FORVM, No. 97
Januar
1962

Milenas Nachruf auf Kafka

Mit einem Kommentar von Reuben Klingsberg

Am 6. Juni 1924 brachte die Prager tschechische Tageszeitung „Národny Listy“ in Form einer „Notiz vom Tage“, also ohne eigene Titelzeile, einen Nachruf auf Franz Kafka. Er stammte von Milena Jesenská, der langjährigen Freundin Kafkas, über deren außergewöhnliche Persönlichkeit seither aus Büchern, Briefsammlungen und Aufsätzen vieles bekannt geworden ist (vgl. u. a. den Beitrag „Milena in Ravensbrück“ von Margarete Buber-Neumann, FORVM VI/66). Kenntnis und Text des Nachrufs verdanken wir dem Kafka-Archiv des in Jerusalem lebenden Philosophen Dr. Felix Weltsch, auf dessen Schrift „Religion und Humor im Werk Franz Kafkas“ (Herbig-Verlag, Berlin) wir schon mehrfach hingewiesen haben. Der Nachruf, der eine der ersten und — in all seiner Kürze — eine der kompetentesten Würdigungen des frühverstorbenen Genies darstellt, erscheint hier erstmals in deutscher Sprache.

Franz Kafka

Vorgestern starb im Sanatorium Kierling in Klosterneuburg bei Wien Dr. Franz Kafka, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag gelebt hat. Es kannten ihn hier nur wenige, denn er war ein Einsiedler, ein wissender, vom Leben erschreckter Mensch. Er litt bereits jahrelang an einer Lungenkrankheit, und obwohl er sie behandeln ließ, hat er sie doch auch bewußt gehegt und geistig gefördert. „Wenn die Seele und das Herz die Bürde nicht mehr ertragen, dann nimmt die Lunge die Hälfte auf sich, damit die Last wenigstens einigermaßen gleichmäßig verteilt sei“, schrieb er einmal in einem Brief, und so verhielt es sich auch mit seiner Krankheit. Sie verlieh ihm ein ans Wunderbare grenzendes Feingefühl und eine geistige Lauterkeit, die bis zum Grauenerregen kompromißlos war; und umgekehrt war er es, der Mensch, der seiner Krankheit die ganze Last seiner geistigen Lebensangst auflud. Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, aber die Bücher, die er schrieb, waren grausam und schmerzhaft. Er sah die Welt voll von unsichtbaren Dämonen, die den schutzlosen Menschen bekämpfen und vernichten. Er war zu klarsichtig, zu weise, um leben zu können, und zu schwach, um zu kämpfen: aber das war die Schwachheit der edlen, schönen Menschen, die zum Kampf gegen die Angst, gegen Mißverständnisse, Lieblosigkeiten und geistig Unwahres nicht fähig sind, die von vornherein um ihre Ohnmacht wissen, sich unterwerfen und so den Sieger beschämen. Er verfügte über eine Menschenkenntnis, wie sie nur den einsam Lebenden gegeben ist, deren hochgradig empfindliche Nerven schon an einem bloßen Mienenspiel den ganzen Menschen hellseherisch erfassen. Seine Kenntnis der Welt war außergewöhnlich und tief. Er selbst war eine außergewöhnliche und tiefe Welt. Er schrieb die bedeutendsten Bücher der jungen deutschen Literatur. Sie enthalten, in untendenziöser Form, den Kampf der Generationen in der heutigen Zeit. Sie besitzen eine wahrhafüge Nacktheit, die sie auch dort noch naturalistisch erscheinen läßt, wo sie in Symbolen sprechen. Sie haben die trockene Ironie und das empfindsame Sehertum eines Menschen, der die Welt in einer so überdeutlichen Helle erschaute, daß er es nicht zu ertragen vermochte und sterben mußte; denn er wollte keine Zugeständnisse machen, um sich wie die anderen in irgendwelche wenn auch noch so edle intellektuelle Irrtümer zu retten. Dr. Franz Kafka schrieb das Fragment „Der Heizer“ (tschechisch erschienen in Neumanns „Červen“); es bildet das erste Kapitel eines schönen, bisher noch unveröffentlichten Romans. „Das Urteil“, in dem der Konflikt zweier Generationen gestaltet ist. „Die Verwandlung“, das stärkste Buch der modernen deutschen Literatur. „Die Strafkolonie“, und die Skizzen „Betrachtung“ und „Landarzt“. Der letzte Roman, „Vor dem Gericht“, liegt schon seit Jahren druckfertig im Manuskript vor; er gehört zu jenen Büchern, deren Lektüre einen dermaßen weltumfassenden Eindruck hinterläßt, daß jeder Kommentar überflüssig wird. Alle seine Werke schildern das Grauen geheimnisvoller Mißverständnisse und unverschuldeter Schuld bei den Menschen. Er war ein Mensch und Künstler von so skrupulösem Gewissen, daß er auch dort noch wachsam blieb, wo die anderen, die Tauben, sich bereits sicher fühlten.

Milena Jesenká

Milenas Nachruf beginnt mit dem Wort „vorgestern“. Aber das traf, als er am 6. Juni 1924 erschien, nicht mehr zu. Kafka war „vorvorgestern“ gestorben, am 3. Juni 1924. „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.“ So lautet ein anderer Anfang, und er könnte von Kafka sein. (Er ist von Albert Camus: „Der Fremde“.)

Dr. Franz Kafka, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag gelebt hat ...

Wie seltsam eine solche Formulierung heute auch anmuten mag — drei Tage nach Kafkas Tod war sie durchaus am Platze, zumal in einer tschechischen Tageszeitung, deren Leser (mit wenigen Ausnahmen) den Namen des Dichters noch nie gehört haben dürften. Damals mußte noch gesagt werden, daß Kafka ein Doktor war, der in Prag gelebt hat. Heute bereits beruft sich diese Stadt auf Kafka, wenn sie vor der Welt prunken will (wie etwa mit dem Bilderbuch „Franz Kafka lebte in Prag“, das 1960 deutsch erschienen ist). Der Weltruhm, den Franz Kafka heute genießt, läßt alles und jeden aus seiner Umgebung nur noch in der Beziehung zu Kafka gelten. Auch Frau Jesenská-Pollak wird als „Milena“ weiterleben.

Daß dieser bescheidenste, bis zur Selbstverleugnung rücksichtsvolle Mensch, der seinen Chef aus tiefster Seele bewunderte, weil der so schnell Schreibmaschine schreiben konnte, und dem an Milenas Gatten besonders dessen „Eigenheit gefiel, in jedem Kaffeehaus am Abend einigemal angerufen zu werden“ —, daß dieser Dr. Franz Kafka, der Lebensuntüchtigkeit liebster Sohn, einmal eine so identitäts-usurpierende Wirkung ausüben würde, hätte er selbst sich ganz bestimmt nicht träumen lassen. Oder vielleicht wußte er sogar das, als er die folgenden prophetischen Sätze niederschrieb:

Ein Käfig ging einen Vogel suchen ...
Wer nicht sucht, wird gefunden ...
Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden ...

(„Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“)

Die 1961 erschienene „Bibliographie zur Kafka-Literatur“ von Harry Jaerv umfaßt nicht weniger als 5000 Titel. Dr. Franz Kafka, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag gelebt hat, verfügt 37 Jahre nach seinem Tod über eine größere Zahl von Kommentatoren und Interpreten, als er zu seinen Lebzeiten Leser hatte.

Wenn die Seele und das Herz die Bürde nicht mehr ertragen, dann nimmt die Lunge die Hälfte auf sich, damit die Last wenigstens einigermaßen gleichmäßig verteilt sei.

Offenbar war Milena so kurz nach der Nachricht von Kafkas Tod weder in der Verfassung noch in der Lage, aus seinen Briefen — sie füllen, von Willy Haas (noch unvollständig) publiziert, 270 Buchseiten — jene Stelle herauszusuchen, die ihr bei der Niederschrift des Nachrufs vorschwebte. Deshalb holt sie sich den betreffenden Passus aus ihrem Gedächtnis, so wie er dort aufbewahrt war. In dem Brief aber hieß es:

... /ich/ denke nur an die Erklärung, die ich mir damals für die Erkrankung in meinem Fall zurechtlegte und die für viele Fälle paßt. Es war so, daß das Gehirn die ihm auferlegten Sorgen und Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Es sagte: ‚Ich gebe es auf; ist hier aber noch jemand, dem an der Erhaltung des Ganzen etwas liegt, dann möge er mir etwas von meiner Last abnehmen und es wird noch ein Weilchen gehn.‘ Da meldete sich die Lunge, viel zu verlieren hatte sie ja wohl nicht. Diese Verhandlungen zwischen Gehirn und Lunge, die ohne mein Wissen vor sich gingen, mögen schrecklich gewesen sein.

(Briefe an Milena, S. 13)

Daß es, laut Kafka, sein Gehirn war, das der Lunge die Last aufgebürdet hat, geht auch aus einem andern Brief an Milena hervor:

Die Lungenkrankheit ist nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit.

(A.a.O., S. 50)

Aus Geist und Hirn wird bei Milena Seele und Herz ...

Die Stelle ,„Er war scheu, ängstlich ...“ aus dem Nachruf hätte auch mit „Er war schüchtern, befangen, furchtsam oder zaghaft“ übersetzt werden können. Aber da Kafka in einem Brief an Milena geschrieben hatte, daß sie eben diese Eigenschaften mit ihm teile, dürfte gerade jene Lesart gemeint sein, die hier gleichsam ins deutsche Original rückübersetzt wurde:

Eine Eigenschaft haben wir, glaube ich, gemeinsam, Milena: So scheu und ängstlich sind wir.

(Briefe an Milena, S. 41)

Am Schluß des Nachrufs sind Kafkas Werke — „Der Heizer“ ausgenommen — mit ihren deutschen Titeln bezeichnet. Bei der Stelle: „Der letzte Roman, Vor dem Gericht“ scheint eine Verwechslung mit der Parabel „Vor dem Gesetz“ vorzuliegen; es dürfte sich um den posthum veröffentlichten Roman „Der Prozeß“ handeln. Zufolge Rudolf Hemmerles Kafka-Bibliographie erschien „Der Heizer“, von Milena Jesenská übersetzt, in der tschechischen Zeitschrift „Kmen“ (Jahrgang 1920, Nr. 6) und füllte die ganze Nummer der Zeitschrift. Daß der „Heizer“ in Milenas Übersetzung auch bei Neumann in der Edition „Červen“ erschienen sei — und zwar zusammen mit „Urteil“, „Verwandlung“ und „Betrachtung“ —, wird von Max Brod, der auf Milenas Wunsch eine Vorrede schrieb, als unsicher angesehen (Brod: „Franz Kafka“, S. 290). Jedenfalls ist das Buch in keiner der hier genannten Bibliographien erwähnt. Milena hätte im Auftrag des Verlegers Neumann die Vorrede selbst verfassen sollen, befand sich aber, als der Auftrag sie erreichte, in einem Zustand tiefster Verzweiflung über den Bruch mit dem bereits schwerkranken Kafka. Kafka hatte ihr geradezu befohlen: „Nicht schreiben und verhindern, daß wir zusammenkommen. Nur diese Bitte erfülle mir im stillen, sie allein kann mir ein Weiterleben ermöglichen, alles andere zerstört weiter.“ Und an anderer Stelle: „Bitte nicht mehr schreiben.“ In ihrer trostlosen Zerrissenheit war Milena jenem Verlegerauftrag nicht gewachsen; ein Brief an Max Brod, wiedergegeben auf S. 289 der Kafka-Biographie, gibt ihrer Qual erschütternden Ausdruck:

Jesus Christus, ich soll über ihn für die Leute schreiben —?

Kafka hatte ihr zum Abschied versprochen:

Ich nehme keinen Abschied. Es ist kein Abschied, es wäre denn, daß die Schwerkraft, die lauert, mich ganz herabzieht. Aber wie könnte sie es, da Du lebst.

(Briefe an Milena, S. 255)

Die Schwerkraft war stärker. Kafka konnte sein Versprechen nicht halten. Er mußte Abschied nehmen von Milena und vom Leben, und Milena schrieb den Nachruf. Für die Leute.

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