FORVM, No. 277/278
Januar
1977

Phantasie an die Macht!

Gewerkschaften und Studenten gemeinsam

Gewerkschaften sind bis heute zu einem Gutteil jene „instinktive Arbeiterbewegung“, als welche Marx sie kennzeichnete. Nur selten blicken sie über die eigene Nasenspitze oder die ihres „Sozialpartners“. Unterdessen greift aber die gewerkschaftliche Organisationsform auf umfangreiche, rapide anwachsende neue Schichten über, auf die technische, wissenschaftliche, managerielle Intelligenz, zukunftsträchtige Zwitter, die zugleich abhängig Arbeitende und Führungskräfte sind: neben die „instinktive“ tritt die „intellektuelle“ Arbeiterbewegung. Zuständige Gewerkschaft ist in Österreich die der Privatangestellten, seit ihren Anfängen in der Ersten Republik ein Stück „links“ von der übrigen Gewerkschaftsbewegung. Sie ist die Gewerkschaft der „neuen Arbeiterklasse“ aus Intellektuellen, angewachsen zur größten Einzelgewerkschaft im ÖGB. Ihr Vorsitzender Alfred Dallinger, SPÖ-Abgeordneter zum Nationalrat und Vizepräsident des ÖGB, dokumentiert mit dem folgenden Text die Öffnung dieser Gewerkschaft in Richtung Studenten, Universitäten, Technik und Wissenschaften wie auch industrielle Führungskräfte. Es ist ein Referat, das Dallinger vor dem Verband Sozialistischer Studenten Österreichs hielt, als die SPÖ ihre Beziehungen zum VSStÖ „stillegte“ (am 10. Dezember 1976 hob der Parteivorstand diesen Beschluß wieder auf). G. N.

Bewaffneter Proletarier 1848 in Wien

Im März 1848 standen auf den Barrikaden der Revolution Studenten, Bürger und Arbeiter im gemeinsamen Kampf gegen die reaktionäre Gewalt des Feudaladels — und siegten. Als im Oktober die Monarchie zum Gegenangriff antrat, war diese Einheit bereits zerbrochen — und die Revolution wurde geschlagen.

In dieser überspitzten Vereinfachung können freilich weder die Bedeutung der 48er Revolution noch die Ursachen ihres Sieges oder ihrer Niederlage voll erfaßt werden; eine solche Darstellung ist überhaupt nur zulässig, wenn man sich darauf beschränken will, das Phänomen eines einstmaligen Zusammenwirkens von Studenten und Arbeiterschaft der darauffolgenden Entfremdung gegenüberzustellen.

Seit 1848 haben sich die Studenten mehr als 100 Jahre hindurch als Angehörige einer Kaste verstanden, die sich den Titel „Intelligenz“ zulegte und ihre Aufgabe darin sah, das Bestehende zu verewigen, die Privilegien der Mächtigen zu erhalten und jeden neuen Gedanken in der Wissenschaft wie in der Gesellschaft zu verdammen. Die Universitäten waren dann auch danach: Studieren konnte nur, wer über viel Geld oder über Empfehlungen seines Pfarrers verfügte, lehren durfte nur, wer mit allen Salben des Konservatismus gesalbt war, vorwärtskommen sollte nur, wer sich bei den „Alten Herren“ traditionsgebundener Verbindungen beliebt gemacht hatte.

Militär gegen Arbeiter und Studenten im Prater

Die Beziehungen zwischen Arbeiterbewegung und Hochschule waren gekennzeichnet durch einen dauernden Spannungszustand, der zum Aufbau von Vorurteilen, zur Entwicklung von Feindseligkeit und Haß führte. Sah die Arbeiterschaft in den Universitäten Bollwerke der Reaktion, des Antisemitismus und der Ausbeutung, so sah die Intelligenz in den Betrieben und Arbeiterbezirken die Stätten des Aufruhrs und der Revolte. Die wenigen aus den Kreisen der Intelligenz, die sich zur Arbeiterbewegung und zum Sozialismus bekannten, mußten individuell ihre Erziehung und ihre Herkunft überwinden und dem Terror der „Eliten“ standhalten.

Die politische und die wirtschaftliche Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkrieges haben auch in den Beziehungen zwischen Arbeiterbewegung und Hochschulen wesentliche Veränderungen gebracht. Die Zahl der Hochschüler ist ständig gestiegen, allein in den Jahren 1970 bis 1974 sind die Hörerzahlen in Österreich von 43.000 auf 80.000 hinaufgeschnellt (1950 waren es rund 20.000), und der Aufwand des Bildungsbudgets ist von 2,4 Prozent auf 4,7 Prozent des Bruttonationalprodukts gewachsen, hat sich also verdoppelt. Steigender Bedarf an Akademikern, durch die rasche Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Verwaltung, hat dazu ebenso beigetragen wie die Abschaffung der Studiengebühren, die Einführung von Stipendien und andere Förderungsmaßnahmen. Dadurch hat sich aber auch die Struktur der Studierenden gewandelt. Die Tore der Hochschulen sind nicht mehr ausschließlich für Söhne und Töchter wohlhabender Familien offen, in zunehmendem (wenn auch bei weitem noch nicht ausreichendem) Maß finden auch Arbeiter- und Angestelltenkinder den Weg an die Universitäten.

Dies hat natürlich auch politische Konsequenzen, die nicht einfach in mathematischen Anteilsrechnungen oder in Wahlergebnissen ihren Ausdruck finden. Der Fall Borodajkewycz: der Proteststurm gegen das öffentliche Bekenntnis eines österreichischen Hochschulprofessors zu Nazismus und Antisemitismus, die gemeinsamen Aktionen von Studenten und Arbeitern im März 1965 zeigten, daß hier ein historischer Wandel eingetreten ist. Er ist natürlich nicht auf Österreich beschränkt; in weiten Teilen der Welt kam es zu einer Bewegung, die im Studentenjahr 1968 gipfelte. Wenn auch der Schwung dieser Bewegung nicht beibehalten werden konnte, ist ihr Einfluß auf die Politik und die Bewußtseinsbildung unübersehbar. Wo immer heute um Freiheit und Fortschritt der Kampf geführt wird, stehen Studenten mit an der Spitze — in Spanien wie in Polen, in Thailand wie in Rhodesien und Südafrika.

Dallinger (links) mit Nenning (3. v. l.) an der Spitze der Anti-Franco-Demonstration in Wien am 2. Oktober 1975
(vgl. NF November/Dezember 1975)

Nicht nur die soziale Struktur der Studenten, sondern auch die allgemeine soziale Lage hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Naturwissenschafter und Ingenieure, Gesellschaftswissenschafter, Ökonomen, Juristen oder Mediziner üben ihre Tätigkeit immer mehr im engsten Kontakt mit anderen sozialen Gruppen aus. Sie arbeiten in Betrieben und Wirtschaftsunternehmungen, sie sind als Betriebsleiter, Konstrukteure, Laborleiter, Betriebswirtschafter, Marktforscher, Kassen- oder Betriebsärzte in den meisten Fällen Gehaltsempfänger wie andere Angestellte. Selbst im Bereich der Grundlagenforschung gibt es nicht mehr den in seiner Gelehrtenstube grübelnden Einsiedler, weil Forschungszentren, Teamarbeit, Weltaufgeschlossenheit und kritisches Denken unerläßlich geworden sind für erfolgreiche Forschertätigkeit.

Schließlich muß man, wenn man die veränderte Lage der Intelligenz analysiert, auch berücksichtigen, daß einerseits der Einfluß der Arbeiter und Angestellten in den Betrieben, andererseits aber auch die Abhängigkeit der modernen Technik vom Menschen ungleich größer geworden sind. Das mag angesichts von Automation und Computertechnik, angesichts der Tendenz, den Menschen durch Maschinen zu ersetzen, paradox klingen. Dennoch ist es eine Tatsache, die von Fachleuten und Wissenschaftern in zunehmendem Maße anerkannt wird, obwohl die Öffentlichkeit sie nur sehr zögernd zur Kenntnis nehmen will: Je komplexer und aufwendiger moderne technische Systeme sind, desto mehr hängen sie vom Menschen ab, wenn sie funktionieren sollen. Allerdings vom Menschen im eigentlichen Sinn des Wortes, nicht vom gedankenlosen Knopfdrücker, sondern vom denkenden, informierten, bewußt handelnden und selbständig entscheidenden Menschen. So treffen sich die Erfordernisse der heutigen Technik und ihrer Vertreter, der technischen Intelligenz, mit den Bedürfnissen der heutigen Lohnabhängigen und ihrer Vertretung, der modernen Gewerkschaftsbewegung.

Die Gewerkschaft der Privatangestellten hat die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft seit langem als Notwendigkeit erkannt und angestrebt. Unser „Aktionsprogramm bis 1978“, das vom Gewerkschaftstag im Oktober 1974 einstimmig beschlossen wurde, beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der Automation, der menschengerechten Arbeitsgestaltung, der Förderung des Studiums und der Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Wissenschaft. Wörtlich stellen wir dazu fest:

Zu den auslösenden Momenten und charakteristischen Merkmalen der wissenschaftlich-technischen Veränderungen unserer Zeit gehört der grundlegende Wandel der Wissenschaft zu einer unmittelbaren Produktivkraft. Theorie und Praxis sind nicht mehr streng getrennte Bereiche, sondern wirken immer enger zusammen. Von der Wissenschaft erhalten Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft starke Impulse. Wissenschaftlicher Fortschritt ist daher auch zu einer der Voraussetzungen für sozialen Fortschritt geworden, wie auch umgekehrt das Streben nach sozialem Fortschritt ein wichtiger Ansporn für die Förderung von Wissenschaft und Forschung ist.

Die Gewerkschaft der Privatangestellten bekennt sich voll und ganz zur technischen Entwicklung als einem Erfordernis unserer Zeit, dessen Vernachlässigung zu schweren Schäden im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich führen kann. Sie sieht in ihr aber auch eine Voraussetzung zur Schaffung von Lebens- und Arbeitsbedingungen, die eine volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ermöglichen, vorausgesetzt, daß Gesundheit und menschliches Wohlbefinden Vorrang vor ökonomischen und technischen Zielen haben.

Diese Ansätze gemeinsamer Interessen von Gewerkschaft und Wissenschaft dürfen allerdings nicht dazu verleiten, die tiefgehenden Gegensätze, Vorbehalte und Vorurteile zu übersehen, die nach wie vor existieren. Bei der Eröffnung eines Symposiums über „Neue Wege der Programmierung und die Zukunft des Programmierers“, das unsere Gewerkschaft gemeinsam mit der Technischen Universität Wien durchführte, habe ich Gelegenheit gehabt, nach der Begrüßung durch den Rektor der TU auf diese Problematik hinzuweisen:

Ich verhehle nicht, daß dazu viel Ballast der Vergangenheit auch bei uns abzuwerfen war, daß viele Vorurteile und Ressentiments diesem Bestreben im Wege standen und zum Teil noch immer vorhanden sind. Ich entsinne mich noch sehr gut, mit welchem fast verständnislosen Erstaunen die ersten Versuche dieser Art von unseren Funktionären aufgenommen wurden, wie viele Einwände à la Travnicek „Was brauch ma des“ vorgebracht wurden, und ich bin sicher, daß dies auf der anderen Seite nicht anders war.

Heute gehört es zu den erklärten Zielen unserer Gewerkschaft, für die weitestgehende Förderung von Wissenschaft und Forschung einzutreten, weil wir wissen, daß wissenschaftlicher Fortschritt eine wesentliche Voraussetzung für sozialen Fortschritt geworden ist. Heute nehmen wir aktiven Anteil an der Entwicklung unserer Hochschulen, an der Gestaltung der Lehre und an der Interessenvertretung der Studierenden, die als Angestellte und Führungskräfte von morgen die Entwicklung unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft maßgeblich beeinflussen werden. Heute versuchen wir, das Verständnis der Öffentlichkeit für die Leistungen von Wissenschaft und Technik zu vergröBern und gleichzeitig den Vertretern von Wissenschaft und Technik die Anliegen von Mensch und Technik näherzubringen. Eine moderne, aufgeschlossene Gewerkschaftsbewegung kann sich nicht mehr mit den Aufgaben materieller Besserstellung allein begnügen, so wichtig die materiellen und sozialen Zielsetzungen nach wie vor sind. Aber die Verbesserung der Lebensqualität auch am Arbeitsplatz rückt in der Werteskala des Angestellten und des Arbeiters immer höher und sollte auch in den Arbeiten an unseren Hochschulen in den Vordergrund gestellt werden.

Die Veränderungen in der gesellschaftlichen Situation sowohl der Intelligenz wie auch der Arbeiterschaft erlauben es, diese Zielsetzungen als durchaus realisierbar zu betrachten. Dies gilt aber nur dann, wenn wir uns bewußt sind, daß diese Veränderungen erst einen Anfang darstellen und noch weitergeführt werden müssen! Resolutionen, Reden und Veranstaltungen können immer nur bewußt machen, was an gesellschaftspolitischen Veränderungen vorhanden ist. Die Änderungen selbst müssen Gewerkschaften und Studenten gemeinsam weiterführen.

Daß die Hochschulen nicht mehr die Domäne reaktionärer Gesinnung sind, ist gewiß ein begrüßenswerter Fortschritt, aber übersehen wir nicht, daß die Konservativen ihre Bemühungen um die Wiedergewinnung dieser Stützpunkte keineswegs aufgegeben haben. Nur wenn fortschrittliche Wissenschafter und fortschrittliche Arbeiter und Angestellte zusammenwirken, wird es möglich sein, zwischen Intelligenz und Gewerkschaftsbewegung ein echtes Bündnis zu schmieden, das weitestgehende Bedeutung für die Entwicklung unserer Gesellschaft haben wird.

Studenten und Arbeiter im Mai 1968 in Paris: Zirkus für den Massenstreikposten vor dem Tor des besetzten Renaultwerks in Billancourt
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