Wurzelwerk, Wurzelwerk 21
Mai
1983

Peace On Earth ...

Es war ein eindrucksvolles Bild, als jener hoffnungsschwangere Refrain aus den Mündern prominenter Künstler im Chor erklang. Harry Belafonte umarmte seine sowjetische Kollegin, André Heller krächzte mit Sergio Ortega um die Wette, Dietmar Schönherr versuchte, möglichst locker im Rhythmus zu bleiben, während Konstantin Wecker leidenschaftlich diese Ansammlung von verschiedenartigsten Künstlern im Dienste des Friedens am Klavier begleitete.

Ein denkwürdiges Finale einer achtstündigen Monsterveranstaltung in der Wiener Stadthalle im vergangenen Herbst.

Als ich danach den Gürtel überquerte, konnte ich mir unter dem Eindruck der vergangenen Stunden nicht vorstellen, daß dieser Appell an die Welt, vor allem aber an jene, die mit unser aller Leben spielen, überhört werden könnte. Und nicht nur mir schien es so zu gehen, denn wohin ich blickte, gingen oder besser schwebten Gleichgesinnte in alle Richtungen, voll der Hoffnung, daß diese Welt nicht verloren sein muß, wenn wir nur alle daran glauben.

Um lumpige 160,— Schilling hatten wir alle an diesem Abend erleben dürfen, wie stark Menschen vereint sein können, und ich war mir sicher, wie wichtig es ist, daß prominente Künstler für den Frieden auftreten, weil diese eben auf weniger engagierte Mitmenschen enorme Wirkung ausüben können. Wenn der Starkult schon für nichts gut ist, dann eben erstmals für eine Sache wie den Frieden, und etwas wichtigeres wird es vermutlich nie geben.

Peace on earth, sing it all together ...

Doch so wichtig es ist, dies auch überall miteinander zu singen, kann die künstlerische Darbietung bloß die Spitze jenes Eisberges sein, den wir heute weltweit als Friedensbewegung bezeichnen. Jener Bewegung also, die in den letzten Monaten immer wieder stark unter Beschuß stand. Wie der Ausdruck schon andeutet, kamen die Angriffe besonders von seiten der Vertreter der „Frieden durch Angst“-Philosophie, jener alten menschlichen Tradition, die in den letzten Jahrzehnten zur Wissenschaft gesteigert wurde, die sich von den Hochburgen Washington und Moskau ausgehend immer weiter über die Welt verbreitet, wie eine Seuche könnte man meinen, gegen die es noch kein Mittel gibt. Außer: Wir bewegen uns alle für den Frieden.

Natürlich konnte es nicht lange dauern, bis die Kritiker in Ost und West ihre Stimmen erhoben, um den Friedensjüngern mit mahnender Geste zu erklären, daß die Sache nicht so einfach betrachtet werden könnte, und vor allem nicht dann, wenn man auf einem Auge blind ist. Daß letzterer Vorwurf vorwiegend von westlichen Machthabern vorgebracht wird, versteht sich von selbst. Es gehört zu den Regeln unserer Gesellschaft, daß die Blinden Andersdenkenden Sehschwäche vorwerfen, noch dazu, wo die amerikanischen Bewahrer des atomaren Gleichgewichts zwangsläufig die Appelle der Friedensbewegung lauter zu Ohren bekommen als ihre östlichen Mutationen, die sich eben besser hinter ihren Stacheldrähten verschanzen können. Doch wenn es den Herren Reagan, Kohl und Konsorten auch noch so einseitig vorkommt, so müssen sie sich eben daran gewöhnen, daß die Menschen dort auf die Barrikaden gehen, wo sie die Möglichkeit dazu haben, darüber hinaus bedroht die geplante atomare Nachrüstung der Amerikaner in der Bundesrepublik aufgrund des Natobeschlusses die Menschen in Mitteleuropa eben direkter als die nukleare Potenz der Sowjetunion, die zwar um nichts beruhigender, aber im Augenblick etwas abstrakter ist.

Eindrucksvoller Satz eines etwa 18-jährigen weiblichen Mitgliedes des Hamburger Friedenschores in der Stadthalle: „Immer erzählen sie uns, daß die Russen kommen werden, wenn wir nicht auf der Hut sind. Ich weiß nicht, ob die Russen jemals kommen werden, doch ich weiß, daß die Amerikaner schon da sind!“

Doch nicht nur durch die Repräsentanten der Machtblöcke wird Kritik an der Friedensbewegung geübt. Auch in den eigenen Reihen, oder sagen wir besser: auch unter den emotionalen Sympathisanten gibt es Skeptiker. Die Skepsis kommt am ehesten daher, daß die numerisch große Zahl der Friedensbewegten einer zwar zahlenmäßig unterlegenen Gruppe von „Frieden durch Angst“-Vertretern gegenübersteht, doch ernüchternd scheint in diesem Zusammenhang vielmehr die Tatsache, daß die Reagans und Andropows bislang keinerlei Veranlassung hatten, dieser nach Abrüstung schreienden Masse Gehör zu schenken. Die irdischen Bemühungen der Friedensbewegung gleichen Rufen in der Wüste. Die Entscheidungen fallen woanders. Bislang.

Die erste irdische Auseinandersetzung gröberer Art ist noch heuer in der Bundesrepublik zu erwarten, wo bereits im Herbst — vielleicht sogar schon im Sommer — die neue Mittelstreckenphalanx stationiert werden soll. Grüne contra Superman, ein ungleicher Kampf bahnt sich an, Helmut Kohl als parteiischer Schiedsrichter wird es schwer haben, seine Souveränität zu bewahren.

Doch diese Polemik hilft leider niemandem. Die Welt steht weiterhin auf des Messers Schneide, die Aufrüstung geht weiter und das Aussterben der Reagans und Andropows läßt weiterhin auf sich warten.

Viel schlimmer noch. Summiert man all den Wahnsinn der menschlichen Geschichte, gekrönt durch die Auswüchse der außer Kontrolle geratenen Technisierung, so fällt es schwer, optimistisch zu sein. Es fällt schwer, daran zu glauben, daß die gewaltfreie Friedensbewegung im nuklearen Spannungsfeld der Supermächte Erfolg haben kann und dennoch: Wir haben keine andere Chance.

Wir müssen daran glauben, daß irgendwann jenes Umdenken eintreten wird, das zur Zeit noch nicht in die Atomköpfe der Machthabenden hinein will, wir müssen daran glauben, daß nur eine breite, ständig anwachsende Bewegung gegen die Mißstände dieser Welt Erfolg haben kann, denn alles andere wäre Resignation.

Doch ebenso, wie es nicht angebracht ist, auf einem Auge blind zu sein, sollte auch allen engagierten Kräften klar sein, daß wir in einer Weit leben, wo es nicht mehr möglich ist, bloß einen Mißstand zu bekämpfen, ohne die Ursprünge radikal unter die Lupe zu nehmen, um ihre Veränderung herbeizuführen.

Es genügt nicht mehr, einen Fluß zu retten, ein Kraftwerk abzuwenden und damit bloß Umweltkosmetik zu betreiben. So wichtig diese Schritte sind, was nützen sie, wenn nicht gleichzeitig mit der Reinigung der Umwelt auch eine des menschlichen Bewußtseins einsetzt. Ebenso ist es unmöglich, für den Frieden zu marschieren, ohne zu erkennen, daß diese Symptombekämpfung zwar der erste, lebensrettende Schritt sein muß, daß darüber hinaus die Bewußtseinsveränderung von der Wurzel aus in allen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Bereichen angestrebt werden muß, um zukünftige Auswüchse dieser Art zu verhindern. Im Augenblick sind wir weit entfernt von dieser Utopie, obwohl immer mehr Menschen bereit sind, für ein Zusammenleben in Frieden und sozialer Gerechtigkeit in dieser Welt auf die Straßen zu gehen.

Was bleibt, ist die Hoffnung, daß das Schicksal der Menschheit nicht bloß ein unbestimmbarer Faktor sein kann, daß das, was Millionen Menschen empfinden, zur Bedeutungslosigkeit degradiert wird, während das Prinzip Hoffnung seinen aussichtslosen Kampf mit dem Prinzip Wahnsinn austrägt.

Ich sehe sie alle da oben sitzen: John Lennon hat seine Gitarre umgehängt, und um ihn herum sitzen sie: Victor Jara, Che Guevara, Martin Luther King, Ghandi und all die Namenlosen gleichen Schicksals. Und sollte jemals Gott dort gewohnt haben, so haben sie ihn längst vertrieben. Er konnte ihren monotonen, markerschütternden Chorus „Give peace a chance“ nicht mehr ertragen ...

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