und den schrecklichen Donner wie ein eigens veranstaltetes Feuerwerk der Natur.

6 Rothschilds Freunde

Die Massenmedien. Jeder Kindskopf weiß, wie man heutzutage Politik macht. Das französische Fernsehen unterlag der direkten Kontrolle Giscards, er hat die meisten Chefredakteure persönlich ernannt. Einer von ihnen (so steht’s im Canard) verplapperte sich in der Nacht des 10. Mai vor der Kamera: „Ich bin seit 20 Uhr demokratischer Sozialist!“ Gemeint war natürlich: seit zwanzig Jahren ...

Schauplatz der Auseinandersetzungen im Wahlkampf mußte deshalb die Presse sein. Der gefährlichste Feind des alten Regimes: die satirische Wochenzeitung Le Canard, die mit Enthüllungen, Dokumenten, Fotos, Karikaturen und gewürzten Witzen seit Jahren ihre 1,2 Millionen Käufer gegen den „Gis-quart“ mobilisiert hat. Größtes Problem des Canard nach dem 10. Mai: Was tun ohne dieses dankbare Opfer? Schon wurde ein Briefwechsel veröffentlicht, zwischen „Jugurtha“ und „Nul“, dem Rassehund des scheidenden Präsidenten und dem des kommenden. Dieses Blatt sollte in alle Kultursprachen übersetzt werden!

Was einst im Wien der zwanziger Jahre der Bundeskanzler Johann Schober für die Fackel gewesen ist, das war Giscard den Redakteuren des Canard. Die Macht der Satire gegen die Gedankenlosigkeit der Macht! Verstrickt in undurchsichtige Geschäfte und allzu durchsichtige Lügen, mit Juwelen beschenkt, im Ruche, bei einer gewissen Affäre einen unbequemen Komplicen beseitigt zu haben, animierte der Staatspräsident die höllischen Geister des Spotts, die pünktlich jeden Mittwoch einen neuen Dreck seines Steckens ans Licht der Öffentlichkeit zogen.

Es waren die Lügen Giscards, die ihm moralisch ruiniert haben. Zuerst verleugnete er die Diamanten, die er von seinem Jagdfreund, dem zentralafrikanischen „Kaiser“ Bokassa,v einem seiner Schützlinge, geschenkt bekommen hatte; dann erzählte er, es handle sich bloß um Attrappen, wie man sie in den Auslagen der Juweliere findet. Bokassa, nunmehr im französischen Exil, rächte sich dafür, daß ihn sein Schutzherr im Stich gelassen hatte: er nannte den Journalisten den Millionenwert der Diamanten. Giscard antwortete, er habe den Schatz an das Rote Kreuz in der Zentralafrikanischen Republik weitergeschenkt, woraufhin die Zeitungen ein Telegramm abdruckten, mit dem das Rote Kreuz dieses nie erhaltene Geschenk für sich dringend reklamierte.

Was hatte Giscard dagegen aufzubieten? Er führte seine „Vedetten“ ins Feld (wie man in Frankreich die TV-Stars nennt): Alain Delon mit dem Damenkränzchen Mireille Darc und Mireille Matthieu. Ein Trio, das im Fernsehen permanent Reklame für sich und für den Präsidenten machte. Alain Delon rezitierte einmal zu Ehren seines großen Freundes einen Text von Victor Hugo, wobei er allerdings die radikalen Passagen dieses republikanischen Dichters ausließ. Gegen Giscard wandte sich auch der Groll der Fernsehkonsumenten, denen die Lieblinge des Staatschefs allmählich zum Hals heraushingen. Es war dann schon zu penetrant, wie Giscard seine Macht über Kulturbetrieb und Fernsehen für seine persönlichen Interessen einsetzte.

Jimmy Goldsmith: Meine Zeitung ist bürgerlich

Ein ernsthaftes Nachspiel folgte dem 10. Mai im Nachrichtenmagazin L’Express. Ein Titelbild, vor dem zweiten Wahlgang, zeigte den faltigen und eingeschrumpften Giscard, konfrontiert mit einem vitalen und jugendlich wirkenden Mitterrand (der im Original fast zehn Jahre älter ist). Der Eigentümer von L’Express, ein britischer Kapitalist und Verwandter der Rothschilds, feuerte deshalb den Chefredakteur und dessen Stellvertreter. Der Multimillionär Sir James Goldsmith erklärte, sein Nachrichtenmagazin sei unbedingt ein Organ der bürgerlichen Politik. Er drohte mit der Einstellung von L’Express, falls die Redaktion zu ihren gefeuerten Chefs halte. Der betroffene Chefredakteur, Jean-François Revel, ist ein konservativer Liberaler, der ein Buch mit dem Titel Weder Marx noch Jesus veröffentlicht hat.

Ein Titel, der das Programm Giscards, dieses liberalen Bourgeois, ganz gut kennzeichnet. „Liberal“ ist er vor allem in der Wirtschaftspolitik gewesen, die den großen Konzernen freie Bahn ließ. Modernisierung um jeden Preis! Es sieht so aus, als ob sich am 10. Mai das zahlreiche französische Kleinbürgertum, die armen Bauern in der Provinz und die vielen bescheidenen Geschäftsleute in den Städten, für Mittterrand und die Sozialdemokratie entschieden hätten. Für mitteleuropäische Begriffe ein überraschender Schwenk! Aber nicht unbedingt in Frankreich, wo sich die Kleinbürger von Zeit zu Zeit ihrer jakobinischen Tradition entsinnen.

Regelmäßig schlug sich das französische Kleinbürgertum im entscheidenden Augenblick auf die Seite der Linken. Daran ist der Faschismus in Frankreich während der dreißiger Jahre gescheitert. Der Mythos der Résistance vereinigt Intellektuelle, Kleinbürger und Arbeiter; seit Danton steht das Vaterland links.

Es hat Giscard geschadet, daß der Canard kurz vor den Wahlen ein Dossier veröffentlichte, mit dem der Budgetminister als Kollaborateur der Nazis entlarvt wurde. Jacques Chirac, Pariser Bürgermeister, der politische Repräsentant der Kleinbürger, forderte nach seinem schwachen Abschneiden im ersten Wahlgang die linken Gaullisten auf, im zweiten Wahlgang für Mitterrand zu stimmen. Die Giscardianer verfluchten den Verräter, dem vermutlich gar nichts anderes übrig blieb. Chirac, der einmal Ministerpräsident unter Giscard gewesen ist, protestierte in den letzten Jahren gegen die großkapitalistische Politik seines Alliierten.

Nach dem 10. Mai vollzog der Anführer der Gaullisten, seiner Truppen längst nicht mehr sicher, von neuem eine Kehre. Chirac besiegelte für die Parlamentswahlen im Juni ein Wahlbündnis mit den „Unabhängigen Republikanern“, der Partei Giscards ein Bündnis gegen den neuen Präsidenten, dem in der Nationalversammlung eine sozialistisch-kommunistische Mehrheit verwehrt bleiben soll. Diese Manöver verfolgen das Ziel, den kleinbürgerlichen Gaullismus, den Giscard aus der Macht verdrängt hatte, zum Schiedsrichter im großen Spiel zu machen. Ohne eine linke Mehrheit wäre Mitterrand im Parlament auf die Gaullisten angewiesen, die dann endlich aus dem Statistendasein der Vergangenheit hervortreten könnten.

Dieses Wahlbündnis Chiracs mit den Giscardianern, eine Vernunftehe, keine Liebesheirat, trägt den schönen Namen „Für eine neue Mehrheit“, obgleich es nur die Wiedergeburt der Koalition bedeutet, von der die 5. Republik bis zum 10. Mai regiert wurde. Diese alte Mehrheit, die sich bei den Juni-Wahlen verjüngen möchte, hatte seit einem Jahrzehnt nichts anderes im Sinn, als eine Wiederkehr des Pariser Mai 1968 zu verhindern. Aus lauter Angst vor dem Tod haben die Gaullisten in der Ehe mit Giscard beinahe Selbstmord begangen.

7 Petit Bourgeois

Monsieur Albert, jeder Zoll ein Kleinbürger, den es genauso in Wien oder Berlin gibt, spielt im Haus den Aufpasser, den Auskunftsmann für alle, er ist Concierge aus Leidenschaft und freien Stücken, erledigt seine Dienste völlig gratis — ein aufgeräumter Herr, stets schwitzend treppauf, treppab mit Kübeln unterwegs. Bereits in Pension, arbeitet er abends im nahen Boulevardtheater als Billetteur oder Garderobier. Monsieur Albert schwärmt von deutschen Küchengeräten, KRUPP geht ihm über alles, denn er war einst in deutscher Gefangenschaft und schwärmt für Ordnung & Sauberkeit.

Er fürchtet, jemand könnte ein falsches Bild von Paris kriegen, wenn er bloß nach dem Viertel rundherum urteilt: „Wie schmutzig es da ist!“ Für Monsieur Albert sind die großen Warenhäuser, der Eiffelturm, die Champs Elysees das wahre Paris. Seine kleine Wohnung ist mit Nippes und Souvenirkram vollgestopft, sein Pudel leidet ebenfalls unter Verstopfung; ein furchterregendes Aquarium versperrt den Flur. An der Wohnungstür prangt ein riesiges Namensschild, ganz unüblich in dieser anarchischen Stadt. Das Schild ist reich verziert: ein kupferner Engel mit Posaune und Lorbeerkranz ...

Nach der Wahl lauert er im Treppenhaus. Er hat Angst, daß jetzt der Kommunismus kommt, die „Diktatur“. Das Wort spricht er aus wie den Leibhaftigen. Rumänien kennt er vom Urlaub — nackte Armut, kein Essen, Brot wird nur einmal in der Woche gebacken, am Samstag ist es schon aus. Und das ist auch die Zukunft Frankreichs! Er erzählt mit lebhaften Gesten, die Abscheu und Entsetzen ausdrücken, spricht ein primitives Gastarbeiter-Französisch, um sich der Ausländerin verständlich zu machen. Plötzlich die Frage: „Sind Sie Kommunistin ?“

Er haßt die schwarzen Einwanderer. Sie kann er nicht umbringen, deshalb führt er einen mörderischen Krieg gegen die Tauben. Mit einem Stecken dringt er in die Wohnungen ein, stochert an den Simsen herum, sucht die Nester, die Taubeneier. Als er hört, in Österreich verwende man Taubengift, beginnen seine Augen zu glänzen.

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