Grundrisse, Nummer 22
Juni
2007
Mike Davis:

Planet der Slums

Berlin: Assoziation A, 2007, 248 Seiten, 20 Euro

Grober Backstein, Stroh, Recycling-Plastik, Zementblöcke und Abfallholz!

Laut Mike Davis sind das die Materialien, aus denen die weniger betuchten Städter und Städterinnen in Zukunft – voraussichtlich sind das dann eine Milliarde an der Zahl weltweit – ihre Wohnungen bzw. Unterkünfte in den postmodernen Slums eigenhändig zusammenzimmern werden. Der marxistische Urbanist Mike Davis, Amerikaner, der vor Jahren sein eigenes Haus in LA verkauft hat, um in aller Ruhe auf Hawaii ein Buch schreiben zu können, vermutet, dass diese kommenden planetarischen do-it-yourself Architekt/innen „voller Neid auf die Ruinen der Lehmhäuser von Catal Hüjük in Anatolien zurückblicken“ werden, auf den Beginn des städtischen Lebens vor 9000 Jahren. Aber ob da noch Zeit für Neid bleibt, wenn Du ohne Grundbesitz, ohne Kapital, ohne Hilfe der Kommune selbst Hand anlegen musst, damit Du, mit Deinen Kindern womöglich, wohnen [1] kannst? Oder ist das nicht möglicherweise viel eher der Neid eines Autors aus der amerikanischen Mittelschicht selbst, schnurstracks projiziert aufs globale Prekariat? Und ob diese Überlebenskünstler/innen jemals von Catal Hüjük gehört haben werden ist eine andere Frage – denn wie sollten sie zu diesem Wissen gelangt sein, wenn sie als sogenannte Slumbewohner/innen dazu gezwungen werden nackten Existenzkampf zu führen? Und das von Anbeginn ihres Lebens an?

Mike Davis meint, dass das zu beobachtende rapide Städtewachstum im Kontext von Strukturanpassungsprogrammen, Geldentwertung und staatlicher Einsparungspolitik ein todsicheres Rezept für die Massenproduktion von Slums sei. Und um diese schon seit Jahrzehnten auf globalem Niveau in unterschiedlichem aber erschreckendem Ausmaß stattfindende Massenproduktion von unwürdigen Wohn-, Lebens- und auch Arbeitsbedingungen dreht sich sein Buch. Der Fokus liegt dabei auf dem Trikont (Mike Davis schreibt meistens „Dritte Welt“), deshalb werden europäische Städte fast ausschließlich wissenschaftlich-historisch angeführt (Die strittige Frage, ob Istanbul nun zu Europa gehört oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden).

Die Transformation der Stadt!

Am Anfang seines weniger verstörenden als einfach etwas anstrengend zu lesenden, jedoch sehr informativen Buches (es wird so viel und so schnell von Kontinent zu Kontinent gesprungen) stellt Mike Davis eine Wende fest, die er für eine der kopernikanischen Wende vergleichbare hält: „Zum ersten Mal in der Geschichte werden auf der Welt mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben.“ Er verweist selbst auf mögliche Mängel in Statistiken und vermutet, dass dieser Epochensprung wahrscheinlich bereits stattgefunden hat. So ist es also heute: die Landbevölkerung stirbt aus. Aber stopp, bevor wir uns an einer bipolaren Einteilung krampfhaft festhalten: Es geschieht gerade eine Transformation:

„In allen Kulturen der Welt haben sie (die Ballungszentren) die gleichen spezifischen Merkmale: eine Struktur aus völlig unterschiedlichen urbanen Milieus, die auf den ersten Blick diffus und desorganisiert wirkt, durchsetzt mit einzelnen, geometrisch strukturierten Inseln, eine Struktur ohne eindeutiges Zentrum, aber deswegen mit vielen mehr oder weniger stark spezialisierten Vierteln, Netzwerken und Knotenpunkten“, schreibt der deutsche Wissenschaftler Thomas Sieverts in seinem Buch „Cities without Centres: An Interpretation of the Zwischenstadt“, London 2003. Andere Wissenschaftler/innen sprechen anstatt von „Zwischenstadt“ von „desakotas“, also „Stadtdörfern“ oder von einer peri- urbanen Entwicklung, um diesem neuen Erscheinungsbild menschlicher Ansiedlungen Rechnung zu tragen.

Was ist eigentlich ein Slum?

Mike Davis stützt sich auf einen seiner Meinung nach historisch bedeutsamen Bericht, „The Challenge of Slums“, der von mehr als 100 Wissenschaftler/innen im Jahr 2003, vom UN- Habitat, dem Wohn und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen veröffentlicht wurde (verfügbar unter: www.ucl.ac.uk/dpu-projects/Global_Report). Es sei die „erste wirklich globale Bestandsaufnahme urbaner Armut, die in die berühmten Fußstapfen von Friedrich Engels, Henry Mayhew, Charles Booth und Jacob Riis tritt“, und die mit James Whitelaws 1805 verfasster Untersuchung über die Armut in Dublin begann. In diesem neuen Bericht wird ein Slum relativ klassisch als eine „überfüllte, ärmliche bzw. informelle Unterkunft ohne angemessenen Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen sowie ungesicherter Verfügungsgewalt über Grund und Boden“ definiert. Seit einem UN- Treffen in Nairobi im Jahr 2002 ist diese Definition offiziell angenommen.

Schockierende, mehr oder weniger als Fakten zu bezeichnende Zahlenangaben, einige Tabellen und Aussagen wie folgende durchziehen weite Teile des Buches: 200.000 Slums gibt es wahrscheinlich auf der Erde; die am schnellsten wachsenden Slums finden sich in der russischen Föderation; zu den Ärmsten der Armen zählen die Stadtbewohner von Luanda, Maputo, Kinshasa und Cochabamba. Es ist ein schöner Nebeneffekt des Buches, dass man durch die Menge an noch nie gehörten oder einem kaum zu Ohren kommenden Städtenamen, welche ja trotz der furchterregenden Beschreibungen ihren Wohlklang nicht verlieren, ein wenig Erd-kundiger wird bzw. Lust bekommt, Landkarten oder einen Globus zu studieren oder im Netz nach mehr Info zu suchen. Habt ihr je von Lumumbashi gehört?

Die angeführten Beispiele für die extrem einfallsreichen Taktiken wohnungsloser Menschen, irgendwie zu Wohnraum zu gelangen, erzeugen verschiedene Affekte beim Lesen, auch eine gewisse ängstliche Zufriedenheit; ich gebe das gern zu, als relativ reiche Europäerin (wie man mit dieser ängstlichen Zufriedenheit dann umgeht – darauf kommt es vielleicht an). In Kairo etwa leben ca. 1 Million Menschen auf dem Gelände eines riesigen Friedhofs, in Kairos Totenstadt: „Die Eindringlinge haben die Gräber mit viel Kreativität den Bedürfnissen ihres Lebens angepasst. Die Kenotaphe und Randsteine der Gräber werden als Schreibpulte, Tische und Regale benutzt. Schnüre werden zwischen Grabsteinen gespannt, um Wäsche zu trocknen.“ (Jeffrey Nedoroscik, The City of the Dead: A History of Cairo` s Cemetary Communities, Westport 1997).

Die Mega-City Istanbul – auch nicht besonders weit von Wien entfernt gelegen – mit einer Einwohner/innenzahl von über 11 Millionen im Jahr 2004 wird als Beispiel für eine „piratische Urbanisierung” angeführt: die „gecekondus“ (wörtlich übersetzt bedeutet das „über Nacht gebaut“) sind an den äußeren Rändern der Stadt gelegene Viertel oder Besetzer/innensiedlungen, die eben über Nacht gebaut, am nächsten Tag von der Polizei abgerissen und in der darauffolgenden Nacht wieder aufgebaut werden, wieder zerstört und wieder aufgebaut wurde, bis die Behörden der Auseinandersetzung müde wurden. „Blumenhügel“ heißt eine dieser Siedlungen der hartnäckigen Pirat/innen Istanbuls, die im Roman „Der Honigberg“ von Latife Tekin beschrieben wird.

Davis stellt fest, dass die klassische Gesellschaftstheorie von Marx bis Weber davon ausging, „dass die großen Städte in Zukunft in die Fußstapfen von Industriezentren wie Manchester, Berlin und Chicago treten würden.“ Tatsächlich sieht es jetzt aber so aus, dass Megastädte wie Kinshasa, Luanda, Khartoum, Daressalam, Guayaquil und Lima mehr dem viktorianischen Dublin ähneln – d.h. diese Städte wachsen „trotz des Niedergangs importsubstituierender Industrien, eines geschrumpften öffentlichen Sektors und in den sozialen Abstiegsstrudel geratener Mittelklassen.“

Es ist ein düsteres Zukunfts-Bild, dass uns hier vorgestellt wird: „Statt in hoch zum Himmel strebenden Lichterstädten zu leben, wird ein Großteil der urbanen Welt des 21. Jahrhunderts inmitten von Umweltverschmutzung, Exkrementen und Abfall im Elend versinken“. Fuck!, denkt man sich als empathisch lesender und zutiefst von Anglizismen beeinflusster Mensch. Und das Kapitel „In der Scheiße leben“ bringt es dann auch auf den Punkt: „Acht Generationen nach Engels (Die Lage der arbeitenden Klasse in England 1844) steht die krankmachende Scheiße den städtischen Armen immer noch bis zum Hals.“ Existenzielle Kontinuitäten dieser zum Himmel schreienden, buchstäblich stinkenden Ungerechtigkeiten sind heute z.B. auch nachzulesen in einem Großstadtroman von Meja Mwangi mit dem Titel „Nairobi, River Road“ (Zürich, 1997). Eine Warnung könnte man ausgeben an alle potentiellen Nairobi- Tourist/innen: Nehmt euch in Acht vor den fliegenden Toiletten, den sogenannten Scud Raketen: „Sie (Menschen, die in Nairobi ohne Klo leben) verrichten ihre Notdurft in eine Plastiktüte und werfen sie auf das nächstgelegene Dach oder den nächsten Weg.“ Und die jüngere Generation übt sich bereits frech im ungewöhnlich dreckigen Klassenkampf: Kinder drohen vorbeifahrenden Pendlern damit, „Klumpen aus menschlichen Exkrementen in die offenen Autofenster zu werfen sollten die Fahrer nicht sofort bezahlen.“

Mike Davis stellt uns im letzten Kapitel „Auf der Straße nach Vietnam“ komplexe Fragen, die es zu erforschen gelte: „Wenn der informelle Urbanismus in einer Sackgasse endet, werden die Armen dann nicht revoltieren? Sind die großen Slums Vulkane, die nur darauf warten auszubrechen [2] oder führt der erbarmungslose Kampf ums Überleben, die Tatsache, dass immer mehr arme Menschen um dieselben Brosamen der informellen Ökonomie konkurrieren, zu selbst-zerstörerischer Gewalt in den Communitys? Wird dies die höchste Stufe „urbaner Involution“ sein? In welchem Maß wird, marxistisch gesprochen, einem informellen Proletariat das Glück und die Macht zufallen, „Träger der Geschichte“ zu sein?“

Das neue Feindbild der Kriegstreiber: Wütende junge Männer und verschleierte junge Frauen!

Den Schluss des Buches bildet eine Abrechnung Davis´ mit der „Vorstellungskraft der Herrschenden“, die den „offensichtlichen Folgen einer Welt aus Städten ohne Jobs nicht gewachsen zu sein“ scheint. Das Pentagon z.B. hat seine eigene Sichtweise: Kriegsplaner und Strategen erklären, dass die „failed cities“ die Schlachtfelder des 21. Jahrhunderts sein werden. „Die Zukunft der Kriegführung liegt in den Straßen, Abwasserkanälen, Hochhäusern und dem Häusermeer, aus denen die zerstörten Städte der Welt bestehen. Unsere jüngste Militärgeschichte ist gespickt mit Städtenamen wie Tuzla, Mogadischu, Los Angeles, Beirut, Panama City, Hué, Saigon, Santo Domingo ... aber diese Zusammenstöße sind nur der Prolog des eigentlichen Dramas, das uns noch bevorsteht.“ [3] Die Rollen in diesem Drama werden von einem Militär-Wissenschaftler namens Geoffrey Demarest wie folgt vergeben: Die staatsfeindlichen Akteure sind „anarchistische Psychopathen, Kriminelle, zynische Opportunisten, Verrückte, Revolutionäre, Arbeiterführer, ethnische Nationalisten, und Immobilienspekulanten“ oder im Allgemeinen die „Besitzlosen“ und die „Verbrechersyndikate“ im Besonderen. Dieser Demarest interessiert sich vor allem für „die Psyche des verlassenen Kindes“ – aber nicht aus Mitleid, denn er glaubt, dass die Slumkinder die Geheimwaffe staatsfeindlicher Kräfte seien. [4]

Zweifel!

Ich weiß nicht, ob es gut ist, die aktuelle Entwicklung der europäischen oder auch amerikanischen Ansiedlungsformen aus einer Untersuchung, die sich den Anspruch des Globalen gibt, auszusparen. Laut der im Buch abgedruckten Slumtypologie etwa zählen ja auch peripher gelegene Flüchtlingslager zu den Slums. Und davon gibt es doch in Europa einige. Und herrschen in den USA nicht auch an manchen Orten, in mancher Hinsicht Verhältnisse wie in der sogenannten Dritten Welt? Und gibt es nicht auch auf der ganzen Welt verstreut Wohnende, die sich vor „hochkarätigen internationalen Events wie Konferenzen, Besuchen von Würdenträgern, Sportveranstaltungen, Schönheitswettbewerben und internationalen Festivals, die die Behörden dazu veranlassen, mit wahren Kreuzzügen die Stadt ‚aufzuräumen’“ fürchten? Mike Davis schreibt im Kapitel „Die City Beautiful“, dass diese Furcht vor Spektakeln allein die Armen in der urbanen Dritten Welt treffen würde.

Und liest man so nebenbei den Artikel „Stadt von morgen – Marseille und andere Metropolen Europas verlieren ihre Seele“, [5] so lassen sich doch Ähnlichkeiten erkennen, was die diagnostizierte Transformation betrifft: Der soziale Wohnungsbau stagniert, die Stadtbewohner/innen werden mit zweierlei Maß gemessen, die wohlhabende Klientel drängt mit ihrem gesellschaftlichen Autismus den Rest des Landes ins Abseits und Städte bekämen ein „Fun-Image“ verpasst. Im Artikel wird der Historiker Alèssi Dell`Umbria zitiert: „Mit dem Verschwinden der Arbeit zugunsten des Services, der Arbeiter zugunsten der Dienstleister wird der städtische Raum immer mehr von Kultur und Tourismus besetzt, und das Zentrum verwandelt sich in ein allein zur Unterhaltung der Mittelschicht bestimmtes Konsumparadies, wo Restaurants, angesagte Bars und Ausstellungen einen Parcours markieren, den kein Hindernis mehr stört.“

Zu den abgedruckten Fotos im Buch: Der uferlose Reproduktionismus, der uns überschwemmt, ließe sich oftmals eindämmen. Die Schwarz-Weiß-Fotos ( eines davon ist sogar doppelt vorhanden, wird aber dadurch auch nicht aussagekräftiger ) sind meines Erachtens überflüssig.

[1Wohnen ist ein Tätigkeitswort (Mike Davis weist uns mit dem Ausspruch des anarchistischen Architekten John Turner darauf hin, dass „wohnen“ eine aktive Angelegenheit bedeutet und nichts mit Nichtstun zu tun hat).

[2Ich weiß nicht, ob es gut ist, auf die Figur des globalen Prekariats Vergleiche mit Naturgewalten anzuwenden. Es erinnert doch schon sehr an die Angst bzw. diese eine Form von Krieg schürenden Sprachbildern, die Populist/innen gerne verwenden – man denke z.B. an die „Fluten“ von Migrant/innen. Dieses Vokabular führt außerdem zu leicht zu dem Trugschluss, dass all diese traurigen Tatsachen von irgendwelchen höheren Mächten verschuldet sind und lässt uns möglicherweise vergessen, dass die ganze Kacke doch Menschenwerk ist. Und weil ich schon dabei bin: Geschimpft wird im dritten Kapitel „Der Verrat des Staates“ über „die Briten“, denn sie wären „schon immer Verfechter der ‚Teile und herrsche’-Ideologie“ gewesen. Mir liegt nichts daran, den europäischen Kolonialismus in seiner britischen Ausprägung in Schutz zu nehmen – mich macht es aber stutzig, wenn ein amerikanischer Autor von „den Briten“ spricht. Von „den Amerikanern“ spricht er nämlich nicht. Auch nicht von „den Chinesen“ oder „den Indern“. Aber das nur am Rand.

[3Aus der Zeitschrift des Army War College, „Our Soldiers, their Cities“, Major Ralph Peters, 1996

[4Künstler/innen sehen das naturgemäß etwas anders, handeln selbstreflexiver und selbstkritischer. Siehe Tom Waits mit seiner neuen CD „Orphanes“ ( Waisenkinder ), die er gemeinsam mit seiner Frau Brennan produziert hat.

[5Le monde diplomatique, Februar 2007 – die Zeitschrift nimmt mit diesem Artikel des französischen Journalisten Francois Ruffin am „Documenta 12 magazines“ Zeitschriftenprojekt teil.

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