FORVM, No. 164-165
August
1967

Rebellierende Studenten: Wien?

Günther Blecha ist Obmann des Verbandes Sozialistischer Studenten Österreichs und befindet sich — unter anderem eben deshalb — im 12. Semester seines Jus-Studiums. Daß er seine Zeit nutzbringend verbracht hat, scheint uns die folgende präzise Struktur-Analyse zu beweisen.

Die Universitäten müssen mit der Totalität einer Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden, deren Unvermögen und Widersprüche sie reflektieren. Die etablierte Weise, die Gesellschaft und deren Institutionen zu organisieren — eine bestimmte historische Praxis — muß an möglichen Alternativen gemessen werden. Diese Analyse impliziert Werturteile: daß eine demokratisch konzipierte Gesellschaft optimale Möglichkeiten eines schöpferischen und lebenswerten Daseins aller bietet; daß die Universitäten ein ausgezeichnetes Forum der Erziehung zu demokratischem Verhalten und Entscheiden, d.h. der Bildung kritischen Bewußtseins, sein sollen.

1.

Die tradierten Formen der Hochschulorganisation entsprechen nicht dem antizipierten Leitbild. Demokratische Entscheidungsstrukturen erfordern durchgehende Willensbildungsprozesse von unten nach oben. Die Institute, nach dem Muster von handwerklichen Betrieben (Meister, Gesellen, Lehrlinge) konstruiert, gewöhnen die Institutsangehörigen an Über- und Unterordnungsverhältnisse, denen sie auch außerhalb der Universität unterworfen sein sollen. Diese zunftartige Organisation wurde bis heute konserviert: jedoch hat sie ihren genossenschaftlichen Charakter im Unterbau der Institute verloren. Max Weber beschrieb diesen Prozeß der „Industrialisierung der Wissenschaft“ als „Trennung des Wissenschafters von seinen Produktionsmitteln“. Dadurch wurde die akademische „Bürgerschaft“ polarisiert. Eines der genossenschaftlichen Organe, die Professorenschaft, akkumulierte bislang verteilte Funktionen; das zünftlerische Strukturmodell wurde zur leeren Form.

2.

In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften wird akademische Ausbildung immer stärker eine Funktion gesellschaftlicher Bedürfnisse [1] Die Universitäten werden zu Betrieben, die eine möglichst große Zahl wissenschaftlicher Funktionäre für die höhere Technokratie einer autoritären Leistungsgesellschaft auszustoßen haben. Studium wird reduziert auf bloßes Sammeln von Faktenwissen und instrumentell einsetzbaren Forschungstechniken. Jegliche Art von Bildungsautonomie wird abgeschafft; damit aber auch die Bildung, die zur Reflexion, Kritik und Transzendierung der Gesellschaft befähigt. Tendenziell wird den Studenten jede reale Möglichkeit genommen, auf die Organisation ihres Arbeitsprozesses an der Hochschule Einfluß zu nehmen. — Die „Massenuniversität“ ist das Ergebnis der oben skizzierten Erfordernisse. Ihre Charakteristika sind:

  1. eine ununterbrochen steigende Anzahl Studierender, die „Demokratisierung“ des Zugangs zur Hochschule;
  2. b) eine unzureichende Zahl akademischer Lehrer sowie deren totale Überlastung;
  3. Raumnot und ungenügende Aus stattung (Mangel an Laborplätzen, etc.);
  4. hohe Bürokratisierung.

3.

Durch kurzfristig improvisierte Studienreformen soll der Hochschulbetrieb rationalisiert werden; selbst wenn dabei das bildungshumanistische Ideal, der Anspruch auf ein „Studium Generale“, aufgegeben werden muß. Das Problem selbst aber bleibt ungelöst: die hierarchischen Formen akademischer Herrschaft und Verwaltung stehen den Leistungsansprüchen technologischer Gesellschaften entgegen. Der Druck der ökonomischen Bedürfnisse wird einseitig auf die Studenten abgewälzt, durch administrative Zwangsmaßnahmen, durch eine Verengung der Studienziele. Diese Widersprüche werden von den Studenten immer mehr als irrational erfahren. Die Ohnmacht der Studentenschaft wird um so größer, je mehr sich die Universität an die von der Technokratie geforderten Leistungsprinzipien anpaßt, ohne daß die Interessen der Studenten dabei berücksichtigt werden.

4.

In allen Industriestaaten des Westens revoltieren Studenten inmitten einer stagnierenden demokratischen Gesellschaft. Nach den Studentenunruhen in Berkeley, Kalifornien, wurde versucht, diese Proteste aus den Lebensbedingungen zu erklären. [2] Demnach kennzeichnen folgende Rollendeterminanten die Studenten:

  1. Statusinkonsistenz: hoher Status außerhalb, niedriger innerhalb der Hochschule;
  2. Rollenambivalenz zwischen der Rolle des Jugendlichen und des Erwachsenen;
  3. Statusunsicherheit: die Ungewißheit Studien- bzw. Berufsziel zu erreichen; 40% bis 50% der Studenten verlassen die Hochschulen ohne ordentlichen Abschluß, von den Absolventen finden nur 10% leitende Positionen.

Aus dieser sozialpsychologischen Situation ergeben sich eine Reihe von Konflikten und Spannungen. Diese werden verschärft, wenn die gesellschaftliche Entwicklung die vitalen Interessen der Studenten gefährdet. Diese sind: Eine ökonomisch und effizient organisierte Ausbildung; Sicherheit und Erfolg in der beruflichen Entwicklung; die Freiheit von sozialem Druck; die Erhaltung der politischen Grundrechte, vor allem des Rechtes auf freie Meinungsäußerung.

Diese Interessen sind bedroht, wenn die „materiellen“ Voraussetzungen eines erfolgreichen Studiums (Labor, Übungsplätze etc.) nicht gewährleistet sind, wenn Studieninhalte und Lehrmethoden heutigen und besonders künftigen Anforderungen der Berufspraxis nicht entsprechen, ja sogar der Abschluß des Studiums überhaupt unsicher ist.

Besonders diskriminiert werden Studierende, die aus sozial schlechter gestellten Schichten kommen; ihre Drop-out-Quote liegt höher als der Durchschnitt.

Diese Gefährdung legitimer Interessen der Studenten, nicht ihre „Sattheit“, [3] ist die Ursache der Aktionen in Berkeley, Marburg, Berlin [4] und an der London School of Economics. [5] In Zeiten wirtschaftlicher Rezession werden diese Konflikte besonders aktuell.

In der intellektuellen Arbeit der Studenten und in ihrer Orientierung an den Prinzipien der Demokratie und Humanität liegen die ideellen Voraussetzungen ihrer Kritik. Eine systemkritisch denkende Minderheit der Hörer geisteswissenschaftlicher, nicht unmittelbar funktionaler Disziplinen, der Philosophie, der Soziologie, der Politikwissenschaft — der Einfluß fortschrittlicher Professoren ist evident — wird zur „pressure-group“ dieser Bestrebungen. Für sie ist die Status-Unsicherheit ein existentielles Problem. Eine Gesellschaft technologischer Rationalität ist unter den Gesichtspunkten der Freiheit und der Demokratie negativ zu beurteilen. Dennoch fehlt es an möglichen Triebkräften gesellschaftlicher Veränderung. Humanistische Kritik wird auf ein hohes Niveau der Abstraktion zurückgeworfen. Sie ist funktionslos und ohnmächtig.

Das Ziel der studentischen Opposition ist zunächst die Verteidigung unmittelbarer Interessen. Diese können aber nur dann gesichert werden, wenn die innere Organisation der Hochschulen demokratisiert wird. Das Engagement richtet sich gegen autoritäre Strukturen. Vom Versagen der Hochschule schließt eine gesellschaftskritische Minderheit auf das Versagen des gesellschaftlichen Ganzen. Ihr Bemühen um eine Reform der Universität und politische Aktivität sind keine Gegensätze. Studium und Politik sind eins geworden. Die Opposition wird zu einer systemtranszendierenden: sie richtet sich gegen die totalitär-faschistischen Regimes, gegen Notstandsgesetze, gegen den Krieg der USA in Vietnam. Schließlich konkretisiert sie ihre Forderungen in gesellschaftlichen Alternativkonzepten: in Berlin wurde eine „Kritische Universität“ gegründet. Deren erklärte Ziele sind:

  1. Permanente Hochschulkritik und praktische Studienreform;
  2. Verbreiterung und Intensivierung politischer Praxis mit Hilfe wissenschaftlicher Analyse und Kritik;
  3. Vorbereitung der Studenten auf die Praxis der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in ihren künftigen Berufen und Unterstützung der kritischen Intelligenz in diesen Berufsbereichen.

Wie immer dieses Experiment auch ausgehen mag — es geht hier weder um eine Art akademischer Wohlstandskriminalität, noch um einen der üblichen Generationskonflikte, sondern um die Bewältigung objektiver Probleme der Gesellschaft.

5.

Österreich steht freilich noch am Beginn solcher Entwicklungen. Ökonomische Rückstände, ein ungemein zäher ideologischer Überbau sind dafür verantwortlich; Indiz für diesen „cultural lag“ ist die Unfähigkeit der Universitäten zur Selbstreform, um auch nur den technologischen Anforderungen höherentwickelter industrieller Gesellschaften zu genügen. (Nichterfüllung des geschätzten gesellschaftlichen Bildungsbedarfes, OECD-Bericht.) Im „Allgemeinen Hochschulstudiengesetz“ sind die Weichen bereits gestellt. In diesem Gesetz drücken sich bildungsökonomische Zwangslage und gesellschaftspolitische Gefahrenlage des Establishments gleichermaßen aus: verkürzte und fachlich verengte Berufsausbildung für die Masse der akademischen Absolventen (Diplomstudium), zusätzliches wissenschaftliches Studium für eine engere technokratische und bürokratische Elite (Doktorat).

Noch fehlt es den österreichischen Studenten an politisch artikuliertem Bewußtsein. Dennoch sind die oben gezeigten Tendenzen auch hierzulande wirksam. Auch in Österreich ergibt sich die Notwendigkeit zu kritischer Opposition. Ausgangspunkt wäre dabei der Zwang der Universitäten zur Reform, da sie ihre selbstverständlichsten Funktionen, die Erarbeitung verwertbarer Forschungsergebnisse und die Ausbildung wissenschaftlich qualifizierter Fachleute, nicht erfüllen können. Die Fähigkeit zur Selbstreform ist aber offenbar nicht gegeben, deshalb müßten sich die Studenten zum Träger jener systemimmanenten Bestrebungen machen. Eine Anpassung veralteter Bildungseinrichtungen an die rasch gesteigerten Bedürfnisse einer auf einer anderen Qualifikationsstruktur beruhenden Wirtschaft geht jedenfalls auch in Österreich auf Kosten der Studenten vor sich.

6.

Studentenparlamente repräsentieren innerhalb der ständisch-hierarchischen Universitätsstrukturen eine andere Sphäre des Willensbildungsprozesses. In ihrer sozialen Funktion stehen sie als Interessenvertretungen den akademischen Behörden gegenüber. Im besten Falle haben sie die Stellung einer einflußlosen, von der akademischen Obrigkeit lizenzierten und institutionalisierten Opposition. Ihre Existenz erbringt den Scheinbeweis des genossenschaftlichen Charakters einer durchgehend autoritären Universitätsverfassung. Die Studentenvertretungen wirken stabilisierend für das System, indem sie sekundäre Aufgaben übernehmen. Dies entspricht der Praxis der Österreichischen Hochschülerschaft.

Hinzu kommt, daß selbst die der ÖH als Körperschaft öffentlichen Rechtes gegebenen Möglichkeiten von der bisherigen Wahlblockmajorität nie genützt wurden.

7.

Der Terminus „Mitbestimmung“ kann, auf Verdacht etwa angeschlossener Ideologien von „Mitverantwortung“ oder „akademischer Gemeinschaft“ hin, nicht akzeptiert werden. Die autonome Studentenvertretung soll als funktionierender Bestandteil der „Universitas Magistrorum et Scholarium“ auf dem ihr zukommenden Platz integriert werden. Diese „Universitas“ ist aber kein demokratisch-intendiertes Modell studentischer Mitbestimmung, sondern Ideologie, die ein bestehendes System von Herrschaft und Verwaltung legitimieren soll. Nicht der in der industriellen Gesellschaft hinreichend strapazierte Gedanke der Partnerschaft steht hier Pate, sondern patriarchalische Bevormundung, die sich am Meister-Lehrlings-Verhältnis vorindustrieller Werkstätten orientiert.

8.

Von den prinzipiellen Erwägungen abgesehen steht diese Struktur dem Bestreben entgegen, die Einheit von Forschung und Lehre als produktives Prinzip zu verwirklichen. Moderne Wissenschaft erfordert die Teilnahme aller Hochschulangehörigen am Gesamtprozeß der Wissenschaft. Zu diesem gehört aber unbedingt die Planung der Organisation von Forschung und Lehre. Angestrebt muß daher eine Universität werden, in der alle Personengruppen gemäß ihrer Funktion in den Gremien der Selbstverwaltung mitwirken, in der somit ein optimal sachgerechter, kooperativer, demokratischer Entscheidungsprozeß institutionalisiert wird.

Authentische studentische Mitbestimmung setzt eine neue, demokratische Hochschulverfassung voraus. Sie zielt auf die Aufhebung aller sachfremden Privilegien und Abhängigkeitsverhältnisse. Vorlage könnte der Entwurf zum Berliner Hochschulgesetz des Senators für Wissenschaft und Kunst (Juni 1967) sein. Angestrebt werden: Demokratisierung der Institute (die Rechte der Ordinarien sollen zum Teil Gremien übertragen werden, die sich aus Professoren, gewählten Vertretern der Assistenten und der Studenten zusammensetzen); Institutsvollversammlungen und Wahl von Institutsvertretern; Bildung von gleichberechtigten kooperierenden Teilverbänden der Interessengruppen: Dozenten, Assistenten, Studenten. Selbstverwaltung auf verschiedenen Ebenen: Institute, Fakultäten, Hochschulen, Bundesebene.

Die Vertreter der Studenten sollen im übrigen in allen Angelegenheiten des akademischen Lebens gleichberechtigte Verantwortung tragen: bei der Wahl des Rektors nach dem Berliner Entwurf sind neben den Ordinarien jeweils 18 Vertreter der Assistenten sowie der Studenten delegiert (ein für Österreich völlig utopischer Vorschlag); ebenso bei den Entscheidungen des akademischen Senats (dieses Gremium tagt in Österreich nichtöffentlich, seine Beratungen sind geheim); bei der Erstellung des Budgets; bei Berufungsverhandlungen; bei der Erarbeitung von Lehrplänen.

Die Forderungen der Studenten nach Demokratisierung sind keineswegs nur äußerlich und politisch gemeint: der oppositionellen „antiautoritären“ Elite einer gesprächslos gewordenen Universität sind fertige Forschungsergebnisse und Meinungen suspekt geworden. Für sie bedeutet die Freiheit von Forschung und Lehre das Recht, Vorlesungen, Seminare, Prüfungen kritisch zu rezensieren und diese Kritiken zu veröffentlichen. Sie zielen auf eine „demokratische“ Beteiligung an den offenen Erkenntnisprozesen des Wissenschafters und akademischen Lehrers selbst.

9.

In einer Situation, in der die Möglichkeiten der ÖH ungenützt bleiben, sich unter den Studenten noch keine aktionsfähige politische Opposition zur Verteidigung ihrer Interessen gebildet hat, geht es weniger um Mitbestimmung als um Selbstbestimmung der Studenten, Emanzipation von der ihnen zugewiesenen Rolle: vollverantwortliche erwachsene akademische „Bürger“ in ihren Pflichten, unmündige Plebejer in ihren Rechten zu sein. Emanzipation auch vom geltenden Bewußtsein der ihnen als Interessenvertretung zugewiesenen „Standesvertreter“ der ÖH.

Eine autonome gesellschaftspolitische Vertretung studentischer Interessen hätte sich innerhalb der oligarchischen Hochschulstruktur gegen diese zu organisieren, jedoch im Bewußtsein einer ihrer Intention nach demokratischen Gesellschaft. Diese kann nicht vor den Toren der Universität haltmachen. Außerdem hat die Universität eine kritische Verpflichtung gegenüber der Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Demokratie, eine Gesellschaft mündiger Menschen zu verwirklichen, und der gesellschaftlichen Wirklichkeit autoritärer Arbeitsverhältnisse und sachfremder Herrschaftsstrukturen. Dies würde eine neue Qualität studentischer Politik bedeuten. Zunächst aber die Befreiung von den etablierten Praktiken der Studentenparlamente. Mehr noch: die Freiheit von Politik würde die Voraussetzung ihrer Verwirklichung sein.

Literatur

  • H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967.
  • Nitsch/Gerhardt/Offe/Preuß, Hochschule in der Demokratie, Neuwied 1965.
  • Asta FU-Berlin, Kritische Universität, Berlin Juli 1967.
  • F. W. Marquardt, Rede über ca. 2000 protestierende Studenten an deren Mitbürger in Berlin, Frankfurter Hefte 22/7.

[1Vgl. die OECD-Studie „Science, Economic Growth and Government Policy“, Paris 1963.

[2Lipset, Kaplan, Pinner.

[3Vgl. die Umfrage des Instituts für Demoskopie, Allensbach 1967.

[4Arnold Künzli, anschließend an diesen Aufsatz.

[5Mervyn Jones, anschließend an diesen Aufsatz.

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