FORVM, No. 184/II
April
1969

Ohne Schuldemokratie keine Demokratie

I. Mittelschulen wichtiger als Hochschulen

Demokratisierung darf nicht erst an der Hochschule beginnen. In der Höheren Schule werden Lehrinhalte und -methoden, autoritäre Strukturen usw. bereits präfixiert, so daß die Hochschule nur die logische Prolongierung unserer institutionalisierten Bildungsperversion darstellt.

Alle Reformen werden so lange bloße Kosmetik bleiben, so lange man versucht, die Schule als eine von der Gesellschaft ausgegrenzte, d.h. unpolitische Größe zu betrachten. Man muß die Verflochtenheit von Schule und Gesellschaft bewußtmachen, und zwar in zweifacher Hinsicht: einerseits muß die Schule Modelle für die Gesellschaft erarbeiten und praktizieren; anderseits muß sie ihre Strukturen und Bildungsinhalte an die sich verändernde Gesellschaft anpassen.

Unsere heutige Schule entspricht dem in keiner Hinsicht: einerseits ist sie unfähig, selbst gesellschaftsverändernd zu wirken, da sie neue Modelle weder erarbeiten, noch weniger praktizieren kann; anderseits herrschen in unserem Schulsystem Strukturen, die nicht nur der heutigen Gesellschaft nicht angepaßt sind, sondern im Widerspruch zu ihr stehen.

Gemeinsam mit dem Militär bildet die Schule eine staatliche Zwangsinstitution, in der sich autoritäre Strukturen nicht nur vorfinden, sondern auch noch auf andere Gesellschaftsbereiche ausbreiten.

Folglich ist die reaktionäre Gefährdung der Gesellschaft durch die Schule weit größer, als man gemeinhin annimmt. Die autoritäre Manipulation, der jeder Staatsbürger zwangsweise unterworfen wird, setzt in einem Alter ein, in dem der Mensch dies noch nicht reflektierend erkennt. Wenn es stimmte, daß Hochschüler einen höheren Grad des Bewußtseins haben, so wären die autoritären Hochschulstrukturen eine geringere Gefahr für die Demokratie als die Strukturen der Höheren Schulen.

Das Militär kann man schon auf Grund des Funktionsmangels abschaffen, ohne daß deswegen die Gesellschaft Schaden erleidet — in Österreich sind sich darüber diejenigen, die sich als wahrhaft kritisch verstehen, wohl einig (was noch nicht heißt, daß der Militarismus bei uns schon beseitigt ist — dazu haben wir noch zu viele Menschen mit „Vergangenheit“ und solche jungen Menschen, die meinen, daß diese „glorreiche Zeit“ erhalten bleiben müsse. Leider sind diese Menschen nicht nur beim RFS ...). Mit der Schule ist es nicht so einfach, denn diese gewinnt für die Gesellschaft immer mehr an Bedeutung (also im Gegensatz zum Militär: Funktionszuwachs) — und auch zu Recht.

II. Abbau von Herrschaft

Demokratisierung bedeutet zuerst einmal Abbau von Herrschaft. Dies kann nicht in einem einzigen Akt geschehen. Demokratisierung ist wesentlich permanent. Ein Zielpunkt existiert nur theoretisch. In der Praxis gibt es keinen Endpunkt einer Entwicklung (und damit Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung“). Jeder Stillstand ist bereits wieder Reaktion.

In unserem Schulsystem hat der Abbau von Herrschaft noch gar nicht begonnen; eher das Gegenteil. Da der Staat praktisch Alleinträger dieser repressiven Institution ist, werden einerseits vorhandene (zum Teil verdeckte) gesamtgesellschaftliche Herrschaftsmechanismen in der Schule reproduziert, anderseits ist diese Institution Geburtsstätte neuer repressiver Herrschaftsverhältnisses, die die vorhandenen gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen legitimieren und weiter ausbauen.

Der Mensch wird durch Strukturen manipuliert. Er hat aber auch die Möglichkeit, diese selbst initiativ zu ändern und dadurch auf das eigene Bewußtsein zurückzuwirken. Allein durch Strukturänderungen kann Demokratisierung nicht erzielt werden, aber sie sind Voraussetzung und Folge einer Demokratisierung. Repressiv-autoritäre Strukturen hindern den Menschen an seiner Entfaltung und schaffen dadurch eine Klassengesellschaft von Herrschenden (repressive Autoritäten) und Beherrschten (durch die Repression an der Entfaltung gehinderte Personen — z.B. Schüler).

Die Herrschaftsverhältnisse werden in den Gehirnen der Herrschenden wie der Beherrschten reproduziert; sie schaffen ein Bewußtsein, das logisch auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen wird; d.h. Demokratie in der Gesellschaft unter Ausschluß der Schule ist nicht möglich.

Da die herrschenden repressiven Abhängigkeitsverhältnisse in den Köpfen reproduziert werden, ist die zweite (oder besser parallele) Voraussetzung der Demokratisierung die Bewußtseinsänderung. Den Beherrschten (aber auch den Herrschenden) muß die bereits Bestandteil des Unterbewußten gewordene Repression bewußt gemacht worden. Erst dann wird der Beteiligte selbst an einer Änderung der Herrschaftsverhältnisse interessiert sein oder sogar versuchen, sie selbst initiativ zu verändern.

Es geht um die Bildung des freien Individuums, das seine Abhängigkeit von der Freiheit der anderen als Verantwortung begreift; anders ausgedrückt: um die Ablösung irrationaler Herrschaftsstrukturen einer Zweiklassengesellschaft durch möglichste Rationalität in einer partnerschaftlich-demokratischen Gesellschaft.

III. Bildungsideale

Wir zehren heute fast durchwegs von überholten Bildungsidealen. Abgesehen von der oft nicht ganz einsichtigen Lehrfächereinteilung und den oft archaisch anmutenden Lehrplänen ist auch ungeklärt, ob die Schule (in der Praxis) nur Institution für Wissensvermittlung ist oder ob sie auch darüber hinaus eine Aufgabe hat, etwa Persönlichkeitsbildung oder Bildung zum verantworteten politischen Handeln.

In ihrer derzeitigen Verfassung ist die Schule kaum zu mehr in der Lage als zur Anreicherung mit Fakten, die bei Prüfungen reproduziert werden, ohne daß dadurch eine intellektuelle Leistung erbracht würde. Der beste Schüler soll sein, wer am besten (d.h. wörtlichsten) die ihm vorgetragenen Fakten reproduzieren kann. Diese Beurteilungskriterien sind zur Feststellung des intellektuellen Standards irrelevant und wirken bei der von Professoren durchaus ernstgenommenen strengen Handhabung tragikomisch.

Zwischen der objektiven Wissensmenge und dem subjektiv Wißbaren besteht heute eine stets wachsende Kluft, die nach sinnvoller Selektion ruft. Bei der rapid steigenden Menge der Fakten kann nur eine echte kritische Denkschulung von Nutzen sein, die auch neue Probleme lösen kann. Ausschlaggebend für Bildung ist nicht die Menge angehäuften Wissens, sondern das Urteilsvermögen, die Fähigkeit zur kritischen Reflexion, das, was übrig bleibt, wenn die Fakten vergessen werden.

IV. Pädagogik oder Politik?

„Schuldemokratisierung“ wird auch im restaurativen Sinn verstanden, als rein pädagogisches Problem (optimale Erreichung des Lehrziels; Aktivierung der Eigeninitiative des Schülers zur Stützung des Systems usw.). Sicherlich muß auch die Pädagogik bei einer Schulreform zu Rate gezogen werden. Aber mit Schuldemokratisierung ist kein pädagogisches (methodisches), sondern ein gesellschaftspolitisches Problem gemeint. Außerdem erscheint eine gewisse Skepsis gegenüber der herrschenden Pädagogik angebracht, deren Systemimmanenz offenkundig ist.

Schuldemokratisierung ist bezogen auf Veränderung der Gesellschaft (und des einzelnen) und nicht als deren restaurative Reform. Schulreform ist ein politisches Problem, dessen Lösung auch nur politisch geschehen kann. Jede unpolitische Lösung und jede Entpolitisierung der Schule ist eine politische Entscheidung, nämlich eine Verstärkung der autoritativen Repression, die zwangsläufig (wenn auch meist unbewußt) gesamtgesellschaftliche Folgen hat.

Adalbert Krims ist Diözesansekretär der Katholischen Studierenden Jugend in Linz, Mitglied von deren gesamtösterreichischem Präsidium sowie von deren Arbeitskreis für Schuldemokratisierung (Leiter: Univ.-Ass. Doktor Klaus Lang, kath.-theol. Fakultät, Univ. Wien, und Dr. Wolfgang Schüssel, Sekretär des Parlamentsklubs der ÖVP).

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