FORVM, No. 216/I/II
Dezember
1971

Profitmedizin

Am Beispiel der BRD

Im österreichischen Wahlkampf, Oktober 1971, gab es ungeheure Aufregung, als Vizekanzler, Sozialminister und ÖGB-Spitzenfunktionär Häuser von Verstaatlichung zu sprechen wagte, und dabei den Arzneimittelsektor erwähnte. Der Mann hat überwältigend recht, wie u. a. — auf die BRD bezogen — der nachfolgende Text beweist. Als Buch erscheint die Beweisführung Scholmers demnächst bei Luchterhand, Neuwied/Rhein.

I. Beispiel: Medikamente

In der Bundesrepublik Deutschland wird auf die Preisbildung beim Hersteller und Großhändler kein staatlicher Einfluß genommen. Die Arzneimittelhersteller und Großhändler. können die Preise ihrer Arzneispezialitäten nach den wettbewerbsrechtlichen Grundsätzen unserer Marktwirtschaft selbst festsetzen ...

„Gesundheitsbericht“ der Bundesregierung, Februar 1971.

Etwa 70 v.H. des gesamten Arzneimittelumsatzes wird im Rahmen des Sachleistungssystems der Sozialversicherung mit deren Trägern verrechnet. Diese haben zur Zeit als Nachfrager und Kostenträger auf die Preisgestaltung nur einen begrenzten Einfluß; sie wirken lediglich bei der Festsetzung der Zuschläge und der Arzneimittelpreise der Apotheken nach der Deutschen Arzneitaxe mit. Ihre Marktposition ist daher gegenwärtig zu schwach, um ein hinreichendes Gegengewicht gegenüber den Arzneimittelherstellern zu bilden, deren Preisgestaltung sich auf das Arzneimittelpreisniveau entscheidend auswirkt („Gesundheitsbericht“).

Im Rahmen dieser freien Marktwirtschaft, die den Sozialversicherten also nach offiziellem Eingeständnis den Einfluß auf die Preisgestaltung der Medikamente verwehrt, stiegen die Ausgaben der GKV-Kassen für Arzneimittel laut „Sozialbericht 1970“ im Jahre 1964 um 12,4%, 1965 um 15,7%, 1966um 19,7%‚ 1967 um 12,5% und 1968 um 17%. Für 1969 bis 1973 rechnet der „Sozialbericht 1970“ mit jährlichen Wachstumsraten für die Arzneimittelausgaben um 14%. Insgesamt steigen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel im Zeitraum von 1963 bis 1973 von 1,8 Milliarden DM bis auf rund 7,3 Mrd. DM.

Für 1975 werden Ausgaben der GKV-Kassen für Arzneimittel in Höhe von 8,426 Mrd. DM (25,2% der Sachleistungen) errechnet.

Andere Zahlen nannte Dr.-Ing. Hans Harms, Präsident des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie, Anfang April 1971 auf der gesundheitspolitischen Konferenz der SPD in Travemünde. Im Jahre 1969 hätten sich — so Harms — „die von den Sozialversicherungsträgern für Arzneimittel aus Apotheken aufgewendeten Kosten ... auf rund 16 Prozent der Gesamtaufwendungen“ belaufen. Trotz Einführung der Mehrwertsteuer im Jahre 1968 seien die Arzneimittelpreise nur um 1,9% erhöht worden. Durch die Senkung der Fabrikabgabepreise um durchschnittlich 5,5% habe die Industrie Verbraucher und Krankenkassen weitgehend entlastet.

Harms gab in Travemünde eine Selbstdarstellung der pharmazeutischen Industrie. Den Gesamtwert ihrer Produktion bezifferte er auf zuletzt 6,2 Mrd. DM jährlich, den Export auf 2,2 Mrd. DM. Die Zahl der in der pharmazeutischen Industrie beschäftigten Arbeiter und Angestellten gab Harms mit 85.000 an, die Zahl der Spezialitäten auf dem Arzneimittelmarkt mit 30.000. Für höhere Arzneimittelpreise machte er die Kostensteigerungen der industriellen Produktion und die erhöhten Rohstoffpreise verantwortlich, die er für 1970 auf insgesamt 10% bezifferte.

Harms behauptete, „daß keine staatliche Institution imstande ist, die pharmazeutische Industrie zu ersetzen, weil der staatlich betriebenen Forschung die nötige Erfahrung mangelt, sie nicht über das ‚Know how‘ für die Herstellung neuer Stoffe und die erforderlichen hochqualifizierten Fachleute verfügt“.

Zum Schluß seines Referats vor den sozialdemokratischen Delegierten zitierte Harms den Papst Paul VI., der ihm aus Anlaß einer Audienz die Unentbehrlichkeit der pharmazeutischen Industrie mit den Worten ausgedrückt habe: „Was sollten wir tun ohne sie!“

Kritischere Worte als Harms fand Prof. Jahn, Vizepräsident des Bundesgesundheitsamts, in einem Korreferat zum Thema „Die Verantwortung der Wirtschaft und des Staates für die Arzneimittel“. Zum Thema „Arzneimittelwerbung“ erklärte er vor der Travemünder Konferenz, der Aufwand für Werbung betrage in der pharmazeutischen Industrie mehr als das Doppelte des Aufwandes für Forschung. Werbung sei ein Kampf um Marktanteile; sie werde überwiegend aus Sozialversicherungsbeiträgen bezahlt. Dadurch, daß die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung die Preisgestaltung der Arzneimittel durch die pharmazeutische Industrie hinnähmen und nicht versuchten, regelnd in den Markt einzugreifen, werde die gegenwärtige Werbung überhaupt erst ermöglicht. Weder die Ärzte noch die Verbraucher seien imstande, das Angebot an Medikamenten vergleichend zu bewerten. Die Entscheidung der Ärzte (für dieses oder jenes Medikament) sei vorwiegend von der Industriewerbung abhängig. Die Preiswürdigkeit könne von den Ärzten nicht beurteilt werden. Ein solcher Markt müsse zu Preisabsprachen tendieren.

Prof. Jahn hält ein wissenschaftlich fundiertes Informationssystem für erforderlich, „aus dem die Ärzte nüchterne Informationen über Zusammensetzung, Wirkungen und Wirkungsweise, über Nebenwirkungen, über Anwendungsgebiete und Anwendungsweise jedes Arzneimittels“ erhalten. Damit würde ein Preisvergleich möglich sein. Freilich gäbe es gegen diesen Vorschlag zunächst viele Gegner. Ein großer Teil der medizinischen Fachzeitschriften lebe von der Werbung der pharmazeutischen Industrie. Allein beim Deutschen Ärzteblatt solle angeblich der Überschuß 12 Millionen DM jährlich übersteigen.

Staatliche Eingriffe möchte Prof. Jahn auf zwei wesentliche Punkte beschränken: „1. Die Sicherung der Beweismittel für ein korrektes, den wissenschaftlichen Erfordernissen genügendes Vorgehen der Hersteller in der Gewährleistung der Unbedenklichkeit, und 2. die Entlastung der Sozialversicherungsträger von Ausgaben für Arzneimittel, für die ein medizinisches Erfordernis im strengen Sinne nicht besteht.“ Alle anderen Probleme sollten nach Meinung Jahns nicht durch gesetzliche Regelungen, sie sollten „durch Beeinflussung der Beteiligten zu verantwortlichem Verhalten gelöst werden“.

Ob der Appell an den gesunden Menschenverstand, an Verantwortlichkeit und Vernunft ausreicht, die pharmazeutische Industrie zu einer rationalen und sozialen Verhaltensweise zu bewegen, erscheint zumindest zweifelhaft. Die Studie „Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland — Analyse und Vorschläge zur Reform —“ des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften, zu deren Autoren auch Prof. Jahn gehört, hält es für „erforderlich, daß der Staat regulierend eingreift“. Sie geht weit über die von Prof. Jahn auf der Travemünder Konferenz gemachten Vorschläge hinaus und fordert unter anderem „öffentliche Kontrolle der Preisbildung für Arzneimittel“. Sie erwägt ferner die „Förderung staatlicher und gemeinwirtschaftlich orientierter Unternehmen“ in der pharmazeutischen Industrie und erhofft sich davon „positive Steuerungseffekte“. Wörtlich heißt es: „Denkbar wären (öffentlich tagende) Kommissionen, vor denen Preiserhöhungen begründet werden müßten.“

Hier sei ergänzend der Vorschlag hinzugefügt, den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung einen Preisnachlaß für Medikamente von 25% zu gewähren. Dieses Verfahren, das allerdings die preispolitische Aktivität der GKV-Kassen voraussetzt, hat sich in Italien längst bewährt.

II. Die Lage der Sozialversicherten

Die Sozialversicherten haben keinen Einblick in die komplizierten Probleme des Gesundheits- und Sozialsystems, in das sie kraft des Gesetzes hineingestellt sind. Sie haben keinen Einfluß auf die Verwendung der finanziellen Mittel, die sich aus der Summe ihrer Beiträge zusammensetzen. Initiativen von unten, die auf eine Reform des Gesundheitswesens zielen, werden in den etablierten Parteien aufgefangen und entschärft. Keine Partei hat bisher ein den Interessen der Sozialversicherten voll entsprechendes Gesundheitsprogramm entwickelt.

In der Bundesrepublik besteht für Sozialversicherte und Privatpatienten nach wie vor eine Zweiklassenmedizin in der ambulanten ärztlichen Behandlung, während in den Krankenhäusern der Abstand zwischen Kassenpatienten und Privatpatienten gegenwärtig abgebaut wird.

Den Sozialversicherten werden die allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen vorenthalten. Bei vielen Sozialversicherten erfolgt die erste gründliche Untersuchung im Sinn einer allgemeinen Vorsorgeuntersuchung erst bei der Invalidisierung.

Das Betriebsgesundheitswesen ist völlig unzureichend. Die unzulängliche medizinische Betreuung und die allgemeinen Arbeitsbedingungen der Sozialversicherten bewirken einen intensiven körperlichen und seelischen Verschleiß. Frühinvalidität und vorzeitiger Tod sind die unvermeidlichen Folgen.

Die Vereinbarungen vom 14. April 1953 mit der „Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern“ schlossen den Werksarzt von der vollen Behandlung der Patienten im Betrieb aus und beschränkten seine Tätigkeit auf die Beratung bzw. die „ärztliche Hilfe in dringenden Fällen“. Das Recht der Behandlung blieb den freipraktizierenden Kassenärzten vorbehalten. Hingegen sind die Betriebsärzte in der DDR zur vollen Behandlung ihrer Patienten berechtigt, die ihrerseits die freie Arztwahl haben.

Durch das Fehlen einer wirksamen Vorbeugung im Betrieb ist ferner in der BRD die Zahl der Unfälle sehr viel höher als sie zu sein brauchte und als sie sein dürfte. Auf diese Weise wird das gut funktionierende Behandlungssystem in seinem Gesamteffekt sozusagen aufgehoben.

In den von der Bundesregierung veröffentlichten „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1971“ findet sich eine vergleichende Untersuchung über die meldepflichtigen Arbeitsunfälle (ohne Wegeunfälle) in der Bundesrepublik und der DDR. Aus ihr ergibt: sich, daß im Jahre 1968 in der Bundesrepublik von 1000 Erwerbstätigen 88 einen Arbeitsunfall erlitten, während es in der DDR nur 41,2, also weniger als die Hälfte waren. Über die Gründe äußert sich der Bericht wie folgt:

Diese Differenz kann nicht allein mit erhebungsmethodischen Ursachen erklärt werden; denn auch die Relation von Unfallrenten je tausend Berufstätige in der DDR zu Renten an Kranke und Verletzte je tausend Erwerbstätige in der Bundesrepublik beträgt rund 1:1,7. Die niedrige Unfallquote in der DDR ist sicherlich zu einem großen Teil auf das offenbar besser funktionierende und intensiver kontrollierte Arbeitsschutzsystem zurückzuführen.

Für den Fall, daß es gelänge, die hiesige Unfallquote auf die DDR-Norm zu drücken, so ergibt sich, daß im Budget der Unfallversicherung von rund 4 Mrd. DM im Jahre 1968 mehr als 1,5 Mrd. DM eingespart werden könnten.

Es ist seit langem bekannt, daß die Bundesrepublik hinsichtlich der Betriebsunfälle mit an der Spitze der Industriestaaten steht.

Die Sozialversicherten sind einer doppelten Ausbeutung ausgesetzt: in ihrem Arbeitsleben und im Falle der Erkrankung. Bei Krankheit setzt die zweite Form der Ausbeutung ein: für die Krankenkassenbeiträge, die eine optimale ärztliche Behandlung ermöglichen würden, wird ihnen seitens der freipraktizierenden Ärzte eine zweitklassige ambulante Diagnostik und Therapie geboten. Die bestmögliche Organisation der ambulanten Behandlung in technisch gut ausgestatteten medizinischen Zentren wird den Sozialversicherten dank des Einflusses der Ärzteorganisationen vorenthalten.

Die gesetzliche Krankenversicherung stellt keine wirksame Interessenvertretung der Sozialversicherten dar. Die Entwicklung des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik beweist, daß die gesundheitspolitischen Initiativen der gesetzlichen Krankenversicherung und ihr politischer Einfluß weit hinter den Bedürfnissen der Sozialversicherten zurückbleiben. Wenn die gesetzliche Krankenversicherung dem Anspruch eines modernen Gesundheitswesens gerecht werden soll, muß die Selbstverwaltung der GKV zugunsten eines stärkeren Einflusses der Sozialversicherten neu geordnet werden. Die Sozialversicherten haben nur dann die Chance, eine Verbesserung des Gesundheitswesens für sich zu erreichen, wenn es ihnen gelingt, in den bestehenden Organisationen und Parteien, im Apparat der Krankenkassen, sowie in der Öffentlichkeit gesellschaftliche Initiativen für eine Gesundheitsreform zu mobilisieren.

III. Die Ärzte

Die Organisation des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik wird in erster Linie von den wirtschaftlichen Interessen der freipraktizierenden Ärzte bestimmt. Sie ist so strukturiert, daß sie den freipraktizierenden Ärzten ein Maximum an Gewinn garantiert.

Die freipraktizierenden Ärzte üben über ihre Berufsverbände einen beherrschenden Einfluß auf die Entwicklung des Gesundheitswesens aus. Sie haben diesen Einfluß benutzt und sie benutzen ihn noch, um gegen die Interessen der Sozialversicherten jede durchgreifende Reform des Gesundheitswesens zu verhindern.

Der gesundheitspolitische Anspruch des Sozialversicherten ist mit den wirtschaftlichen Interessen der freipraktizierenden Ärzte unvereinbar. Die ärztliche Leistung in Diagnostik und Therapie wird in der freien Praxis als Ware angeboten und „verkauft“. Die freipraktizierenden Ärzte sind daran interessiert, sie möglichst teuer zu verkaufen, die Sozialversicherten sind gezwungen, sie möglichst billig zu erwerben. Da die freipraktizierenden Ärzte in einer stärkeren gesellschaftlichen Position sind, konnten sie und können sie das Honorar (den Preis für ihre Ware) entscheidend beeinflussen.

Durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung wird die Medizin ständig leistungsfähiger, aber auch teurer. Wenn die Leistungen der modernen medizinischen Wissenschaft den Sozialversicherten zuteil werden sollen, können sie nicht auf der bisherigen von den freipraktizierenden Ärzten verteidigten Honorarbasis „verkauft“ werden. Sie sind dann für die Sozialversicherten zu teuer. Sie müssen in Zukunft zu einem Unkostensatz abgegeben werden, weil die Sozialversicherten die üblichen Honorarkosten für eine moderne medizinische Behandlung nicht aufbringen können.

Die freipraktizierenden Ärzte werden freiwillig keiner durchgreifenden Strukturreform des Gesundheitswesens. zustimmen, geschweige denn sie durchführen. Sie können nur durch einen starken gesellschaftlichen Druck dazu veranlaßt werden. In diesem Sinne ist die Gesundheitsreform in der Bundesrepublik Teil der sozialen Auseinandersetzung zwischen den Arbeitnehmern und der bürgerlichen Oberschicht. Dabei befinden sich die freipraktizierenden Ärzte in enger Interessengemeinschaft mit der pharmazeutischen Industrie und den Apothekern. Diese drei Gruppen gehören sowohl materiell als auch ideologisch zur Kerngruppe des Konservatismus in der Bundesrepublik. Sie haben bisher gegen die Sozialversicherten einen „Klassenkampf von oben“ geführt, und sie führen ihn noch.

Die Begriffe „freie Arztwahl“ und „freie ärztliche Berufsausübung“ sind ideologische Formeln, hinter denen sich handfeste wirtschaftliche Interessen von Milliardendimensionen verbergen. Wie jede zur Oberschicht gehörende Gruppe, so identifizieren auch die Organisationen der freipraktizierenden Ärzte ihre spezifischen Interessen mit denen der Allgemeinheit, in diesem Falle: mit denen der Patienten, besonders der sozialversicherten. In Wirklichkeit besteht ein antagonistischer Gegensatz zwischen Arzt und Patient. Er beruht darauf, daß die ärztliche Leistung (Diagnostik und Therapie) wie eine Ware verkauft wird, wenn auch — z.B. bei den sozialversicherten Patienten — in verdeckten Formen. Seit Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Ärzte ständig um Gebührenerhöhungen bemüht. Deren letzte von 14,5% verschafft den Vertragspartnern der gesetzlichen Krankenversicherung für das Jahr 1971 eine Mehreinnahme von rund 800 Millionen Mark. Indem die Bundesärztekammer sich gegen jeden Versuch einer Strukturreform des Gesundheitswesens zur Wehr setzt, verteidigt sie gleichzeitig die materiellen Interessen der freipraktizierenden Ärzte.

Da die Käufer der Ware Gesundheit als militante Interessengruppe nicht organisiert sind, sind sie nach den Spielregeln der bürgerlichen Demokratie nicht existent. Jede Gesundheitsreform hat daher nicht nur das geschärfte soziale Bewußtsein, sondern auch eine neue Organisationsform der Sozialversicherten zur Voraussetzung.

IV. Reformvorschläge

Da die kassenärztlichen Vereinigungen den an sie gerichteten Auftrag der Reichsversicherungsordnung nicht mehr erfüllen können, wird dieser gesetzlich aufgehoben. Die ärztliche Versorgung der Sozialversicherten wird sowohl den freipraktizierenden Ärzten als auch den Krankenanstalten und dem öffentlichen Gesundheitsdienst gleichberechtigt übertragen.

Alle Krankenanstalten erhalten das Recht, Polikliniken oder Ambulatorien zu unterhalten, in denen Sozialversicherte ohne ärztliche Überweisung behandelt werden.

An den Krankenanstalten sind diagnostisch-technische Zentren zu errichten, die für die stationäre Versorgung, für die ambulante Behandlung und die Vorsorgemedizin benutzt werden. Diese Zentren arbeiten zum Unkostensatz.

Das Einkommen der angestellten und beamteten Ärzte ist in einem längeren Zeitplan dem Einkommen der freipraktizierenden Ärzte dadurch anzugleichen, daß deren Honorare eingefroren werden, bis eine Einkommensparität erzielt ist.

Der werksärztliche Dienst ist gesetzlich zu regeln. Diese Neuordnung muß das Recht der vollen Behandlung der Patienten mit einschließen. Er hat allgemeine Vorsorgeuntersuchungen für die Erwerbstätigen durchzuführen. Der werksärztliche Dienst hat unabhängig vom Arbeitgeber zu sein.

Die Krankenhausreform hat folgende Einzelmaßnahmen mit einzuschließen: Abschaffung der Chefarzthierarchie; Einführung eines kollegialen Leistungssystems; die Ersetzung der Oberin durch ein Schwesternkollegium; die Schaffung eines Systems wechselnder Verantwortung für alle Vollschwestern; Abschaffung der Privatstationen und Eingliederung der Privatpatienten in allgemeine Stationen.

Eine radikale demokratische Krankenhausstruktur hat sich im gemeinnützigen Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke/Ruhr voll bewährt. Dort gibt es weder Chefarzt noch Oberin. Auch die ständige Stationsschwester wurde abgeschafft. Kein Arzt hat das Recht der Privatliquidation zu seinen persönlichen Gunsten. Zwar erhebt er von selbstzahlenden Patienten private Honorare, führt sie jedoch an den Krankenhausträger ab. Dafür werden die Ärzte besser bezahlt als die angestellten Ärzte anderer Krankenhäuser. Zur Zeit erhalten die Ärzte zwischen 3000 und 5000 DM monatlich. Nach den bisher gemachten Erfahrungen ist dieses Gehalt ausreichend, um die Ärzte auf die Dauer an das Krankenhaus zu binden. Sie sehen in ihrer Tätigkeit eine Lebensaufgabe und sind nicht versucht, aus wirtschaftlichen Gründen in die frei Praxis abzuwandern.

Die Krankenhausleitung besteht aus einem Team von 12 Personen, in dem alle Berufsgruppen vertreten sind, darunter die Ärzte mit 2 und die Schwestern mit 3 Vertretern.

Die etwa 60 Schwestern und Pfleger des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke unterstehen keiner Oberin oder Oberschwester. Jede Station wählt eine Schwester und deren Vertreterin in einen Schwesterninitiativkreis. Dieser übt die Funktion einer Oberin aus.. Die Verantwortung auf den Stationen wechselt unter den Schwestern in einem regelmäßigen Turnus.

Sogenannte „Komfortpatienten“ und „Normalpatienten“ haben die gleichen Rechte. Es bestehen jedoch geringe Unterschiede im Service. Alle Patienten können jederzeit Besucher empfangen. Es gibt keine Beschränkung der Besuchszeit auf einzelne Tage oder Stunden. So verteilt sich der Besucherstrom über den ganzen Tag; die einzelnen Besucher wirken nicht störend. Berufstätige können ihren Angehörigen auch am Abend einen Besuch abstatten. Mütter dürfen bei der Pflege ihrer Kinder helfen.

Im September 1971 veröffentlichte das gemeinnützige Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke seinen ersten Jahresbericht. Er hat — im Gegensatz zu den meisten Krankenhäusern in der Bundesrepublik — kein Defizit aufzuweisen. Durch den Verzicht der zehn Fachärzte auf Privathonorare zugunsten des Krankenhauses erhöhten sich dessen Einnahmen um 900.000 DM. Wären diese Honorare — wie sonst üblich — zu 70% bei den Ärzten verblieben, so hätte das Herdecker Krankenhaus im ersten Jahr einen Verlust von 600.000 DM auszugleichen.

Nimmt man die Herdecker Zahler — 900.000 DM Privathonorare an einem 200-Betten-Krankenhaus — als Norm und errechnet man danach die an den Akutkrankenhäusern der Bundesrepublik mit rund 450.000 Betten anfallenden Chefarzthonorare, so ergeben sich brutto rund 2 Mrd. DM. Diese Summe entspricht dem jährlichen Gesamtdefizit. aller westdeutschen Krankenhäuser.

Statt dessen hat die Bundesregierung den Entwurf eines Krankenhausfinanzierungsgesetzes vorgelegt, das die Sozialversicherten als Steuerzahler belastet. Durch Zuschüsse des Bundes, der Länder und Gemeinden sollen die Krankenhäuser jährlich rund 2 Mrd. DM erhalten. Wird die gegenwärtige gesetzliche Regelung (behördliche Drosselung der Pflegesätze) beibehalten, so gewinnen diese Zuschüsse den Charakter indirekter Subventionen an die Kassenärztlichen Vereinigungen sowie an die Apotheken und die pharmazeutische Industrie. Der Staat deckt ein Defizit, das nicht entstehen würde, wenn die Einnahmen der GKV-Kassen zweckdienlich verteilt würden.

Planmäßige Einführung allgemeiner Vorsorgeuntersuchungen für die gesamte Bevölkerung entsprechend den technischen und personellen Möglichkeiten: Aufbau von speziellen Diagnostikzentren nach dem technischen Modell der Wiesbadener Deutschen Klinik für Diagnostik, in denen allgemeine Vorsorgeuntersuchungen betrieben werden. Die allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen werden für Sozialversicherte von den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert und von den freipraktizierenden Ärzten, den Krankenanstalten, dem öffentlichen Gesundheitsdienst und den Diagnostikzentren in gleichberechtigter Weise durchgeführt.

Länder, Kreise, Städte und Gemeinden haben das Recht, öffentliche Polikliniken und Ambulatorien einzurichten, in denen Sozialversicherte direkt behandelt werden. Die Reichsversicherungsordnung und das Kassenarztrecht sind entsprechend zu ändern.

Die Röntgenreihenuntersuchungen sind auszubauen mit dem Ziel, daß die gesamte Bevölkerung über 15 Jahre jährlich einmal untersucht wird. Damit würden sowohl zahlreiche unbekannte Tuberkulosekranken als auch die zunehmenden Geschwulsterkrankungen der Lunge und Bronchien entdeckt.

Die uferlose Lawine der Medikamente in der Bundesrepublik ist auf die ausreichende Zahl von etwa 3000 Spezialitäten zu verringern. Neue Medikamente sind nur zuzulassen, wenn ein Bedarf nachzuweisen ist. Die wissenschaftliche Kontrolle der Medikamente unterliegt unabhängigen Instituten, die von der pharmazeutischen Industrie zu finanzieren sind.

Die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten das Recht, Medikamente aus den Apotheken mit einem Nachlaß von 25% zu beziehen. Die Aufteilung dieses Rabatts unter Apotheken, Großhandel und pharmazeutischer Industrie bleibt diesen überlassen.

Alle Geschwulstkrankheiten werden meldepflichtig. Für die Bundesrepublik ist ein zentrales Krebsregister zu begründen. In den Kreisen und Städten ist eine ausreichende Anzahlvon Geschwulstberatungsstellen einzurichten, soweit diese nicht schon bestehen. Für die Behandlung der Krebskranken sind mehr Spezialkliniken als bisher einzurichten.

Um dem Ansteigen von Geschlechtskrankheiten zu begegnen, ist die namentliche Meldung der Erkrankten an die Gesundheitsbehörden einzuführen. Ansteckende Geschlechtskranke sind zu hospitalisieren. Ohne diese beiden Maßnahmen können die Geschlechtskrankheiten nicht erfolgreich bekämpft werden.

Die Zahl der Medizinstudenten ist entsprechend dem Bedarf zu erhöhen. Ihre Ausbildung ist u.a. auf Arbeitsmedizin und elektronische Datenverarbeitung in der Medizin auszudehnen. Beide Disziplinen werden Prüfungsfach. Die Pflichtausbildung junger Ärzte kann zu einem angemessenen Teil im werksärztlichen Dienst abgeleistet werden. Unter den jungen Ärzten ist eine breite Werbekampagne für das Betriebsgesundheitswesen zu organisieren.

Die ärztlichen Maßnahmen gegen die hohe Säuglingssterblichkeit sind zu intensivieren und auf den wissenschaftlich höchsten Stand zu bringen.

Der Schwesternmangel in den Krankenanstalten ist wesentlich durch deren autoritäre Ordnung bestimmt. Deshalb werden zahlreiche junge Mädchen davon abgehalten, den Schwesternberuf zu ergreifen. Alle Einschränkungen der persönlichen Freiheit von Krankenschwestern außerhalb ihres Dienstes sind deshalb aufzuheben.

V. Vergleich BRD: DDR

Es spricht gegen die verantwortlichen Gesundheitspolitiker in beiden deutschen Staaten, daß sie bisher eine objektive vergleichende Untersuchung zwischen dem Gesundheitswesen der Bundesrepublik und dem der DDR nicht haben durchführen lassen. Eine solche Analyse würde für die Sozialversicherten fraglos von großem Nutzen sein. Sie würde ferner einige Legenden zerstören, in der Bundesrepublik z.B. jene planmäßig verbreitete Behauptung, das westdeutsche Gesundheitswesen halte jedem internationalen Vergleich stand.

Insgesamt lassen sich die Vor- und Nachteile der beiden Gesundheitssysteme wie folgt zusammenfassen:

  1. Die ambulante Behandlung der Patienten erfolgt in der DDR überwiegend in Polikliniken und Ambulatorien, die — durch ärztliches Teamworksystem und apparative Ausstattung — der ärztlichen Einzelpraxis in der Bundesrepublik fraglos überlegen sind.
  2. Die Bekämpfung verbreiteter Krankheiten (Tuberkulose, Krebs, Geschlechtskrankheiten usw.) ist wirkungsvoller organisiert als in der Bundesrepublik und hat bessere Resultate aufzuweisen.
  3. Im Gegensatz zur Bundesrepublik ist das Gesundheitswesen der DDR frei von Profit und Gewinninteressen. Gesundheitspolitische Entscheidungen können in der DDR deshalb nach sachlichen Gesichtspunkten getroffen werden.
  4. In beiden deutschen Staaten hat das Gesundheitswesen (besonders in den Krankenanstalten, in der DDR auch in den Polikliniken) eine hierarchische Struktur. Das reaktionäre Chefarztsystem ist in der DDR Teil eines autoritären gesellschaftlichen Gesamtsystems. Jede Demokratisierung des Gesundheitswesens würde sich in der DDR gleichzeitig gegen den bürokratischen Zentralismus des SED-Regimes richten. Frei und geheim zu wählende kollektive Leistungsgremien in Krankenhäusern stoßen nicht nur auf den Widerstand der westdeutschen Konservativen, sie würden in der DDR vom SED-Apparat mit Sicherheit verhindert werden.
  5. Die Abgrenzung der beiden Gesundheitssysteme voneinander verhindert einen wechselseitigen Erfahrungsaustausch und schadet der beiderseitigen Entwicklung. Alle Ärzte der DDR sollten das Recht erhalten, an den medizinischen Kongressen in der Bundesrepublik und in den anderen westlichen Staaten teilzunehmen. Die DDR-Regierung sollte ihnen Studienaufenthalte an den wissenschaftlichen Zentren der westlichen Welt ermöglichen.
  6. Die Entwicklung der präventiven Medizin stößt in beiden deutschen Staaten auf große Schwierigkeiten. In der Bundesrepublik stehen der Einführung allgemeiner Vorsorgeuntersuchungen mit Hilfe von Diagnostikzentren die wirtschaftlichen Interessen der freipraktizierenden Ärzte entgegen. In der DDR sind die Schwierigkeiten durch den Rückstand in der Computerindustrie und den allgemeinen Mangel an Investitionsmitteln bedingt. Eine innerdeutsche Kooperation mit Erfahrungsaustausch würde der Entwicklung der präventiven Medizin im geteilten Deutschland nützlich sein und den Interessen der Sozialversicherten hier und drüben entsprechen.
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