Heft 8/2004
Dezember
2004

Neuer Antisemitismus?

Eine globale Debatte

Gemeinsamer Nenner der siebzehn Au­torInnen bzw. ihrer Beiträge im vorlie­genden Sammelband ist die Behandlung der Frage, ob es denn überhaupt einen „neuen Antisemitismus“ gäbe und wo die Grenzen zwischen legitimer Kritik an der Politik der Regierung Israels und antisemitischen Res­sentiments verlaufen. Ihrem Anspruch eine breite Palette an Positionen zu bieten, in­nerhalb derer seit Jahren in Europa, Israel und den USA über das Thema debattiert wird, können die Herausgeber zwar gerecht werden, zu breit werden sie jedoch da, wo antizionistischen Positionen Platz geboten wird, z.B. von jener amerikanischen Profes­sorin, Judith Butler, die Universitäten aufruft, Investivkapital aus Israel zurückzuziehen um die Regierung wirtschaftlich unter Druck zu setzen, sich positiv auf den faschistischen Ideologen George Sorel bezieht und durch das ständige Wiederholen von der angebli­chen „Tötung zahlreicher Kinder“, natürlich durch Israelis, „der Tötung von Kindern“, dem „Mord an Kindern“ und „dem Palästi­nenserkind, das durch israelisches Gewehr­feuer grausam getötet wird“, usw., traditio­nelle antijüdische Bilder und Motive evo­ziert. Den Deutschen falle es schwer, schreibt sie voller Verständnis, der Kritik „einiger jü­dischen Stimmen“ zu widersprechen, die Ted Honderichs Buch als antisemitisch ein­schätzten, denn schon prasseln die Antise­mitismuskeulen auf die Schädel der Unter­drückten.

Tony Judt’s Hauptthese lautet, dass „die Po­litik der israelischen Regierung (...) weitver­breitete antijüdische Gefühle in Europa und anderswo hervorgerufen hat“. Für Antony Lerman ist der neue Antisemitismus in erster Li­nie „ein Instrument, um jeglicher Kritik an Israel die Legitimität zu entziehen“ und „eine politi­sche Waffe in einer weltweiten Propagan­daschlacht“. Überhaupt fragt man sich, ob der Gründungsherausgeber des Antisemitism World Report diesen auch heute noch liest wenn er meint, dass Juden in der Gegenwart „Freiheit und Erfolg in präzedenzloser Weise“ erleben und vom bedrohlichen Anstieg von Anti­semitismus nichts hören und sehen will. Moshe Zimmermanns proeuropäische und antiamerikanische Erklärungen zum neuen Anti­semitismus runden diesen Teil, dessen Weglas­sen dem Buch nichts an inhaltlich anregender und analytischer Substanz genommen hätte, ab. Letzterer sieht als „Zündstoff für diesen Antisemitismus (...) — und dies dürfte seit dem 11. September 2001 allen deutlich sein — die Hal­tung der USA gegenüber den Ländern der „Dritten Welt“ beziehungsweise den muslimi­schen Gesellschaften.

Ein großes Verdienst des Sammelbandes hingegen ist die Übersetzung von Alain Finkielkrauts Text Au nom de l’autre, der in der vorliegenden Context XXI von Leonardo Cohen rezensiert wird. Andrei Markovits’ hervorra­gender Beitrag über Antiamerikanismus, Anti­semitismus und Antizionismus in Europa be­schreibt die historisch variierenden Haltungen der Eliten zum einen, der breiten Schichten zum anderen, in den USA sowie in Europa, wo gegenwärtig erstmalig eine solide Mehrheit der Elite sowie der Massen antiamerikanische Res­sentiments teilen. Daniel Goldhagen zählt Bei­spiele für die neue Beschaffenheit des aktuel­len Antisemitismus auf: die Symbolik, das Me­dium Internet, das Zentrum und die Wege der Ausbreitung, der Fokus, usw. Sein Anliegen, das „neue“ vom „alten“ klar abzugrenzen, kommt da am deutlichsten zum Vorschein, wo er als wichtigstes Element in seiner Aufzählung die Loslösung vom Christentum sowie von sei­nen Quellen im europäischen Nationsbildungsprozess des 19. Jahrhunderts behauptet. „Doch das Wiedererwachen des Antisemitis­mus in seiner neuen globalisierten Form macht klar, daß der Antisemitismus einmal mehr er­folgreich war — indem er eine Metamorphose durchlief und seine Reichweite erweiterte, bis hin nach Afrika und Asien.“ Goldhagen liegt jedoch auch da falsch, wo er ein weiteres „neu­es“ Merkmal zu sichten glaubt: „(...) erstmals auch in Teilen der Linken“ werde die Dämo­nisierung von Juden als Unterstützer der an­geblich weltweit räuberisch agierenden Juden in anderen Ländern, betrieben. Er verkennt da­bei, dass der moderne Antisemitismus seinen Ursprung auch in der prämarxistischen Linken hat, und nicht etwa wie oft angenommen, von rechts nach links gewandert ist: „Die Linke bis Marx war antisemitisch, als ganzes.“ [1] Der Hi­storiker Gerd Koenen wiederum will im ge­genwärtigen Phänomen einer globalisierten Aus­breitung des Antisemitismus nicht die Wieder­kehr alter Dämonen in neuen Gewändern se­hen, sondern spricht von einer genuinen Neuschöpfung totalitärer Ideologien und Dok­trinen, die auf die veränderte Weltsituation seit 1989 reagieren und den Rahmen dessen, was als „Antisemitismus“ gefasst werden kann, sprengen würden. Welchen Begriff vom Anti­semitismus er dabei hat, bleibt schwammig und unbeantwortet. Ärgerlich beim ansonsten an Informationen reichhaltigen Text ist des Au­tors Hinweis, dass sich die Vernichtung der eu­ropäischen Juden und Jüdinnen nicht als li­nearer Vollzug einer fixen Idee verstehen ließe, ohne darauf hinzuweisen, dass der Streit zwi­schen Intentionalisten und Funktionalisten trotz einer Annäherung der Positionen weiterhin aus­getragen wird. Die „Singularität“ der Shoah herauszuarbeiten bliebe nach wie vor notwen­dig, jedoch sei es problematisch für die Ge­schichtsschreibung, „sich der negativen Teleologie anzuschließen, die sich darin vermeintlich zeigt.“

Auch die weiteren Beiträge von Omar Bartov, Michael Walzer, Ulrich Beck, Thomas Haury, Jeffrey Herf, Ian Buruma, Robert Wistrich, Matthias Küntzel und Dan Diner sind unbedingt zur Lektüre und Auseinanderset­zung empfohlen. Die Herausgeber des Sam­melbands seien zum Abschluss gefragt, ob es tatsächlich keine Autorinnen gibt, die sich mit dem umrissenen Themenkomplex beschäfti­gen, außer Judith Butler, die im Buch eher als Beispiel dafür dient, wie der neue Antisemitis­mus auch im akademischen Bereich in den USA Fuß gefasst hat, denn als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema.

Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. edition suhrkamp: Frankfurt am Main 2004, 336 Seiten, Euro 12,50.

[1Heribert Schiedel in der Context XXI Radio­sendung Nr. 68 „Antikapitalismus von Links und von Rechts. Einige Überlegungen zum Antisemitismus“. Zu hören unter www.contextxxi.at in der Rubrik „Hören“, „Eigenpro­duktionen“.

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