FORVM, No. 90
Juni
1961

Nach Jahr und Tag

In einer dieser drei Formen mag ein Schriftsteller seine Frist überdauern:

Erstens wird sein Werk mit jeder neuen Generation wieder jung.

Zweitens werden sein Leben und sein Werk zu einem Musealstück, das Lehrbücher langweilig-respektvoll beschreiben und Anthologien dekorativ einschreinen.

Und drittens gibt es die fortgesetzt erneuerte Gegenwart einer Vergangenheit, das merkwürdige Überleben der Persönlichkeit und ihrer Legende.

Von Voltaire liest die Jugend „Candide“. Man kennt Sammlungen seiner Briefe, vielleicht auch einige seiner Cochonnerien über die Jungfrau von Orléans, kaum mehr. Seine Bedeutung für Bewunderer und Feinde ist losgelöst von seinen Werken. Der leuchtende Widerschein eines längst erloschenen Lichts macht sie allen sichtbar: sie liegt in der Nachwirkung eines Mannes, der seine Zeitgenossen ungewöhnlich angezogen und abgestoßen hat, dessen Wesen und Tun sie gleichermaßen beeinflußt hat. Man könnte in diesem Zusammenhang auch Erasmus von Rotterdam nennen, ja selbst Goethe, dessen Persönlichkeit vielleicht mehr bewirkt, als sein Werk allein es heute vermöchte.

Jene, die Karl Kraus zu seinen Lebzeiten grenzenlos bewunderten, jene anderen, die ihn anfeindeten und ihn in nichts gelten lassen wollten — sie alle blieben bis zum Ende unfähig, sein Werk nach dessen Wert zu beurteilen, nicht auf Grund ihrer Stellung zum Verfasser.

Wird Karl Kraus überleben wie Voltaire? Ehe man diese Frage beantwortet, sollte man bedenken, daß Erasmus so gut wie Voltaire Herolde eines Siegs von umfassender Bedeutung gewesen und es Jahrhunderte nach ihrem Tod geblieben sind. Welchen Geistes Sieg kündigten das Werk und das Wirken Karl Kraus’ an?

Karl Kraus erreichte den Höhepunkt seines Schaffens um die Zeit, als das Habsburgerreich nach hundertjährigem Sterben endgültig zerfiel. Mehr noch als zuvor war er fortab der Schriftsteller Österreichs und keineswegs Deutsch-Österreichs.

Swift hatte Erben. Voltaire hatte die werdende Nation hinter sich und vor sich. Karl Kraus’ Österreich ist vor ihm gestorben. Die ihn in seiner Heimat überlebt haben, sind nicht seine Erben. Doch gibt es einen neuen, belangreichen Sachverhalt: seine Bücher werden in schneller Folge neu aufgelegt. Sie finden, scheint es, viele verständnisvolle, dankbare Leser im gesamten deutschen Sprachbereich; auch unter den Jungen, die erst jetzt erfahren, wer er gewesen ist.

Es gibt, glaube ich, keine Zeile von Karl Kraus, die ich nicht gelesen hätte — häufig mit Begeisterung, seltener mit Befremden und stets mit wachster Aufmerksamkeit. Ich war niemals das, was man seinerzeit einen „Krausianer“ nannte. Der Satiriker interessierte mich weniger als der Polemiker, und dem Polemiker folgte ich nur, wenn er allgemeine Erscheinungen, Institutionen, Machthaber und Machtgruppen angriff. Seine Verspottung von Personen amüsierte mich, aber ich wollte so nicht amüsiert sein, ich wollte nicht zu den leichtfertigen Lachern der Galerie gehören, die nur darauf warten, daß die Helden der Fehde einander wehtun und sich selbst dabei schändlich entblößen. Diesem Gelächter gegenüber war ich mißtrauisch und bin es geblieben. Der Mensch ist anderes und unvergleichlich mehr als alle seine Taten und Meinungen, als seine Irrtümer und seine Unterlassungen. Und der Polemiker ist darin totalitär, daß er unausweichlich dazu gedrängt wird, den Menschen auf seine Schwächen zu reduzieren: auf seine Meinung, auf seine Verfehlung, auf seine uneingestandenen Blößen.

Vielleicht überzeugte mich Karl Kraus als Satiriker auch deshalb nicht immer, weil ich aus eigener Erfahrung feststellen konnte, daß die Zeitungen anderer Länder nicht besser waren als die österreichischen. Ich wußte zum Beispiel, daß die „Neue Freie Presse“ alles in allem eine eher gute Zeitung war und als internationales Informationsorgan rund 95% aller ausländischen Presseerzeugnisse übertraf.

Auch die entwertenden Äußerungen, mit denen Karl Kraus zur zeitgenössischen deutschen Literatur Stellung nahm, erschienen mir gar zu oft fragwürdig, irrig, unannehmbar. Das grauenhafte Wortspiel „Sterilke“ kennzeichnet diese Haltung im Negativen, ebenso wie seine Begeisterung für Frank Wedekind seine Abwegigkeit im Positiven demonstriert. Man weiß, daß er die Romanliteratur mit Geringschätzung zurückgewiesen und sich gerühmt hat, daß er sie nicht zu lesen brauche, um sie zu verurteilen.

Aber es gab auch den prophetisch-pathetischen, den kämpferischen Moralisten Karl Kraus, den Autor der „Chinesischen Mauer“, der „Letzten Tage der Menschheit“ und vieler großartiger Essays. Es gab den Einzelgänger, der nach dem 15. Juli 1927 in Wien jenes berühmte Plakat anschlagen ließ, mit dem er den Polizeipräsidenten Schober aufforderte, abzutreten. Es gab den unbestechlichen Intellektuellen, der uns, die damals jung waren, zumindest in einer Hinsicht als absolutes Vorbild galt: Karl Kraus brachte immer genau den Mut auf, welcher vonnöten war, um auch in der schwierigsten, der verlockendsten oder bedrohlichsten Situation geistigen Anstand zu bewahren und kämpferisch zu bewähren. Mochte er in noch so vielen Polemiken seiner verletzten Empfindlichkeit Worttempel bauen — darauf kam’s uns am Ende nicht an. In den wahrhaft ernsten Dingen erlag er keiner Schmeichelei, keiner Verführung und erst recht keiner Drohung. Wo immer es sich um Wesentliches handelte, fand er unfehlbar ein Pathos, das mir heute so bewundernswert erscheint wie damals.

Die Menschen unserer Zeit haben grenzenlosen physischen Mut an den Tag gelegt: im Kämpfen und im Leiden, im Töten und im Sterben. Aber der geistige Mut nimmt immer mehr ab. Auch deshalb denke ich oft in tiefer Dankbarkeit an Karl Kraus. Er hat uns gelehrt, den geistigen Mut zu schätzen und in uns zu entwickeln.

Manchmal versuche ich mir vorzustellen, was es wohl bedeuten mag, heute jung zu sein in Wien. Und manchmal lockt es mich dabei zu dem Ausruf: „Arme Kinder! Ihr habt keinen Karl Kraus.“

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