FORVM, No. 219
März
1972

Provinzsoziologie

An der philosophischen Fakultät der Wiener Universität sollte 1970 ein Lehrstuhl für Soziologie besetzt werden, ebenso wie an der juridischen ein dritter; die beiden bestehenden sind durch Prof. Rosenmayr und Prof. Reichhardt okkupiert, beide Anhänger einer empirischen Soziologie, der kritische Gesellschaftstheorien völlig fremd sind. Die Studenten forderten im Mai 1970 die Besetzung der vakanten Lehrstühle durch der kritischen Gesellschaftstheorie verpflichtete Soziologen, um das Empirikermonopol in Wien zu brechen. Im Laufe der Burufungskampagne, die völlig intransparent verlief, kristallisierten sich folgende Vorschläge heraus: die Studenten nominierten Holzer (München), Lepenies (Freie Universität Westberlin), Schmidt (Frankfurt/Main) und Sigrist (damals Freiburg i.B.); die Professoren nominierten im Alleingang 1. Bodzenta, Rassem, 2. Luckmann, 3. Schoeck. Die Professoren wollten durch die Berufung von Bodzenta an die philosophische und Sack (Köln) an die juridische Fakultät endgültig das Monopol der empirischen Soziologie an der Wiener Universität installieren.

Die Studentenversammlung (SVV) forderte nachdem eine Verständigung mit den Professoren nicht möglich war laut: Beschluß vom 26.11.1970 das Wissenschaftsministerium auf, die Berufungsverhandlungen mit Bodzenta und Sack nicht aufzunehmen bzw. abzubrechen und verlangten von der juridischen Fakultät, die vier studentischen Kandidaten zu Gastvorträgen nach Wien einzuladen. Vom 15.—18.12.1970 fanden diese Gastvorträge statt, das versprochene Geld des Wissenschaftsministeriums dafür blieb jedoch aus.

Am 12. Dezember 1970 appellierten die Studenten an die demokratische Einsicht der professoralen Kandidaten, indem sie diese aufforderten, einem etwaigen Ruf vorläufig nicht zu folgen. Dozent Sack stellte daraufhin fest, daß er „gegen den Willen der Studenten nicht nach Wien kommen wolle“ (er ist inzwischen Professor in Regensburg). Prof. Bodzenta fand es nicht für notwendig, der Studentenversammlung bzw. ihren Vertretern auch nur zu antworten.

Am 30. Jänner 1971 versuchten die Basisgruppen Soziologie ihre Forderungen nach Transparenz und studentischer Mitbestimmung beim Berufungsverfahren in einem Speak-in in die Fakultätssitzung der Philosophischen Fakultät zu Gehör zu bringen. Die Professoren entzogen sich den Argumenten dadurch, daß sie die Studenten durch Polizeigewalt zur „Räson“ bringen ließen.

Am 3. Februar 1971 sprachen Vertreter der Studenten bei Frau Wissenschaftsminister Firnberg vor, die inzwischen ihre Meinung bezüglich des Empiriker-Monopols geändert hatte und behauptete, das Ministerium könne eine Berufungsliste des Professorenkollegiums weder ablehnen noch umreihen. Die Berufung von Prof. Bodzenta war damit unumstößlich.

Die Studenten konzentrierten sich daher in der Folge auf die Besetzung des 3. Soziologielehrstuhles an der juridischen Fakultät und beschlossen in einer SVV am 6. Mai 1971 folgende Liste: 1. Wolf Lepenies (Westberlin), 2. Alfred Schmidt (Frankfurt/Main), 3. Christian Sigrist (Münster). Ein von den Studenten vorgeschlagenes Blockseminar mit Lepenies und Schmidt wurde von den Professoren abgelehnt. Hingegen beschlossen sie selbst im Juni 1971 einen Vierervorschlag, der den Studenten bis heute noch nicht offiziell mitgeteilt wurde. Durch einen Ordinarius konnten sie jedoch die Namen in Erfahrung bringen: H. Albert (Haupt der neopositivistischen Schule in der BRD), der Systemtheoretiker Rappaport (TH Aachen), sowie die beiden „kleinkarierten Empiriker“ (so die Institutsvertreter bei einer Pressekonferenz) Helle und Reimann. Im Sommersemester 1972 wird sich wahrscheinlich entscheiden, ob sich an der juridischen Fakultät der „Fall Bodzenta“ wiederholen wird.

Der „Provinzempiriker“ (so die Institutsvertretung Romanistik in ihrer Solidaritätserklärung mit den Soziologiestudenten) Bodzenta, der bei der Neugründung der Linzer Hochschule 1966 durch die hinter ihm stehende katholische Pressure-group (er ist u.a. Vorsitzender des Beirats des Katholischen Bildungswerks in Oberösterreich) eine Lehrkanzel erhielt, konnte schon dort weder fachlich noch methodisch entsprechen. In Wien wurde seine völlige Ignoranz soziologischer Theorien und Unfähigkeit, seinen Lehrstoff zu vermitteln, unübersehbar. In fast jeder Vorlesung kommt es zu spontanen Eklats (Go-outs aus seinen Vorlesungen usw.), von einer Zusammenarbeit mit der Institutsvertretung kann keine Rede sein. Anstelle von Diskussionen setzt Bodzenta, laut einem studentischen Flugblatt, Erpressungen, indem er die Institutsvertreter daran erinnert, „daß sie doch bei ihm dissertieren wollten.“ Im Jänner 1972 führte er seine „Kommunikation“ mit den Studentenvertretern sogar über den Rechtsanwalt, da er die Studenten der „Ehrenbeleidigung“ zieh.

Die Vorfälle an der philosophischen Fakultät, die wahrscheinlich bald ihre Wiederholung an der juridischen finden werden, zeigen die Unmöglichkeit einer auch nur liberalen Wissenschaftspolitik in Österreich ohne grundsätzliche Umgestaltung der Universitätsstruktur. Eingesessene und fachlich meist nicht zuständige Professoren (so stimmen z.B. Altphilologen usw. bei der Besetzung eines Soziologielehrstuhles mit) und Pressure-groups, die zwar meist öffentlich nicht in Erscheinung treten, aber hinter den Kulissen Einfluß nehmen, bestimmen über die inhaltliche Ausrichtung des Studiums. Auf diese Weise wird universitäre Lehre und Forschung von systemstabilisierenden Ideologien monopolisiert (in Verbindung mit deren Hintermännern in Wirtschaft, Parteien und Kirche), was dann als „Freiheit der Wissenschaften“ ausgegeben und der Öffentlichkeit „wertfrei“ verkauft wird. Die österreichische Situation hat dabei noch nicht einmal die liberalen Veränderungen der Universität, wie sie z.B. in der BRD in den letzten Jahren weitgehend durchgeführt wurden, zur Kenntnis genommen.

Wenn heute die Wiener Soziologiestudenten Aktionen durchführen, so können diese noch gar nicht als unmittelbare Ansätze sozialistischer Politik im Hochschulbetrieb verstanden werden, sondern nur als Liberalisierung, die zu einem von der bestehenden Universität als Verschleierung der Realität behaupteten „Wissenschaftspluralismus“ führen sollen. An einer österreichischen Universität sieht jedoch selbst das schon revolutionär aus.

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