Wurzelwerk, Wurzelwerk 14
September
1982
Stadtgestaltung:

„Progressiver Konservativismus“

Während jährlich Hunderttausende in die alten Städte wie Bamberg, Rothenburg oder Salzburg pilgern, um in den schmalen Gassen mit Ihren Erkern, Höfen und Brunnen noch den Zauber echter Urbanität zu erleben, klotzt das offizielle Bauen ein „Märkisches Viertel“ und eine „Großfeldsiedlung“ nach der anderen auf die grüne Wiese der Stadterweiterungsgeblete — als wüßte man nicht von Sozialneurosen der grünen Witwen, nichts von der steigenden Kriminalität, nichts von den vernichtenden Urteilen der Psychologen und Sozialhelfer. Dabei ist diese offene Silobebauung nicht einmal flächensparender als ein Stadtviertel dreistöckiger Hofhäuser.

Stadtökologie als Beschäftigungspolitik

Eine verlogene Propaganda in Österreich und Deutschland verkündet unverfroren, die Arbeitslosigkeit sei eine Folge der Energieverknappung und werde noch schlimmer werden, weil böse Umweltschützer gegen Kernkraftwerke demonstrieren.

Kein einziger der 17 Millionen Arbeitslosen der OECD ist wegen Energiemangels arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit ist eine Folge der Überproduktion, weiters internationaler Marktsättigungen — etwa auf dem Grundstoffsektor — und schließlich eine Folge des Hinausrationalisierens von Arbeitskräften unter dem Druck des internationalen Wettbewerbes. Daher benötigen wir neue Strategien zur Arbeitsplatzsicherung, indem man etwa beschäftigungsintensive, aber ressourcenschonende Aktivitäten öffentlich fördert. Hier sind Altstadtsanierung, „Stadtreparatur“ und Denkmalpflege u.a.m. beste Möglichkeiten, um öffentliche Förderungsmilliarden für die Bauwirtschaft von umweltzerstörenden Projekten auf umweltschonende Qualitätsverbesserungen umzulegen.

Für die ökonomische Praxis muß die Konsequenz heißen: Stadterneuerung von innen her anstelle grünraumzerstörender Fertigteilkasernen und Profitquader an der Peripherie. Hände weg von Großprojekten, an denen wir uns nur verbluten.

Trotz des katastrophalen Zusammenwirkens zwischen dem industrialisierten Fertigteilbauen hochmechanisierter Riesenunternehmen und einer Planermentalität, die mit traditionsfeindlichen Thesen jene gerasterte Brutalität auch ästhetisch zu rechtfertigen suchte, indem sie Glas-Aluminium-Betonmonster mit dem Dogma in Altstadtensembles knallte: „Gute Architektur paßt überall hin“ — trotz alldem diesen Typus von Bauwirtschaft weiter zu fördem (weil Großunternehmen mehr politischen Einfluß haben als die kleinen), das wäre auch beschäftigungspolitisch dumm: denn diese hochmechanisierte Bauweise ist weniger Arbeitsplatzsicherung als vielmehr Maschinenamortisation (ähnlich dem heutigen Straßenbau). Diese Großstrukturen verlangen ständig mit Aufträgen für riesige Bauvolumina gefüttert zu werden — mit einer kleinen Baulücke vermögen sie nichts anzufangen — ihr unerschwinglicher Maschinenpark wurde zum Mittel der Ausschließung gegenüber finanzschwachen Kleinunternehmen.

Altstadtsanierung (und traditionelle Gestaltung aufgreifende, schöpferisch weiterentwickelte Neubautätigkeit) benötigt kaum technische Energie und wenig Rohstoffe, braucht hochqualifizierte Handwerker und Bauleute, die dafür neu geschult werden müssen (— wie etwa durch Kurse in Krems als „Arche Noah für das Handwerk“), gibt vielen kleinen Baumeistern wieder eine Chance, schafft menschlich befriedigende Tätigkeiten, macht Stadtviertel wieder lebenswert und attraktiv, erhält kulturelle Werte und ist viel weniger von Nachfragesättigungen bedroht.

Beschäftigungspolitik ohne Marktsättigung

Dieser wirtschaftlichen Aktivität droht keine Sättigung, denn hat man eine Stadt wie Salzburg oder Krems von vorne bis hinten durchrenoviert, kann man wieder von vorne anfangen: ständiger Einsatz von Arbeit zur Erhaltung hochgeordneter kultivierter Strukturen (beinahe ein „biologisches Prinzip“, da es bei der Erhaltung von Organismen längst in analoger Weise verwirklicht ist).

Als man in West-Europa den Wert des alten Stadtensembles wiederentdeckte und große Mittel für die Altstadtpflege mobilisierte, fehlte es an den nötigen Könnern im Handwerk — sie waren aufgerieben worden durch einige Jahrzehnte hektischen Fertigteilbooms, neuer Sachlichkeit und Industriewachstums.

Für die Altstadtrevitalisierung München zur Zeit der Einrichtung der ersten Fußgängerzone im Zuge der Olympiavorbereitungen mußte man geschulte Handwerksmeister und Fachkräfte aus Polen, DDR und CSSR importieren, weil man das eigene Gewerbe dieser Art zu lange ausgehungert hatte.

In der Musterstadt des österreichischen Denkmalschutzes, Krems, befindet sich derzeit ein vielseitiges Kurswesen im Aufbau, welches Handwerker aus ganz Österreich für die anspruchsvollen Aufgaben der Altbausanierung und Kulturpflege ausbilden soll — eine „Arche Noah für das Handwerk“.

Können wir uns das überhaupt leisten?

Wer glaubt, daß sich unsere moderne Gesellschaft handwerkliche Qualität nicht mehr leisten könne, sei daran erinnert: Die Nachfrage nach bestimmten Gütern und Leistungen ist wandelbar und Ausdruck herrschender Wertempfindungen. Galt Denkmalpflege und Altstadtsanierung gerade zur Zeit des Wirtschaftswunders als unerschwinglich, ist sie heute florierender Zweig des Baugewerbes.

Was sich unsere Gesellschaft hingegen wirklich nicht mehr leisten dürfte — sich aber infolge überholter Wertvorstellungen noch immer leistet — ist der hypertrophierende Stadt- und Landzerstörer Straßenbau — eine ausschließliche Frage staatlicher Förderungsmilliarden und nicht echter Nachfrage im Marktgeschehen.

Abgesehen von der Bauwirtschaft hat gerade das Gewerbe in vielen Branchen echten Bedarf an Arbeitskräften. Die Schaffung eines gewerblichen Arbeitsplatzes erfordert im allgemeinen weniger Kapital und viel weniger Energie als der durchschnittliche industrielle Arbeitsplatz (so hatte 1977 das österreichische Gewerbe mehr Beschäftigte als die Industrie, aber nur ein Viertel ihres Stromverbrauches).

„Auf die Verzweiflung am großtechnisch Machbaren folgt die Hinwendung zum organisch Gewachsenen.“

Traditionen nutzen ist nicht Historismus

Einige hervorragende Architektenpersönlichkeiten haben durch ihre Werke am Anfang unseres Jahrhunderts den Beweis geliefert, daß die „technomorphe Neue Sachlichkeit“ eines Mies, Gropius oder Corbusier ja keineswegs der einzig mögliche Ausweg aus dem Gipsplunder des Historismus gewesen ist. Parallel nämlich zu diesen Techno-Extremisten entwickelte sich damals eine humane Wohnbauarchitektur, für deren Vertreter die zeitlos gültigen Formen, wie Erker (das „steingewordene Neugierverhalten“), liebevoll gestaltete Höfe, Plätze und Brunnen, Architekturelemente wie Seil und Mansardendach, Torbogen und Säule nicht verboten waren, sondern Mittel, urbane Ensembles anheimelnd und abwechslungsreich zu machen. Sinnentleerte Formitate wurden hingegen vermieden, dem Handwerklichen große Bedeutung eingeräumt.

Die Welt der Kinder in der Stadt — ein Indikator für soziale Politik

Die Menschlichkeit einer Stadtpolitik erkennt man daran, wie sie mit den Schwachen verfährt, mit den Randgruppen unserer „Benzingesellschaft“, mit den Alten und mit den Kindern. Die Kinder der „Motornomaden“: wie Astronauten festgeschnallt am Rücksitz der Autos ihrer ruhelosen EItern, hilflose Opfer rhythmischer „Völkerwanderungen aus Blech“ (in Österreich nennt man sie „Benzinhunnen“). Die empfindlichen Kleinen bekommen hier Kohlenmonoxydstöße und Bleiwerte in das Wageninnere, die zu den höchsten gehören, die im Verkehrsgeschehen überhaupt gemessen werden, weil die Feiertagsspitzen oft höher als der Werktagsstau sind. Das Kind hat gar nichts von dieser hektischen Zwangsmobilität. Es ist nur außerordentlich gehemmt, beengt. Das Kind braucht keine großen Landschaften und Ferienziele, es braucht die „G’stetten“.

Kinder brauchen „halbwilde Zustände“

In einer Stadt, in der kein Platz mehr ist für Bäume, ist auch kein Platz mehr für die Kinder.

Das ästhetische Gefühl und die Phantasie eines Menschen werden nachhaltig von den Formerfahrungen seiner frühen Kindheit geprägt. Grünanlagen sind die ersten Erlebnisräume des Kindes, sie sind Biotope für Blumen, Schmetterlinge, Käfer, Schnecken, Frösche, Eidechsen und Vögel.

Man beobachte Kinder, man verfolge sie mit dem Teleobjektiv. Man könnte hier wesentliche Aussagen machen über das, was unsere wertvollsten Geschöpfe, in denen alle unsere Hoffnungen liegen, wirklich brauchen — einen Auwaldtümpel, eine Schlammlache, Formbares, Veränderbares, Lebendiges. Man weiß, wie sich solche G’stetten zum Erlebnisraum, zum artenreichen, stimulierenden Abenteuerspielplatz entwickeln, wo innerhalb von zwei Jahren eine reiche Ruderalflora wuchert, wo Kinder vom Marienkäfer bis zum Tagpfauenauge, vom Ailanthusspinner bis zum Laufkäfer alles finden. Kinder erleben Umwelt im Nahbereich, wie ein Naturfotograf mit der Makrolinse. Sie sind explorativ, sie wollen auch verändern, graben.

Moderne Großstädte sind kinderfeindlich

Der junge Mensch ist noch arm an höherer geistiger Leistungsfähigkeit — er ist weitgehend ein triebbestimmtes Spielwesen. Er braucht deshalb seinesgleichen — nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsch, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen ... Er überlebt es — doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr lernt, zum Beispiel ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative.

(A. Mitscherlich)

Robinson und Abenteuerspielplätze versuchen nun fast zu spät, Fehlern der vergangenen Jahrzehnte entgegenzuwirken. Besser und billiger wäre es, gewachsene Strukturen zu erhalten.

Schaffung und Revitalisierung von Feuchtbiotopen!

Man hat seit Jahrzehnten Feuchtbiotope aus unserem Gesichtskreis verbannt: begradigt, verrohrt, zugeschüttet, planiert. Dafür taucht dann in Spielwarengeschäften eine zunehmende Zahl trauriger Ersatzobjekte — Plastikfrösche, Kautschuksalamander — auf. Der Frosch im Teich läßt keine Kasse klingeln. Der Kauf von Blechattrappen hebt das Bruttonationalprodukt. Sind diese kleinen Lebensräume — Gartenteiche, Tümpel, Naturgärten — auch oft nur Ersatznatur, so geben sie dem weltoffenen Neugierwesen Mensch doch vielfältige Stimulation und Experimentiermöglichkeiten. Sie vermögen zur Entwicklung von Naturliebe und Natursehnsucht beizutragen. Kinder zwischen monotonen Betonfassaden großzuziehen und ihnen dann noch ihre Spielwelt zu verbetonieren und sich mit kinderpsychologischen Stahlrohrgestellen auf Plastikrasen ein Alibi verschaffen zu wollen, bedeutet eine erschütternde Wohlstandsverarmung, eine Fehlprägung heranwachsender Kinder mit gefährlichen seelischen Langzeitfolgen. In manchen Gegenden der großen Städte — auch Wiens — gibt es die Schmetterlinge fast nur mehr auf den schönfärbenden Plakaten der Informationszentren der Gemeinde — „Freizeitstadt Wien“. Es ist falsch, zu glauben, daß Kinder diese Versteinerung und Verarmung nicht empfänden! Immer mehr denkende Beobachter — Planer, Soziologen, Biologen und Pädagogen — kommen zu der Auffassung, daß die Notwendigkeit zur Einrichtung eigener Kinderspielplätze eigentlich schon Symptom für die Unwirtlichkeit unserer Städte sei.

Die Welt der Kinder sollte nicht getrennt von der Welt der Erwachsenen sein. Nicht wohlstandsverwahrloste Asphaltkümmerer im Spielplatz-Ghetto auf der einen und mißmutige „Wegwerfrentner“ im Pensionistensilo auf der anderen Seite (und wehe, die beiden Gruppen stoßen aufeinander sie konnten ja nie Verständnis füreinander lernen) — sondern ein gesunder Lebensraum für alle — so gestaltet, daß Kinder und Alte darin wieder Platz, Bewegungsmöglichkeit und Stimulation finden können. Beispiele: Dorfstraße, Bauernhof, Baustelle, naturnahe Parks.

Nur wo die Welt des Kindes und die der Erwachsenen einander durchdringen, können spielerisch die vielen kleinen Lebenserfahrungen gesammelt werden, die für die geistige Entwicklung des Kindes von größter Bedeutung sind. Man denke nur an das Bazarleben einer orientalischen Stadt ...

(gekürzt)

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