Streifzüge, Heft 87
Februar
2023

Nazdar Gérard!

Auf den wenigen Fotos, die ich von André Gorz kannte, sitzt oder steht er irgendwie im Hintergrund. Er tritt nicht in „Erscheinung“, im Gegensatz zu seinem zeitweiligen Mentor Jean-Paul Sartre, der wie auch Simone de Beauvoir bildbestimmend ist. Nach der Lektüre von „Der Verräter“, den ich im ersten Anlauf stellenweise kaum verstand, rückte die Person dieses Gorz für mich in eine eigenartige Unwirklichkeit. Gleichsam wie eine Romanfigur. Bis ich dann dieser „Figur“ leibhaftig begegnete. Im Sommersemester 1984 hatte ich ein Seminar zu aktuellen Klassentheorien an der Universität des Saarlandes veranstaltet. Die Theorien von Gorz, vor allem sein „Abschied vom Proletariat“ riefen leidenschaftliche Diskussionen hervor. Schließlich meinte ich ohne Häme: da sitzt einer irgendwo auf dem Land und stellt mit seinen Behauptungen alles auf den Kopf. Den möchte ich mal kennenlernen. So erhielt ich den Auftrag, diesen „Typ“ ausfindig zu machen. Ich kontaktierte André Gorz über seinen Verlag. Überraschenderweise erhielt ich nach kurzer Zeit einen Brief von ihm. Er sei gerade umgezogen nach Vosnon in ein kleines Dorf in der Nähe von Troyes, das gar nicht mal soweit entfernt von Saarbrücken sei, und würde sich freuen, mit den jungen Menschen zu diskutieren.

Gorz hatte alles arrangiert, ein Mittagessen im damals noch existierenden Gasthof wenige Schritte von seinem Landhaus entfernt, den Zeitplan für die Diskussion einschließlich einer Erholungspause. Er begrüßte jeden einzelnen von uns auf deutsch und wünschte uns guten Appetit. Er hatte wohl nicht mit den genussfreudigen und laut diskutierenden Studierenden gerechnet. Ich merkte ihm an, dass ihm das Essen sichtlich zu lange dauerte. Gorz drängelte ein wenig. Er wollte endlich diskutieren. Es war ein heißer Sommertag. Gorz wollte nicht auf der Terrasse seines Hauses im Freien „arbeiten“. Er führte uns in die ausgebaute Mansarde seines Hauses. Dort fand unser „Seminar“ statt. Gorz, das bemerkte ich später, brauchte den abgeschlossenen Raum, gleichsam die mönchische Zelle. Auch in den folgenden Jahren saßen Gorz und ich immer in einem mit Büchern und Zeitungen und Zeitschriften überladenen Wohnzimmer. Dorine, seine Frau, verfolgte dann unsere Gespräche von ihrem Platz auf dem breiten Sofa aus. Die Hitze unter dem Dach war während der Diskussionen angestiegen. Wir schwitzten alle. Gorz hatte kein Problem damit. Es war eine erstaunlich lebhafte, in alle theoretischen Richtungen ausufernde Debatte, die Gorz selber leitete und immer wieder zurückführte auf seine Interpretation des marxistischen Ansatzes. Mich überraschte, wie geduldig Gorz selbst auf die emphatisch vorgebrachten Kritiken („Dann lesen Sie doch mal Habermas!“) einging. Nach vier Stunden intensiven Gesprächs mit einer kleinen Pause im Garten, wo viele von uns ermattet im Gras lagen, war, wenn ich das heute so sagen kann, der Einstieg in das Werk von Gorz erfolgt.

Seit damals habe ich die Gorz öfters in Vosnon besucht. Ich bin unmotorisiert, deshalb holte mich André oft mit seinem alten VW Golf am Bahnhof von Troyes ab. Miteinander sprachen wir französisch. Nur gelegentlich, vor allem wenn ein philosophisches besonders hegelianisches Thema anstand, wechselte Gorz ins Deutsche. Er glaubte sich manchmal für sein „nicht mehr so flüssiges Deutsch“ entschuldigen zu müssen. Einmal meinte ich, dass er damit etwas kokettierte. Dann schaute er, den Kopf leicht nach oben hebend auf und lächelte. Überhaupt liebte er hintergründigen Spaß. Als er mitbekommen hatte, dass Claus Leggewie und ich eine Festschrift zu seinem 65. Geburtstag vorbereiteten, meinte er lediglich, er sei doch kein Professor. Als ich ihm die Festschrift überreichte, bedankte er sich hocherfreut, fügte jedoch verschmitzt lächelnd hinzu: „Ihr habt mich jünger gemacht“. Er lachte herzhaft und zeigte mir seinen Personalausweis. Die Mutter habe wegen des notwendigen Aufenthalts in der Schweiz sein Geburtsjahr auf 1924 verlegt.

Wir haben uns sehr schnell geduzt. In allen Gesprächen und allen Briefen war er Gérard. Seine Postanschrift lautete übrigens: Gérard Horst, Vosnon. Er selbst machte sich ein Vergnügen daraus, mich auf den Briefumschlägen, handschriftlich natürlich, mit vollem Titel (Professor Dr.) zu nennen. Er hätte nie Professor sein wollen, sagte er manchmal. In der Tat, er war ein Mann des geschriebenen Wortes. Er scheute sich fast ängstlich, unvorbereitet an einer Diskussion teilzunehmen.

Gorz war stets bestens über die politisch Ereignisse und und sozialen Entwicklungen in Europa und fast der ganzen Welt informiert. Davon zeugten die vielen Zeitungen und Zeitschriften, die Dorine und Gérard täglich lasen. Nicht zuletzt haben ihm viele Freunde und Freundinnen, mit denen er unermüdlich korrespondierte, Informationen zu den verschiedensten Anlässen zugeschickt. Von mir wollte er meine Einschätzung zur deutschen Politik hören. Als ich mal erwähnte, mit dem Redeschreiber von Oskar Lafontaine befreundet zu sein, spitzte Gérard die Ohren. Er wollte zu gerne wissen „wie dieser Oskar tickt“. Er hatte gewisse Hoffnungen auf ein von Lafontaine initiiertes Linksbündnis. Seine Enttäuschung über Oskar fasste Gorz schließlich in einem Satz zusammen „Was sind das nur für Menschen!“

Nur ausnahmsweise erwähnte Gorz, wer seine Korrespondenten sind oder wer ihn besuchte. Als er sich mit Fragen der Wissensgesellschaft beschäftigte, hatte er brieflichen Kontakt u.a. mit Stefan Meretz. Er setzte sich mit ihm sehr intensiv über Wissenskommunismus und die Wertkritik sowie das Projekt Oekonux auseinander. In fast jugendlicher Begeisterung schrieb er mir damals: „Leo, ich habe jetzt einen Freund, einen wirklichen Freund in Berlin“. Er bedauerte außerordentlich, die Gruppe um Meretz nicht früher gekannt zu haben. Mehr und mehr spürte ich, dass Gérard nicht an einer einseitigen Wissenschaftsbeziehung interessiert war, vielmehr an einem freundschaftlichen Verhältnis. Als er seine letzte Pariser Wohnung definitiv räumen mußte, trafen wir uns dort. Er zeigte mir, welche Teile seiner Bibliothek er nicht nach Vosnon mitnehmen wollte. „Kannst du den Rest übernehmen?“ Dann gab er mir den Wohnungsschlüssel.

Meine ursprüngliche Angst vor diesem „Denker“ schwand zunehmend. Nicht zuletzt auch deswegen, weil er mich nie meine sprachlichen oder theoretischen Schwächen und Unkenntnisse spüren ließ. Im äußersten Fall entschuldigte er mich und meinte: „Du hast das wohl vergessen.“ Zweimal glaubte ich, dass er unsere Freundschaft auf die Probe stellen wollte. Irgendwann bot Gérard mir an, ab und zu seine Texte, an denen er gerade arbeitet, gegenzulesen. Nicht ahnend, welche Belastung damit auf mich zukommt, sagte ich zu. Kurze Zeit später erhielt ich ein recht dickes und umfangreiches, maschinengeschriebenes Manuskript. Gorz wünschte sich nicht nur einen Kommentar, vielmehr eine genaue Auseinandersetzung mit seinen Thesen. Kaum eine Woche später fragte er an, wie weit ich mit dem Text sei. Ich hatte das Konvolut auf die Seite gelegt und nur flüchtig überflogen. Mitten im Semester, mit Lehrveranstaltungen, Prüfungen, Sitzungen und Gutachten hatte ich dafür keine Zeit. Ich erklärte Gorz das. Missgelaunt nahm er das zur Kenntnis. Das zweite Mal kam Gérard unvermittelt mit der Idee, die ihn eine Zeitlang umtrieb, nämlich eine intellektuelle Biographie von ihm. Ob ich nicht Lust hätte, so etwas zu schreiben? Er sei ja noch am Leben und könnte mir bei allem helfen. Außerdem stünden mir alle Unterlagen zur Verfügung. Und vor allem könnte ich im Haus arbeiten und leben. Auch in diesem Fall nahm Gérard mit traurigem Gesicht Abstand, mich weiter zu drängen. Er akzeptierte meinen Entschluss vielleicht auch deshalb, weil in der Zwischenzeit meine französische Frau Josette an Krebs erkrankt war und ich sie deshalb nicht für längere Zeit allein lassen konnte. Dorine hatte ja ebenfalls mit der Krebserkrankung zu kämpfen. Der Krebs vertiefte unsere Freundschaft. Gérard bot mir finanzielle Hilfe an, sollte ich sie brauchen.

Klar, dass die Krankheiten von Dorine und Josette unsere Gespräche mehr und mehr beherrschten. Gérard suchte schon seit langem nach alternativen Möglichkeiten der Heilung. Er besaß eine Reihe von Informationen über die bei François Mitterand angewandten Methoden. Es müßte doch zumindest Wege zur Schmerzlinderung geben. Eines Tages hatte er Josette überredet, zusammen mit Dorine zu einem „Heiler“ zu fahren, von dem er Erstaunliches, ja fast Wundertätiges gehört habe. Josette hatte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr die Hoffnung, den Krebs zu überleben. Das sagte sie aber den beiden nicht. erst nach der Seance. Gérard war wie verzweifelt: „Josette glaubt nicht mehr daran“. Im April 2000 starb Josette. Gérard schrieb mir, er könne mich nicht trösten. Welchen Trost sollte es geben, dass wir leben und sterben? „Man kann sich nicht trösten, die menschliche Bedingung zu realisieren.“ Was wir tun können, ist einzig und allein zu weinen. Und er gestand, dass, wenn ihm zu weinen zumute ist, er die 21. Kantate von Bach („Ich hatte viel Bekümmernis“) auflegt. Das Sopransolo „Seufzer, Tränen, Kummer, Not“, das sich zu einem Schrei steigert, treibe ihm Tränen in die Augen und jage ihm jedesmal einen Schauer ein.

Ab diesem Jahr hat Gorz seine schriftstellerischen Aktivitäten stark reduziert. Dorine’s Zustand verschlechterte sich. Etwas Erleichterung suchten sich die beiden in einem Kuraufenthalt im Thermalbad Ragazz (Schweiz) zu verschaffen. Von dort kam einmal eine Karte mit dem Satz, der so traurig klang: „Die Enten vom letzten Jahr sind auch noch da.“ Unser Briefwechsel wurde spärlicher. Die Besuche auch. Es blieb nicht mehr viel Zeit für Gespräche. Gérard intensivierte seine nächtlichen Arbeiten, um die angefangenen Texte zu Ende zu bringen. Übrigens verfasste er mit nur wenigen Ausnahmen alle Briefe handschriftlich und immer in ihrer beiden Namen. Üblicherweise musste man die Besuche bei ihnen vorab anmelden.

Warum ich eines Tages unangemeldet nach Vosnon fuhr, weiß ich nicht mehr. Dorine ging es offensichtlich etwas besser. Als ich um das Haus herumschlich, saß sie auf der Terrasse. Als sie mich erblickte, bedeutete sie mir, leise zu ihr zu kommen. Gérard sei im Gemüsegarten. Kurz danach kam Gérard mit einer riesigen Zuccini in der Hand aus der Gartentür. Er tat so, als sei er überhaupt nicht überrascht. Übers eingefallene Gesicht strahlte er und sagte fast beiläufig: „Tiens Leo, was machst du denn hier? Kommt, wir lassen uns mein Gemüse schmecken.“ Gérard hatte den Gemüsegarten wie überhaupt die parkähnliche Anlage um das Haus eigenhändig angelegt. Dorine und er waren Vegetarier, machten aber zuweilen eine Ausnahme. In der ersten Zeit unserer Beziehung fuhren wir zweimal, wenn es Dorine besser ging, in ein Restaurant in der Nähe. Beide bestellten wie ich Lammfleisch. Gérard bestand auch darauf, dass ich meinen gewohnten Wein trank. Es waren zwei fröhliche Abende. Gérard akzeptierte lachend, wenn ich ihn meinen „väterlichen Freund“ nannte. Bei einem meiner ersten Besuche hatte ich ihm eine Flasche Saarwein mitgebracht. Irgendwann zeigte er sie mir, vergraben im Sand seines gewölbeartigen Kellers. Mit seinem verschmitzten Lächeln meinte er: „Für später“.

Als sich Dorines Zustand zunehmend verschlechterte, sagte Gérard die meisten Besuche ab. Gerne wollte er mit mir telefonieren. Doch ich litt unter einer fortschreitenden Schwerhörigkeit, die ich auch nicht durch beidseitige Hörgeräte korrigieren konnte. Und Gérard hatte sowieso eine ausgesprochen leise Stimme, so dass wir uns am Telefon kaum verstehen konnten. Als ich ihm brieflich meine Beziehung zu meiner neuen tschechisch-slowakischen Partnerin mitteilte und dass ich jetzt die meiste Zeit in Brno/Brünn wohne, kamen postwendend herzliche Glückwünsche. Er vermerkte zudem, dass sein Großvater in Brno ein Fuhrunternehmen besaß. Ob er ihn dort besucht hatte, erfuhr ich nicht. Aber einige tschechische Wörter seien ihm in Erinnerung geblieben. Er unterschrieb den Brief mit dem tschechischen Servus „Nazdar Leo“. Einige Wochen vor ihrem Tod kam eine Briefkarte mit der letzten Nachricht der beiden. „Wir werden Dir nicht mehr schreiben, aber denken nicht weniger an alle unseren Gespräche.“

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