FORVM, No. 115/116
Juli
1963

Privatbrief über Stalinismus

Auf sieben Fragen des Herausgebers der italienischen Zweimonatsschrift „Nuovi Argomenti“, Alberto Carocci, betreffend Veränderungen der sowjetischen Szenerie seit dem XXII. Parteitag, antwortete Georg Lukács, neben Ernst Bloch letzter großer Überlebender aus der Hoch-Zeit des Kommunismus der Zwanzigerjahre, in Form eines langen Privatbriefes, dessen deutschen Originaltext wir hier, mit freundlicher Autorisation des Verfassers, erstmalig vorlegen.

Budapest, den 8.2.1962

Lieber Herr Carocci!

Die Probleme, die Sie in Ihren sieben Fragen aufwerfen, locken mich sehr zu einer eingehenden Beantwortung, ist doch in ihnen so gut wie alles zusammengedrängt, was viele von uns seit Jahren bewegt. Leider sind meine Umstände so beschaffen, daß ich diese Absicht sogleich fallen lassen muß. Da ich aber Ihnen gegenüber meine Anschauungen doch nicht völlig verschweigen will, begnüge ich mich mit einem bloßen Privatbrief, der selbstverständlich unter keinen Umständen den Anspruch erhebt, alle wesentlichen Fragen systematisch zu behandeln.

Ich fange mit dem Ausdruck „Personenkult“ an. Natürlich halte ich es für einen Unsinn, Gehalt und Problematik einer welthistorisch derart wichtigen Periode auf die individuelle Beschaffenheit eines Menschen zurückzuführen. Zwar lehrte man in meiner Studentenzeit auf den deutschen Universitäten: „Männer machen die Geschichte.“ Jedoch selbst mein damaliger Simmel-Max Weber’scher „Soziologismus“ reichte aus, um über solche pathetische Verkündigungen einfach zu lächeln. Wie erst nach einer jahrzehntelangen Erziehung durch den Marxismus?

Lauter kleine Stalins

Schon meine allererste, noch fast rein unmittelbare Reaktion auf den XX. Kongreß richtete sich über die Person hinaus auf die Organisation: auf den Apparat, der den „Personenkult“ produzierte und dann ihn als eine unablässige erweiterte Reproduktion fixierte. Ich stellte mir damals Stalin als die Spitze einer Pyramide vor, die, sich nach unten immer verbreiternd, aus lauter „kleinen Stalins“ bestand, welche von oben aus gesehen Objekte, nach unten gerichtet Hervorbringer und Garanten des „Personenkults“ sind. Ohne reibungsloses Funktionieren eines solchen Apparats wäre der „Personenkult“ ein subjektiver Wunschtraum, ein Gegenstand der Pathologie geblieben, er hätte nie zu jener gesellschaftlichen Wirksamkeit erwachsen können, die er jahrzehntelang ausübte.

Es war nicht allzuviel Nachdenken nötig, um einzusehen, daß ein derartig unmittelbares Bild, ohne deshalb falsch zu sein, von Entstehen, Wesen und Wirkung einer bedeutsamen Periode nur eine fragmentarische und oberflächliche Vorstellung geben könnte. Für denkende und dem Fortschritt wirklich hingegebene Menschen tauchte notwendig das Problem der sozialen Genesis dieses Entwicklungsabschnitts auf, das als erster Togliatti sehr richtig dahin formulierte, daß die gesellschaftlichen Bedingungen des Entstehens und der Festigkeit des „Personenkults“ aufgedeckt werden müßten, natürlich aus der inneren Dynamik der russischen Revolution; Togliatti fügte, ebenfalls richtig, hinzu, daß in erster Reihe die Sowjetmenschen zu dieser Arbeit berufen seien. Natürlich handelt es sich dabei nicht bloß um ein Problem der Geschichte. Die historische Forschung geht notwendigerweise in eine Kritik der so entstandenen Theorie und Praxis über. Und zwar — davon war ich von Anfang an überzeugt — mußte eine solche eingehende Betrachtung alles Falsche an der mit dem „Personenkult“ verbundenen, aus ihm entsprungenen Ideologie aufdecken. Solchen Forschern müßte es so ergehen, wie Ibsen die ideologische Wendung seiner Frau Alving in den „Gespenstern“ beschrieb: „Nur an einem einzigen Knoten wollte ich zupfen, als ich den aber auf hatte, da gab die ganze Geschichte nach. Und da merkt’ ich, daß es nur Maschinennaht war.“ Dieses Ergebnis hängt primär nicht von der Einstellung der an die Frage Herantretenden ab; es ist die organische Konsequenz des behandelten Materials.

Diese Forschung blieb auch bis heute bloß ein Postulat für den wahren Marxismus, und Sie können unmöglich von mir erwarten, daß ich, der ich kein kompetenter Kenner dieses Stoffgebiets bin, auch nur einen Versuch zur Lösung darbiete; erst recht nicht in einem Brief, der notwendig noch subjektiver und fragmentarischer aufgebaut sein muß, als auch ein Essay über dieses Thema es wäre. Immerhin muß es für jeden denkenden Menschen klar sein, daß den Ausgangspunkt nur die innere und die internationale Lage der russischen proletarischen Revolution von 1917 sein kann. Objektiv muß man an die Kriegsverwüstungen, an die industrielle Rückständigkeit, an die verhältnismäßige kulturelle Zurückgebliebenheit Rußlands (Analphabetismus etc.) denken, an die Kette der Bürgerkriege, der Interventionen von Brest-Litowsk bis zu Wrangel etc. Als — oft vernachlässigtes — subjektives Moment tritt hinzu die Beschränkung Lenins in der Möglichkeit, seine richtigen Einsichten in die Praxis umzusetzen. Man ist heute — da in diesem Jahrhundert seine Entschlüsse sich doch durchgesetzt haben — oft geneigt, zu vergessen, welche Widerstände er dabei in der eigenen Partei überwinden mußte. Wer die Vorgeschichte des 7. Novembers, des Friedens von Brest-Litowsk, der NEP nur einigermaßen kennt, wird wissen, was hier gemeint ist. (Es kursierte später eine Anekdote über Stalin, wonach er zur Zeit der inneren Debatten über den Brester Frieden gesagt haben soll: die wichtigste Aufgabe wäre, Lenin eine verläßliche Mehrheit im Zentralkomitee zu sichern.)

Nach Lenins Tod war zwar die Periode der Bürgerkriege und Interventionen abgeschlossen, jedoch besonders bei letzteren ohne die geringste Garantie dafür, daß sie nicht jeden Tag erneuert werden könnten. Und die ökonomische und kulturelle Rückständigkeit zeigte sich als schwer überwindbares Hindernis für eine Wiederherstellung des Landes, die zugleich Aufbau des Sozialismus und Gewähr für dessen Verteidigung gegen Restaurationsversuche des Kapitalismus sein sollte. Die innerparteilichen Schwierigkeiten sind mit dem Tod Lenins naturgemäß nur gewachsen. Da die revolutionäre Welle, die das Jahr 1917 ausgelöst hatte, vorüberging, ohne die Diktatur des Proletariats auch in anderen Ländern dauernd errichten zu können, mußte man sich mit der Frage des Aufbaus des Sozialismus in einem (rückständigen) Lande resolut auseinandersetzen. Das ist die Zeit, in der sich Stalin als bedeutender, weitblickender Staatsmann erwies. Die wirksame Verteidigung der Lenin’schen neuen Theorie von der Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft in einem Lande gegen die Angriffe vor allem Trotzkis war, so muß man es heute sehen, die Rettung der sowjetischen Entwicklung. Man kann die Stalin-Frage unmöglich historisch gerecht beurteilen, wenn man die Richtungskämpfe in der Kommunistischen Partei nicht von diesem Gesichtspunkt betrachtet; Chruschtschew hat diese Frage bereits am XX. Kongreß richtig behandelt.

Gestatten Sie mir jetzt einen kleinen Exkurs über die Bedeutung der Rehabilitation. Zweifellos müssen alle von Stalin in den Dreißigerjahren und später ungerecht Verfolgten, Verurteilten, Ermordeten von allen gegen sie ausgeklügelten „Anklagen“ gereinigt werden (Spionage, Diversantentum etc.). Das bedeutet jedoch keineswegs, daß damit ihre politischen Fehler, ihre falschen Perspektiven ebenfalls einer „Rehabilitation“ unterzogen werden sollen. Das bezieht sich vor allem auf Trotzki. Er war ja der theoretische Hauptvertreter der These, daß der Aufbau des Sozialismus in einem Lande unmöglich sei. Die Geschichte hat seine Konzeption längst widerlegt. Wenn wir uns jedoch in die Zeit unmittelbar nach Lenins Tod zurückversetzen, ergibt dieser Standpunkt notwendig die Alternative: entweder durch „revolutionäre Kriege“ die Basis des Sozialismus zu verbreitern oder auf den sozialen Zustand vor dem 7. November zurückzugehen; also das Dilemma von Abenteurertum oder Kapitulation. Hier gestattet die Geschichte keine Rehabilitation Trotzkis; Stalin hatte gegen ihn in den damals entscheidenden strategischen Fragen vollständig recht behalten.

Die Trotzki-Legende

Ebenso abwegig scheint mir die im Westen weitverbreitete Legende, Trotzki hätte, wenn er zur Macht gelangt wäre, eine demokratischere Entwicklung eingeleitet als Stalin. Man muß bloß an die Gewerkschaftsdebatte von 1921 denken, um diese Legende als Legende zu durchschauen: Trotzki vertrat damals gegenüber Lenin den Standpunkt, die Gewerkschaften müßten verstaatlicht werden, um die Produktion wirksamer zu fördern, was objektiv so viel bedeutet, daß sie dem Wesen nach aufhören müßten, Massenorganisationen mit Eigenleben zu sein. Lenin, der von der konkreten Lage, von der Stellung der Gewerkschaften zwischen Partei und Staatsmacht im Sinne der proletarischen Demokratie ausging, weist ihnen sogar die Aufgabe zu, die materiellen und geistigen Interessen der Arbeiter (wenn nötig: sogar gegen einen bürokratisierten Staat) zu verteidigen. Ich will und kann hier nicht auf diese Frage detailliert eingehen. Es ist aber sicher, daß Stalin in späteren Jahren de facto (nicht in der Argumentation) die Linie Trotzkis und nicht Lenins weitergeführt hat. Wenn also Trotzki später Stalin vorwarf, dieser hätte sich sein Programm angeeignet, so hatte er darin vielfach recht. Für meine Beurteilung der beiden Persönlichkeiten folgt daraus: was wir heute als despotisch, als antidemokratisch an der Stalin’schen Ära beurteilen, hat sehr nahe strategische Berührungen mit Trotzkis Grundauffassungen. Eine von Trotzki geführte sozialistische Gesellschaft wäre zumindest ebenso undemokratisch gewesen, wie die Stalinsche — nur wäre sie strategisch auf das Dilemma von Katastrophenpolitik oder Kapitulation angelegt gewesen, statt auf die im Wesen richtige Linie Stalins, auf die Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande. (Meine persönlichen Eindrücke von den Begegnungen mit Trotzki 1921 haben in mir die Überzeugung erweckt, daß er individuell noch stärker auf „Personenkult“ angelegt war als Stalin.) Über Bucharin ausführlich zu schreiben, halte ich für überflüssig. In der Mitte der Zwanzigerjahre, als seine Stellung eine völlig unangefochtene war, habe ich bereits darauf aufmerksam gemacht, wie problematisch sein Marxismus gerade in bezug auf seine theoretischen Fundamente war.

Nun zurück zum Hauptthema. Die verdienten Siege in den Diskussionen der Zwanzigerjahre haben die Schwierigkeiten von Stalins Position nicht aufgehoben. Die objektiv zentrale Frage, die des vehement gesteigerten Tempos der Industrialisierung, ließ sich nach aller Wahrscheinlichkeit im Rahmen der normalen proletarischen Demokratie schwerlich lösen. Es wäre müßig, heute darüber zu grübeln, ob und wie weit Lenin hier einen Ausweg gefunden hätte. Rückblickend sehen wir einerseits die Schwierigkeiten der objektiven Lage, andererseits, daß Stalin in immer exzessiverer Weise über das unbedingt Notwendige in ihrer Überwindung hinausging. (Die richtige Proportion aufzudecken wäre die Aufgabe eben jener Forschung, die Togliatti von der sowjetischen Wissenschaft erwartet hat.) Im engsten Zusammenhang damit steht — ohne freilich damit identisch zu sein — Stalins Position in der Partei. Sicher hat er während und nach der Periode der Diskussionen allmählich jene Pyramide aufgebaut, von welcher ich eingangs sprach. Ein solcher Apparat muß aber nicht nur aufgebaut, sondern ständig in Gang gehalten werden; er muß immer wunschgemäß und verläßlich auf Tagesfragen aller Art reagieren. Es mußte also jenes Prinzip allmählich ausgearbeitet werden, das man heute als das des „Personenkults“ zu bezeichnen pflegt. Auch hier müßte die Geschichte von kompetenten sowjetischen Kennern des ganzen Materials (inklusive des bis jetzt unveröffentlichten) aufgearbeitet werden. Was auch Außenstehende wahrnehmen konnten, war erstens der systematische Abbau der Parteidiskussionen, zweitens die Zunahme von organisatorischen Maßnahmen gegen die Widerstrebenden, drittens das Hinüberwachsen solcher Maßnahmen in gerichtliche und staatlich-administrative. Die letzte Steigerung wurde natürlich mit stumpfem Schrecken aufgenommen. Bei der zweiten arbeitete noch die Witzfolklore der russischen Intelligenz. „Was ist der Unterschied zwischen Hegel und Stalin“, lautete die Frage. Und die Antwort: „Bei Hegel gibt es Thesis, Antithesis und Synthesis, bei Stalin Referat, Coreferat und organisatorische Maßnahmen.“ Zur historischen Beurteilung dieser Evolution gab Chruschtschew schon am XX. Kongreß einen nützlichen Wink, indem er die großen Prozesse der Dreißigerjahre als politisch überflüssig charakterisierte, da die Macht jeder Opposition damals bereits völlig gebrochen war.

Ich halte mich keineswegs für kompetent, diese Entwicklung und ihre treibenden Kräfte darzustellen. Auch theoretisch müßte gezeigt werden, wie Stalin, der in den Zwanzigerjahren noch klug und geschickt das Lenin’sche Erbe verteidigte, immer stärker in allen wichtigen Fragen in Gegensatz zu ihm geriet, woran das verbale Festhalten an dem Zusammenhang mit Lenins Lehren nichts ändert. Im Gegenteil. Da Stalin immer energischer durchzusetzen vermochte, daß er als der legitime Erbe Lenins, als sein allein authentischer Ausleger betrachtet, daß er als der vierte Klassiker des Marxismus anerkannt werden sollte, hat sich das verhängnisvolle Vorurteil von der Identität der Stalin’schen Theorien mit den Grundprinzipien des Marxismus immer stärker verfestigt.

Ich wiederhole: ich kann es nicht als meine Aufgabe ansehen, diese Lage und ihre Entstehung wissenschaftlich darzulegen. Ich nehme sie, wie sie in der Wirklichkeit ist, als Tatsache an und versuche im folgenden, ihre theoretischen und kulturellen Folgen sowie die in ihr immanent wirksame Methode an einigen wichtigen, knotenpunktartigen Tatbeständen ins Licht zu rücken. (Dabei will ich im voraus bemerken, daß ich mich wenig darum kümmere, ob und wie weit einzelne Theorien nachweisbar auf Stalin selbst zurückzuführen sind. Bei der von ihm geschaffenen geistigen Zentralisation war es sowieso unmöglich, daß Anschauungen zu dauernd herrschenden wurden, ohne von ihm zumindest zugelassen zu sein; seine Verantwortung für sie ist darum auf alle Fälle evident.)

Ich beginne mit einer scheinbar äußerst abstrakten Methodenfrage: die Stalin’sche Tendenz ist überall, möglichst sämtliche Vermittlungen auszuschalten und die krudesten Faktizitäten mit den allgemeinsten theoretischen Positionen in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Gerade hier wird der Gegensatz zwischen Lenin und Stalin deutlich sichtbar. Lenin hat sehr genau zwischen Theorie, Strategie und Taktik unterschieden und stets alle Vermittlungen, die sie miteinander — oft äußerst widerspruchsvoll — verbinden, sorgfältig studiert und berücksichtigt. Natürlich ist es mir in einem Brief — mag er während des Schreibens noch so sehr anschwellen — unmöglich, diese theoretische Praxis Lenins auch nur anzudeuten. Ich greife aus diesem großen Komplex als Beispiel nur den für Lenin sehr wichtigen Begriff des taktischen Rückzugs heraus. Es ist methodologisch ohne weiteres klar, daß die Notwendigkeit und Nützlichkeit eines Rückzugs nur aus den jeweiligen konkreten Kräfteverhältnissen und nicht aus den allgemeinsten Prinzipien heraus begriffen werden kann; diese bestimmen — mehr oder weniger vermittelt — die Zielsetzung etc. der jeweiligen Aktion und haben insofern eine große Bedeutung auch für den Rückzug selbst, als sie seine Art, seine Maße etc. so mitbestimmen, daß er nicht zum Hindernis eines neuen Vorstoßes werde. Daß dabei ein weitverzweigtes und kompliziertes System der Vermittlung erkannt werden muß, um den Rückzug elastisch durchzuführen, bedarf keiner weiteren Erklärung. Stalin, der nicht über die durch große Taten und wichtige theoretische Errungenschaften entstandene, bereits „naturhaft“ wirkende Autorität Lenins verfügte, suchte den Ausweg in der Richtung, je eine sofort einleuchtende Rechtfertigung aller seiner Maßnahmen so zu bewerkstelligen, daß diese als unmittelbar notwendige Folgen der marxistisch-leninistischen Lehren hingestellt wurden. Dazu mußten alle Vermittlungen ausgeschaltet, Theorie und Praxis in einen unmittelbaren Zusammenhang miteinander gebracht werden. Deshalb verschwinden aus seinem Weltbild so viele Kategorien Lenins; auch der Rückzug erscheint bei ihm als Vormarsch.

Stalin: Größe und Groteske

Stalins Skrupellosigkeit ging dabei so weit, wenn nötig auch die Theorie solchen Autoritätsforderungen gemäß umzumodeln. Dies zeigte sich am groteskesten in der chinesischen Frage, wobei das Groteske daraus erwächst, daß Stalin diesmal im taktischen Sinne völlig recht hatte. (Man soll bei der allerschärfsten Kritik nie vergessen, daß Stalin eine bedeutende politische Figur war.) Trotzki und seine Anhänger vertraten den Standpunkt, daß, da in China die von Marx theoretisch behandelten asiatischen Produktionsverhältnisse vorherrschend waren, eine bürgerlich-demokratische Revolution — in Europa der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus — überflüssig wäre und der unmittelbare Ausbruch einer proletarischen Revolution bevorstehe. Stalin durchschaute richtig die politische Falschheit und Gefährlichkeit dieser Position. Statt sie jedoch durch eine konkrete Analyse der gegenwärtigen Lage Chinas und der daraus folgenden taktischen Aufgaben zu widerlegen, strich er die asiatischen Produktionsverhältnisse einfach aus der Wissenschaft aus, statuierte einen chinesischen (einen allgemein asiatischen) Feudalismus. Die ganze Orientalistik in der Sowjetunion wurde dadurch gezwungen, eine nicht existierende Formation zur „Grundlage“ aller Forschungen zu machen.

Dieselbe Methodologie zeigt ein anderer, viel berühmterer Fall. Ich meine Stalins Pakt mit Hitler im Jahre 1939. Wieder handelt es sich darum, daß Stalin eine meiner Meinung nach taktisch im wesentlichen richtige Entscheidung traf, die jedoch verhängnisvolle Folgen hatte, weil er auch hier, statt den von den konkreten Umständen aufgezwungenen taktischen Rückzug als solchen zu behandeln, aus seinen von der Not diktierten Maßnahmen ohne jede theoretische Vermittlung prinzipielle Bewertungen der internationalen Strategie des Proletariats gemacht hat. Ich will hier auf den schwierigen Problemkomplex, welche Vorteile und Nachteile, politischer wie moralischer Art, der Pakt von 1939 gebracht hat, nicht eingehen. Sein unmittelbarer Sinn war, einen imminent drohenden Angriff Hitlers zu vertagen, und zwar einen solchen, den wahrscheinlich Chamberlain und Daladier offen oder versteckt unterstützt hätten. Die weitere taktische Perspektive war die folgende: wenn Hitler — wie es tatsächlich geschah — den Pakt mit der Sowjetunion als günstige Gelegenheit für eine Offensive nach dem Westen benützte, würde später, in dem Fall eines Krieges zwischen der Sowjetunion und Deutschland, für die Sowjetunion das schon zur Münchner Zeit angestrebte Bündnis mit den westlichen Demokratien zur höchsten Wahrscheinlichkeit werden; auch hier haben die Ereignisse die taktische Voraussicht Stalins bestätigt.

Verhängnisvoll für die ganze revolutionäre Arbeiterbewegung wurden hingegen Stalins theoretisch-strategische Folgerungen.

nächster Teil: Stalin ist noch nicht tot
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