FORVM, No. 130
Oktober
1964

Otto Bauer — Bild und Zerrbild

FORVM ist stets bestrebt gewesen, ein Forum aller geistigen Kräfte Österreichs zu sein. Der Austromarxismus schien uns hievon nicht nur nicht ausschließbar, sondern besonders beachtlich — als bisher sträflich vernachlässigtes Gebiet der Information und Kontroverse. Vor allem dem erstgenannten Zweck dient der nachfolgende Aufsatz von Ernst Winkler, Abgeordneter zum Nationalrat und Vorsitzender der sozialistischen Parteiorganisation Niederösterreichs. Der Text erscheint in erweiterter Form demnächst im biographischen Sammelwerk „Werk und Widerhall, Große Gestalten des österreichischen Sozialismus“, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. Abg. Ernst Winkler ist in seiner Partei eine der letzten gewichtigen Persönlichkeiten, deren Erleben noch von der Arbeiterbildungsbewegung und vom Austromarxismus bestimmt ist.

In Jahre 1907 erschien im Verlag der Wiener Volksbuchhandlung ein umfangreiches Werk, das bald von sich reden machte: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie.“ Die Nation, so begann der Verfasser, sei nicht bloß eine Gemeinschaft gleicher Abstammung und gleicher Sprache, sondern eine aus gemeinsamer Geschichte erwachsene Kultur- und Charaktergemeinschaft. „Das Historische in uns ist das Nationale in uns.“ Der Nationalcharakter sei „zu begreifen als ein Stück geronnener Geschichte“. Da jedoch die Geschichte in keinem Augenblick stillstehe, sei auch der Nationalcharakter fortwährenden Wandlungen unterworfen. Daran schloß sich, in ungewöhnlich schöner Sprache, eine gründliche Untersuchung über das nationale Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Das geistige Österreich war fasziniert von diesem Buch, welches nach dem Urteil des Historikers Richard Charmatz „würdig gewesen wäre, das Lebenswerk eines politisch orientierten Gelehrten zu bilden“. Der Verfasser aber war 25 Jahre alt. Er hieß Otto Bauer.

Mit fünfzehn: Marx und Engels

Sein Vater, Philipp Bauer, hatte sich aus dürftigen Verhältnissen zum Besitzer einer Textilfabrik in Warnsdorf emporgearbeitet. Otto Bauer, am 5. September 1881 in Wien geboren, wuchs im Wohlstand auf. Er war der beste Schüler seiner Klasse und maturierte mit Auszeichnung. Seine Begabung machte ihm die Bewältigung des Lehrstoffes so leicht, daß ihm Zeit zu umfangreicher Lektüre der Weltliteratur blieb. Mit fünfzehn begann er Marx und Engels zu lesen.

Da er seine Universitätsstudien im geistigen und wirtschaftlichen Zentrum Österreichs betreiben wollte, übersiedelte die Familie nach Wien. Auf Wunsch des Vaters studierte er Rechtswissenschaften, obwohl ihn Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie mehr interessierten. Nach glänzenden Studienerfolgen promovierte er im Januar 1906.

In Wien schloß sich Otto Bauer der „Freien Vereinigung sozialistischer Studenten“ und dem „Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein“ an. Hier fanden sich Köpfe, wie Karl Renner, Friedrich Adler, Rudolf Hilferding, Max Adler, Adolf Braun, Gustav Eckstein. Sie hatten außer Karl Marx einen großen lebenden Lehrer. Victor Adler, trotz seinem gütigen Herzen ein kühler Denker — das Gehirn sei ein Hemmungsorgan, pflegte er zu sagen —, brachte ihnen nahe, daß es oberste Regel aller Theorie und Praxis sei, die Wirklichkeit zu sehen. In diesem Kreis entstand jene Erweiterung und Vertiefung des Marxismus, die als „Austromarxismus“ weltbekannt wurde.

Nach Otto Bauers eigener Aussage waren dies die glücklichsten Jahre seines Lebens. Karl Renner, um elf Jahre älter als er, hat dem Lebensgefühl des Kreises in einem Gedicht Ausdruck gegeben, das 1902 nach einem gemeinsamen Ausflug mit Bauer und Hilferding entstand:

Die Rosse rasten — im Wagen
wir fuhren dahin zu drei’n,
wir hörten die Hufe nicht schlagen,
die Räder nicht rasseln am Stein.
Die Räder, das waren Gedanken,
Blitzräder von Licht und Glut!
Die Rosse, die hurtigen, schlanken:
Tatwille, Hoffen und Mut!
Die Achse aber, die feste,
dran Mann und Rad und Roß,
das war vom Gefährt das beste:
die Freundschaft, die uns umschloß!

Im Mai 1907 wählte Österreich zum erstenmal nach dem allgemeinen Wahlrecht (allerdings nur für Männer). Die Sozialdemokratie zog mit 87 Abgeordneten als stärkste Partei in den Reichsrat ein. Die große Fraktion brauchte ein Klubsekretariat. Zum Sekretär wurde der junge Dr. Otto Bauer bestellt. Regierungsvorlagen und Budget mußten studiert und begutachtet, Anträge vorbereitet, Material für die Abgeordnetenreden beschafft, der jährliche Tätigkeitsbericht verfaßt werden. Für die Schaffenskraft des jungen Gelehrten war das bloße Routine. Er hatte daneben, wie er sagte, immer noch „Zeit genug zum Arbeiten“. Er übernahm 1907 auch die Redaktionsleitung der neugegründeten Monatsschrift „Der Kampf“ und wurde Redaktionsmitglied der „Arbeiter-Zeitung“.

Oberleutnant mit Verdienstkreuz

Im Kriegssommer 1914 wurde Otto Bauer sogleich einberufen, ging als Offizier an die russische Front, wurde wegen Tapferkeit zum Oberleutnant und Kompaniekommandanten befördert und mit dem Goldenen Verdienstkreuz ausgezeichnet. Bei einem kühnen Vorstoß wurde er am 23. November 1914 von einer überlegenen russischen Einheit gefangengenommen. Er verbrachte fast drei Jahre in einem sibirischen Lager, lernte dort Russisch, betrieb Mathematik und schrieb — nur auf sein Gedächtnis gestützt — eine glänzende philosophische Abhandlung: „Das Weltbild des Kapitalismus“.

Nach Ausbruch der russischen Revolution gelang es Victor Adler auf dem Weg über den Vorsitzenden der schwedischen Sozialdemokratie, Hjalmar Branting, der mit den russischen Revolutionären in Verbindung stand, Otto Bauer als Austauschgefangenen zurückzuholen.

Bauer kehrte im September 1917 heim. Obgleich er weiterhin Militärdienst leisten und die Offiziersuniform tragen mußte, stürzte er sich mit Feuereifer ins politische Leben. Im Gegensatz zu Karl Renner, der seit vielen Jahren den Umbau der Monarchie in einen demokratischen Bundesstaat der Nationalitäten gefordert hatte und diese Idee auch während des Krieges mit Geist und Leidenschaft verfocht, war Bauer überzeugt, daß es für einen solchen Umbau nun zu spät sei. Er sah, daß der Krieg und die siegreiche russische Revolution den Freiheitsdrang der slawischen Nationen mächtig gesteigert hatten; eine Niederlage Österreichs würde die nationale Revolution und damit den Abfall dieser Nationen von der Monarchie zur Folge haben. Nicht der Ruf nach „Erneuerung Österreichs“, wie ihn Renner erhob, galt ihm als Aufgabe der Sozialdemokratie, sondern die Vorbereitung auf die kommende Revolution.

In einer Reihe von Artikeln, die er mit seinen Initialen, mit Karl Mann oder Heinrich Weber zeichnete, vertrat Otto Bauer diese Auffassung; sie schien der Mehrheit seiner Partei zunächst unwahrscheinlich und erschreckend. Viele österreichische Arbeiter sahen damals den Befreiungskampf der slawischen Nationen als Hochverrat an; sie wollten auch vom Anschluß an das wilhelminische Deutschland nichts wissen. Karl Renner wandte sich mit seiner blendenden Überredungskunst gegen die Ideen Bauers. „Diese Ideen“, schrieb er im Mai 1918, „stammen aus dem Geiste Mazzinis und nicht aus dem Geiste Karl Marx’.“

Otto Bauer, unter anderem unterstützt von Max Adler, Robert Danneberg, Gabriele Proft, Therese Schiesinger, Paul Richter, setzte unbeirrt seine Bemühungen fort, die Mehrheit der Partei für seine Ideen zu gewinnen, welche im Frühjahr 1918 im „Nationalitätenprogramm der Linken“ formuliert worden waren. Je länger der Krieg dauerte, je sichtbarer die Niederlage wurde, je lauter die Slawen nach der Gründung von Nationalstaaten riefen, desto größer wurde die Zahl der Anhänger Otto Bauers und seiner Freunde. Als schließlich im Oktober 1918 die nationalen Revolutionen der Tschechen, Polen, Jugoslawen die Habsburger-Monarchie sprengten, stand die ganze Partei, einschließlich Karl Renners, auf dem Boden des Programms der Linken.

Dies war für die Rolle der Sozialdemokratie in jenen Tagen von größter Bedeutung. „So kam es“, stellte Walter Goldinger sehr richtig fest, „daß die Sozialdemokraten, die als einzige sich Gedanken für den Fall einer Niederlage gemacht hatten, in den Vordergrund traten; sie wußten, was sie wollten und wohin sie die Massen der Arbeiter, Soldaten und Heimkehrer zu lenken hatten.“

Nun begann für den 37jährigen Otto Bauer eine Zeit fieberhafter Tätigkeit und größter Verantwortung. Victor Adler, am 30. Oktober 1918 zum Staatssekretär für Äußeres gewählt, starb am Vorabend der Gründung der Republik; Otto Bauer wurde sein Nachfolger. Als Außenminister der Republik Deutsch-Österreich schien für ihn die Stunde gekommen, den Anschluß an die deutsche Republik zu verwirklichen. Er wollte ihn so rasch wie möglich, jedenfalls noch vor dem Ende der Friedensverhandlungen. Frankreich erhob sofort Einspruch, Österreich mußte sich fügen.

Die Anschlußfrage wurde bald von der Gefahr überschattet, daß sich die Arbeiter in ein bolschewistisches Abenteuer locken ließen. In Bayern und Ungarn herrschte die Rätediktatur. Die Kommunisten riefen auf, dem Beispiel zu folgen. Die Soldaten waren haßerfüllt aus dem Krieg heimgekehrt. Sie hatten jahrelang gelitten, nun fanden sie zu Hause neue Not, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung. Das Ergebnis der Revolution enttäuschte sie. Sie hatten den Kaiser davongejagt, der Kapitalismus war geblieben. Sie waren frei geworden, aber sie hatten kein Brot.

Es erforderte Mut, den Massen entgegenzutreten. Otto Bauer und sein Freund Fritz Adler hatten diesen Mut. Durch ihre Haltung während des Krieges zählten sie zu den populärsten Männern der österreichischen Arbeiterbewegung. Sie warfen sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit der kommunistischen Agitation entgegen. Sie gingen in Kasernen und Betriebe, sprachen in Versammlung um Versammlung, schrieben Artikel um Artikel. Fritz Adler prägte damals das Wort: „Popularität ist dazu da, um konsumiert zu werden.“

„Ein Bolschewik“

Der österreichischen Republik blieb das Schicksal Ungarns und Bayerns erspart — vor allem dank jenem Otto Bauer, dem Engelbert Dollfuß 1932 in offener Nationalratsitzung zurief: „Sie sind ein Bolschewik.“

Trotz dem Übermaß seiner sonstigen Tätigkeit in den ersten Monaten der Republik ruhte Otto Bauers schriftstellerische Arbeit nicht. Noch zur Zeit, da er das Außenamt leitete, wurde er Präsident der vom Nationalrat eingesetzten Sozialisierungskommission. Im Zusammenhang damit schrieb er 1919 in der „Arbeiter-Zeitung“ eine Reihe von Aufsätzen. „Es waren“, sagte er, „in Hast hingeworfene Zeitungsartikel, keine sorgfältig vorbereitete wissenschaftliche Arbeit.“ Aber diese Artikel, vom Verlag der Wiener Voiksbuchhandlung als Broschüre „Der Weg zum Sozialismus“ herausgegeben, erlebten in kurzer Zeit zwölf Auflagen und wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. — Im Juli 1919 trat Otto Bauer als Außenminister zurück.

Als ich in das Staatsamt für Äußeres kam, war mein erstes Ziel, den Weg zu bahnen zu der Vereinigung Deutsch-Österreichs mit Deutschland ... Es war weiters mein Bestreben, mit aller Kraft möglichst gute Beziehungen zu Italien herzustellen ... Was ich wollte, Anschluß an Deutschland und gute Beziehungen mit Italien, ist jetzt nicht möglich! Wir haben in den nächsten Monaten andere Aufgaben zu lösen. Wir brauchen den Frieden und müssen herausschlagen, was geht — aber dazu bin ich nicht der rechte Mann, dazu habe ich mir auf der Gegenseite durch meine bisherige Tätigkeit zuviel Feindschaft zugezogen. Es kann dies ein anderer machen — und für mich ist noch etwas anderes zu tun.

Otto Bauer wurde in den Jahren von 1919 bis 1934 unbestrittener Führer der österreichischen Sozialdemokratie. Man schätzt die Zahl seiner Zeitungsartikel auf etwa viertausend, er schrieb eine lange Reihe glänzender Bücher und Broschüren, war der Schöpfer des sozialdemokratischen Agrarprogramms 1925 und des Parteiprogramms 1926, überdies einer der hervorragendsten Führer der sozialistischen Internationale. Karl Kautsky sagte von ihm: „So stelle ich mir den jungen Marx vor.“

Otto Bauer war ein wirklicher Führer — nicht durch Zwang, sondern durch Größe des Charakters. Aber man braucht nicht uns zu glauben, die wir Bauer liebten und verehrten. Der Kraft seiner Persönlichkeit erlag auch, wer nicht im Lager der Sozialdemokratie stand.

„Ihm war alles Spielerische, alles Leichte scheinbar fremd“, schreibt Richard Charmatz. „Sein Blick haftete nicht an Äußerlichkeiten, sondern durchdrang die oft täuschende Hülle. Otto Bauer sah da Denkaufgaben, Überlegungsanlässe, wo andere bloß flüchtige Tagesereignisse verzeichneten.“

Ungeheuerlich war die Arbeitskraft, die Otto Bauer entfaltete: als Parlamentarier, Theoretiker, Lehrer der heranwachsenden Jugend, Schriftsteller, Journalist und wahrlich nicht zuletzt als Redner. Erstaunt vermochte man sich kaum zu erklären, wie ein Mann dies alles bewältigte, ohne jemals trivial zu werden, ohne irgendwann die Konzession der Geistlosigkeit zu machen, ohne sichtlich zu ermüden ... Im Parlament war er ein gefürchteter Debatter, nicht nur im Plenum, sondern noch vielmehr in den Ausschüssen, wo es galt Paragraph für Paragraph sachlich durchzubesprechen und auf einer genauen Detailkenntnis beruhende Einwände zu erheben. Der Versammlungsredner war nicht in dem Sinne volkstümlich, daß er den Leuten nach dem Munde sprach, und trotzdem fesselte er, einerlei in welchem Milieu er zu Worte kam. Den manuellen Arbeitern imponierte er durch die spürbare Ehrlichkeit der Überzeugung, durch die Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft, den Intellektuellen durch den Umfang des Wissens, durch die nicht alltäglichen Ideen und Formulierungen. War endlich das sonstige Tagesprogramm erledigt, dann hieß es noch den Leitartikel für das nächste Blatt der „Arbeiter-Zeitung“ schreiben; heute wie gestern, heute wie morgen, als gäbe es für den Mann keine Ruhepause. Den achtstündigen Arbeitstag hatte Otto Bauer für sich zweifellos niemals gelten lassen. Sein Stil war wie der Schreiber: durchaus logisch, eindringlich, klar. Schillernde Phrasen lagen ihm nicht.

Ernst Karl Winter, nach der Februarkatastrophe 1934 Vizebürgermeister von Wien, berichtet, wie er Material für ein Buch über Seipel sammelte und hiebei Otto Bauer kennenlernte.

Mit nicht geringem Erstaunen konstatierte der Historiker und Soziologe bei diesem Anlasse, daß dieser Mann in Wahrheit etwas ganz anderes war, als das parteipolitische Klischee von ihm wissen wollte. ... Ich habe Otto Bauer in diesem letzten Jahr studiert wie eine historische Persönlichkeit ..., und ich leugne es nicht und ich schäme mich nicht, es zu sagen, ich habe wie viele andere Forscher, die für einen Gegenstand warm werden, für diesen Mann eine innere Zuneigung gewonnen, die, angefangen von einem Februartag 1932, als ich mit ihm noch im Parlament das erstemal über Seipel sprach, über Dutzende von langen Auseinandersetzungen im Verlaufe dieses Jahres bis zu meiner letzten Zusammenkunft mit ihm am Freitag vor der Katastrophe nur noch gewachsen ist ... Stünde ich nicht durch meine Lebensform, als Christ, als Österreicher, als Vater von sechs Kindern, in einem ganz anderen Kosmos, aus dem ich immer wieder neue Kräfte ziehe, die wertvoller sind als alles Gedankliche und die auch das Gedankliche erst formen und bestimmen, wäre ich nur Denker und nicht auch Mensch, nur Mensch und nicht auch Christ, ich würde nicht zweifeln, wohin ich auch politisch gehöre. Otto Bauer ist eine geistige Kraft, der man sich wohl unterordnen könnte, käme es nur auf das Geistige an.

So schrieb ein überzeugter Katholik, ein Freund von Dollfuß, in den Tagen des siegreichen Austrofaschismus, als sich eine Flut von Verleumdungen und Beschimpfungen über Otto Bauer ergoß. Diese Tatsache spricht sowohl für Otto Bauer wie auch für den Mut und die Wahrheitsliebe Professor Winters, welcher nach seiner Rückkehr aus Amerika 1955 von seinesgleichen nicht sehr herzlich aufgenommen wurde.

Man hat Otto Bauer oft als weltfremden Stubengelehrten dargestellt. Nein, er war ein scharfsinniger, nüchterner Denker, ein wirklichkeitsnaher Politiker, der vom Alltag der Arbeiter mehr wußte als die meisten andren. Schon als Student trat er für einige Zeit bei einem Schlossermeister in die Lehre ein, um die Wirklichkeit des Arbeitslebens kennenzulernen. Otto Bauer, der „Weltfremde“, hat in Tausenden Konferenzen und Versammlungen zu Arbeitern gesprochen und mit ihnen diskutiert, auch dann noch, als er ein vielbeschäftigter und berühmter Politiker war. Ich selbst gehörte zu jenem Kreis von jungen Arbeitern, die er fallweise zu sich einlud, um sich von ihnen über ihre Arbeit und die Stimmung in den Betrieben erzählen zu lassen.

Ein anderer Tadel ist ernster zu nehmen. Nicht nur bürgerliche Kritiker, auch Sozialisten geben Otto Bauer Mitschuld an der Zuspitzung der politischen Gegensätze in der Ersten Republik; insbesondere habe er die Zusammenarbeit der beiden großen Parteien abgelehnt.

Zwischen Opposition und Koalition

Otto Bauer war kein grundsätzlicher Gegner von Koalitionsregierungen; 1918/19 war er selbst Mitglied einer solchen. „Die Teilnahme der Sozialdemokratie an der Regierung“, schrieb er im August 1930, „kann unter günstigen Voraussetzungen nützlich, notwendig sein. Sie kann die Arbeiterklasse vor Gefahren bewahren und kann der Arbeiterklasse manchen Vorteil bringen. Sie kann die Widerstandskraft der demokratischen Staatsgewalt gegen den Druck der kapitalistischen Plutokratie wesentlich stärken. Aber sie kann — von revolutionären Zeiten wie 1918 bis 1920 abgesehen — den bourgeoisen Charakter des Staatswesens nicht aufheben“ („Ein Brief an Karl Renner“).

Im Sommer 1922, als die Inflation ihren Höhepunkt erreicht hatte, bot Bauer dem Bundeskanzler Seipel die Bildung einer Koalitionsregierung an. Dieser lehnte ab; er vollzog die Stabilisierung mittels des Genfer Vertrages unter der Vormundschaft der internationalen Hochfinanz. Auch unmittelbar nach der Katastrophe vom 15. Juli 1927 offerierte die Sozialdemokratie unter Bauers Führung die Bildung einer Konzentrationsregierung zur Befriedung des Landes. Seipel lehnte schroff ab. Als nach Hitlers Wahlsieg am 5. März 1933 die nationalsozialistische Flut auch in Österreich stieg, schlug die Sozialdemokratie unter Bauers Führung eine Koalitionsregierung zur Abwehr des Faschismus vor. Dollfuß lehnte ab und bildete eine Koalition mit der Heimwehr.

Otto Bauer war in der Tat kein Anhänger der Koalition um jeden Preis und in jeder Situation. Er hielt sie nur dann für fruchtbar und erfolgreich, wenn ein „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ bestehe und daher weder das Bürgertum noch die Arbeiterschaft stark genug sei, allein zu regieren. Andernfalls würde das Bürgertum die Sozialdemokratie in eine Koalitionsregierung nur aufnehmen, um sie unpopuläre Maßnahmen mitverantworten zu lassen; dies würde der Arbeiterschaft nichts bringen, die Partei aber belasten und schädigen.

Wer Otto Bauers Stellung zur Koalition verstehen will, muß an die fast ständige furchtbare Massenarbeitslosigkeit in der Ersten Republik denken. Notleidende, verzweifelnde Massen sind stets geneigt, dem Radikalismus Gehör zu geben. Die Sozialdemokratie mußte stets auf der Hut sein, jene Massen der Arbeiter und Arbeitslosen nicht zu enttäuschen und zu den Kommunisten zu treiben. Otto Bauer hielt, gleich seinem Lehrer Victor Adler, die Einheit der Arbeiterklasse für das höchste Gut, die Spaltung für das größte Unglück. Dies bestimmte sehr maßgeblich seine Haltung zur Koalition.

Die Behauptung, daß uns die sozialdemokratische Teilnahme an der Regierung vor dem Faschismus bewahrt hätte, wird durch die deutsche Erfahrung widerlegt. Die deutsche Sozialdemokratie betrieb stets eine Koalitions- oder Tolerierungspolitik. Das Ergebnis war die Spaltung, eine starke kommunistische Partei, der Sieg des Faschismus schon 1933. In Österreich gelang es dagegen, trotz schlimmster Arbeitslosigkeit und Massennot die Einheit und Geschlossenheit der Sozialdemokratie zu wahren. Die kommunistische Partei blieb eine Sekte, die bei den letzten Nationalratswahlen 1930 einen Stimmenanteil von 0,57 % erhielt. Und die österreichische Sozialdemokratie blieb nicht nur einig, sie war inmitten der niederdrückenden Wirtschaftskrise stets von erstaunlichem Schwung beseelt. Dies war, soweit derlei auf eine Person zurückgeführt werden kann, die Leistung Otto Bauers.

Vor den Müttern dieses Landes

Ein gleichfalls ernster und häufiger Vorwurf betrifft die Haltung Bauers am 15. März 1933, als Dollfuß die Wiederaufnahme der Sitzungen des Nationalrates gewaltsam verhinderte. Damals, so sagen sozialistische Kritiker, hätte man den Kampf aufnehmen müssen. Otto Bauer schreckte davor zurück und mit ihm die große Mehrheit des Parteivorstandes. Am 10. März 1933 sprach er vor Wiener Vertrauensmännern, in der erschütterndsten Rede seines Lebens, jene ihn wahrhaft ehrenden Worte:

Wir wissen, daß ein großer Verfassungskampf der Volkswirtschaft des Landes Wunden schlagen würde, die sich in vermehrter Arbeitslosigkeit ausdrücken würden, und wir wissen, daß, wenn es zum Entscheidungskampf kommt, Opfer fallen würden, die wir vor den Müttern dieses Landes nur verantworten können, nachdem wir vorher alles getan haben, was eine friedliche Lösung auf dem Boden der Volksfreiheit möglich macht. Aber wenn ich das hier noch einmal sage, dann soll man mich nicht mißverstehen. Denn darüber darf sich niemand täuschen; wenn der Gegner es anders will, wenn er unsere Friedensbereitschaft mißachtet, wenn er sich einbildet, Österreich auf die deutsche Bahn führen zu können, dann, Genossinnen und Genossen, soll der Gegner wissen, daß wir zu allem, aber auch wirklich zu allem entschlossen sind ... In dieser schweren Zeit gibt es nur eines, was dieses düstere Leben noch erträglich macht: das eine, daß wir in unserem Lande wenigstens für unsere Gedanken, Ideen, Ideale werben, wenigstens noch um eine andere, bessere, größere Zukunft kämpfen können. Das sollen alle unsere Gegner wissen und daraus unsere Entschlossenheit verstehen: wenn man uns auch das noch nähme, dann wäre uns das Leben nichts mehr wert.

Wer sich vorzustellen vermag, welche Blutschuld jemand sich auflädt, der einen Bürgerkrieg entfesselt; wer imstande ist, sich die damalige innen- und außenpolitische Lage ins Gedächtnis zu rufen — der wird Otto Bauer und die damaligen Mitglieder des Parteivorstandes verstehen. Otto Bauer und seine Freunde wären keine Sozialisten und Humanisten gewesen, hätten sie nicht auch den letzten Versuch zum Frieden unternommen.

In seiner Broschüre „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter“, noch ganz unter dem Eindruck der blutigen Februarkämpfe, beschäftigte sich Otto Bauer sehr offen mit den „Fehlern, die wir begangen haben“...

Aber sowenig wir Fehler leugnen wollen, die wir begangen haben — wäre die österreichische Gegenrevolution nach dem Siege des Faschismus in Deutschland überhaupt zu verhüten gewesen? Hätte eine andere Politik, eine andere Taktik sie verhüten können? ... Die ungarische Sozialdemokratie hat im Jahre 1919, die italienische bis zum Jahre 1922 eine „linke“, revolutionäre, dem Kommunismus verwandte Politik betrieben — sie endete in beiden Ländern mit einer Katastrophe. Die deutsche Sozialdemokratie hat umgekehrt einen sehr staatsmännischen, sehr nationalen, sehr „rechten“ Weg gewählt — sie ist gleichfalls geschlagen worden. Wir haben in Österreich zwischen dem italienisch-ungarischen und dem deutschen Extrem einen mittleren Weg zu gehen versucht — wir sind gleichfalls geschlagen. Die Ursachen der Niederlage der Arbeiterklasse liegen offenbar tiefer als in der Taktik ihrer Parteien, offenbar tiefer als in einzelnen taktischen Fehlern.

Dies sind Worte, die auch den Kritiker nachdenklich stimmen sollten. Wir wissen, daß Otto Bauer diese Broschüre mit seinem Herzblut schrieb. Er hatte seine Heimat, für deren Arbeiterschaft er so viel getan hatte, verlassen müssen, um den Mördern des verfassungsbrecherischen Austrofaschismus zu entgehen. Er nahm, um der Heimat nahe zu sein, in der Tschechoslowakei Zuflucht, gründete in Brünn, mit Dr. Julius Deutsch und einigen anderen Freunden, das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie, organisierte Hilfsaktionen, schrieb unermüdlich Flugblätter, Zeitschriften, Broschüren, Bücher, die über die Grenze geschmuggelt wurden; er stellte die Verbindung mit der neuen illegalen Partei her und führte ungezählte Gespräche mit deren Sendboten. Aber er fühlte und gehabte sich nicht als Parteiführer, sondern als Diener der jungen Bewegung.

Wir Älteren, deren Denkbahnen sich in der Vorkriegszeit, in einer völlig anderen Welt geformt haben, sind nicht berufen, die junge Bewegung, die heute in Österreich wie in den anderen faschistischen Ländern entsteht, zu führen; sie, die in einer so ganz anders beschaffenen Welt lebt, muß sich selbst ihre Ziele setzen, sich selbst ihre Mittel wählen, sie muß selbst ihre Politik bestimmen und ihre Ideologie gestalten. Wir Älteren können ihr diese Aufgabe nicht abnehmen. Aber wir haben der jungen Bewegung gegenüber unsere besondere Aufgabe. Wir haben die Pflicht, die Erfahrung, das Wissen, die Werte zu übermitteln, die wir in unserer Zeit, in unserer Arbeit, in unseren Kämpfen erworben haben.

Im Jahr 1938 mußte Bauer aus Brünn nach Paris flüchten, wo er am 4. Juli, 57 Jahre alt, gebrochenen Herzens starb. Jene Pflicht der Älteren, den Jungen zu helfen, hat er erfüllt bis zum letzten Atemzug. In seinen Schriften und Büchern erfüllt er sie weiterhin. Möge die heutige Generation dies wahrnehmen!

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