Rechtskorrektheit
Liebe Freunde,
anbei einige Zufälligkeiten, Anmerkungen und Überlegungen zu diesem Beitrag, ungeordnet und einfach niedergeschrieben.
1. Gestern las ich den Artikel „Zur Reform verurteilt“ von Kamp, Lothar in: »Die Mitbestimmung«, Nr. 7/8/1997, S. 25ff. Auf Seite 27 bemerkt Kamp zu seiner wirtschaftlichen Analyse: „All diese Ereignisse reizen zu moralischer Bewertung ...“ „Ja gehen’s“, würde Schandl sagen: „Nicht moralische Kritik ist erforderlich, sondern Kritik der Moral.“
Sagen will ich damit, daß der gestern gelesene Artikel von Kamp und der gestern und heute gelesene Artikel von Schandl von mir in einem Zusammenhang gesehen werden. Das finde ich sehr interessant und Schandl half mir bei weiterer Erkenntnisgewinnung. In Vorträgen und Kursen habe ich den Teilnehmern gesagt: Gerechtigkeit, das können Sie sich auf ein weißes Blatt Papier schreiben — in Schönschrift! Und dann — dann hängen Sie es sich ins Schlafzimmer. Mein Hinweis war, nicht Gerechtigkeit einfordern, sondern was Rechtsbedingungen betrifft Korrektheit entsprechend der Rechtslage einfordern, als eigene Interessenlage.
2. Von dieser Überlegung möchte ich einige Anmerkungen ableiten.
2.2. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist: In den Kampf ziehend, muß ich den Sieg wollen und den Weg zu ihm weisen können, soll mal ein Uljanow formuliert haben. Das halte ich durchdenkend für richtig.
2.3. Von der Abstraktionsebene möchte ich versuchen auf die Alltagsebene zu kommen. Dieses ist nämlich bei kommunistischen Marxisten — oder nennen sie sich umgekehrt — etwas, das ich häufig vermisse, der Übergang von der Theorie zur politischen Alltagspraxis.
2.4. Kommen wir zum Gerücht der gerechten Gerichte. Wenn Gerechtigkeit geronnene Gewalt in der Form von formellem Recht ist, dann sollte dieses von seinen Strukturen her näher betrachtet werden. Einen Hinweis möchte ich hier geben, weil mir bisher keine Marxisten bekannt sind, die sich damit näher beschäftigt haben, unter der Prämisse der politischen Alltagsanwendung.
2.5. Reifner würde sagen: Der Kern bürgerlichen Rechts ist das individuelle Recht, das Individualrecht. In der BRD explizit am Mietrecht zu erkennen. Und nicht zufällig, würde Reifner ergänzen, ist kollektives Recht im bürgerlichen Rechtssystem nur gering vorhanden. In Teilen des Arbeitsrechts und des Verbraucherrechts. Agnoli würde darauf hinweisen, daß genau dies die Absicht des bürgerlichen Rechts ist. (Reifner ebenso.) Bürgerliches Recht führt bewußt zur Individualisierung gesellschaftlicher, damit politischer Problemstellungen, zur Entkollektivierung, zur Vereinzelung gesellschaftlicher Individuen.
2.6. Jetzt kommt das Aber, die Relativierung. Wenn Recht eine Frage der Gewalt ist, dann beinhaltet das bürgerliche System die Möglichkeit durch Gewalt Recht zu entwickeln. Und zwar gesellschaftliche Gewalt. Auf diese Problematik der Rechtsentwicklung durch gesellschaftliche Gewalt hat vor Jahren Abendroth schon hingewiesen. Das ist die Auseinandersetzung um die Rechtsnorm und die Rechtswirklichkeit. Ergänzend sage ich: und die der Rechtsentwicklung.
2.7. Nicht um Gerechtigkeit kann es gehen, sondern um das Einfordern von Korrektheit und die damit verbundene Rechtsentwicklung innerhalb der Gesellschaft. Schandls Artikel hinterläßt bei mir den Eindruck (bei anderen Lesern auch?), es wäre halt nichts zu machen. Schandl hinterläßt möglicherweise so eine passive Leserhaltung? Dieses wäre näher zu prüfen.
2.8. Das Einfordern von Rechtskorrektheit und damit der verbundenen Rechtsentwicklung innerhalb des bürgerlichen Systems ist doch bisher noch möglich. Anders ist es im Faschismus und im Realsozialismus gewesen. (Siehe die DDR, die Problematik der Verwaltungsgerichtsbarkeit.)
2.9. Schandls Artikel hinterläßt bei mir die Empfindung, daß er die Leser mit seinen Ausführungen in eine passive Einstellung und damit in eine abwartende Verhaltensweise drängt.
2.10. Meine Überlegung ist, den aktiven Einsatz der Individuen als Elemente der Erkenntnisgewinnung über bürgerliches Recht und die damit vorgegebenen Strukturen zu nutzen. Zwar nicht Gerechtigkeit einfordern, aber doch Korrektheit anstreben innerhalb des bürgerlichen Systems. Und — diesen Prozeß als einen emanzipatorischen Prozeß der Individuen und der streitenden Kollektive sehen und begreifen. So kann Recht zu einem Ergebnis gesellschaftlicher Gewalt mit einer anderen Interessenlage angestrebt oder umgestaltet werden.
2.11. Gerechtigkeit ist wirklich, aber nicht immer tatsächlich. (Hegel, S. 70) Doch tatsächlich kann kollektive Gewalt sich als emanzipatorischer Prozeß entwickeln. Kann — nicht muß —, es liegt an den Akteuren und den weiteren Umständen und Bedingungen.
Dieses zu Schandls Artikel. Da ich am Schreiben bin, möchte ich einen Hinweis geben, den ich schon lange mitteilen wollte. Es geht um den Artikel von Scheit, Gerhard „Fortschritt und Notbremse“ in: Nr. 5/1996, S. 6ff.
Scheit geht auf den Fortschrittsbegriff ein. Dabei wird für den Begriff Revolution der technische Begriff Lokomotive verwandt. Cassirer hat in seinen Überlegungen zur Technik und Sprache ja auf die Herausbildung und Ausprägung von Denkstrukturen durch technische Entwicklungen hingewiesen. Technische Entwicklungen reduzieren Erkenntnisgewinnung durch die vorgegebenen technischen Strukturen.
Mir kommt daher die Überlegung, daß dieser sprachliche Vergleich von Revolution und Lokomotive schon eine verengende Wahrnehmung beinhaltet. Schließlich fährt eine Lokomotive nur auf Schienen, vorwärts, rückwärts und ein bißchen unterschiedlich schnell. Die Notbremse bringt die Lokomotive nur zum Stehen, mehr nicht. Aber, fließt nicht alles? (Heraklit)
Anbei Einladungskopien einer kleinen Gruppe. Als Belege, für Euch, daß Artikel aus »Weg und Ziel« verarbeitet werden. Dreiviertel der Gruppe sind in einem Großbetrieb im Betriebsrat.
Rainer Hirsch, Hamburg
PS. Hätte ich bald vergessen. Habe die »Weg und Ziel«-Hefte zum Thema Wahlen von 1994 an durchgesehen, nichts dabei. Frage: Wurde sich noch nicht beschäftigt mit der Funktion von Wahlen in bürgerlichen Systemen? Hintergrund unseres Gruppenthemas sind die kommenden Bürgerschaftswahlen in Hamburg im September 1997.