FORVM, No. 289/290
Januar
1978

lm Krisensumpf

3 Jahre Krise, 10 Jahre Neue Linke

Aike Blechschmidt hat mit seiner Krisenprognose, die er vor zwei Jahren im NEUEN FORVM publizierte, [1] recht behalten. Er prophezeite keinen Kladderadatsch, sondern eine Summe von Teilkrisen, worauf die Regierungen mit flexibler Staatsintervention antworten würden. Dafür prägte er das inzwischen geflügelte Wort vom „Feuerwehrreformismus“.

Ausgehend vom vitalen Interesse der Multis an einem funktionierenden Weltmarkt hält Blechschmidt Branchenkrisen, regionalen Zerfall, zurückbleibende Infrastrukturteile, Lücken im Schul- und Gesundheitswesen, Stadtquartierelend, tote Umweltzonen für die wesentlichen Erscheinungsformen, in denen sich heute die Schwierigkeiten der Kapitalverwertung manifestieren. Die sozialen Konflikte tragen in der Krise mehr als früher den Stempel der Vereinzelung: die den Betrieb, die Branche, die Region übergreifenden Momente, welche auf eine Klassenfront drängen würden, sind weniger stark ausgeprägt als in früheren Globalkrisen.

Das gegenwärtige Krisenmanagement des Staates will diese Konflikte isoliert, „insulär“ halten, notfalls durch „Feuerwehrreformen“. Blechschmidt versucht weiterhin einen Weg zu finden, der aus dem Sumpf der insulären Konflikte, aus der schleichenden Krise des Kapitalismus und der offenen Defizite der Linken herausführt. In diesem Sinne übt er auch linke Selbstkritik.

Die Vokabel Feuerwehrreformismus schien vor allem auf die BRD und die USA zu passen. Länder wie Österreich und Schweden schienen so etwas nicht notwendig zu haben. Inzwischen ist das anders geworden, die Krisenwelle hat auch die Insel der Seligen überspült. Gegenwärtig holen diese Länder nach, was 1975 mit fiskalischen und anderen Manipulationen hinausgeschoben worden war. Kreiskys Rechnung z.B., in der Krise ins Volle zu gehen und die auf die Zukunft gezogenen Wechsel mit Hilfe einer exportförderlichen Weltkonjunktur einzulösen, ging nicht auf. Stagnation statt Aufschwung ist der großen Krise 1975 weltweit gefolgt. Damit blieb auch jene Warenknappheit aus, welche den inzwischen teuer gewordenen Austria-Exporten Absatzchancen einräumen sollte; ebenso jene westeuropäischen Lohnerhöhungen, aufgrund derer alte und neue Touristenströme nach Österreich hätten fließen sollen.

Per saldo hat Weltökonom Schmidt doch nur die westdeutschen Hausinteressen vertreten, als er Österreich damals das Durchstarten in der Krise empfahl. Heute muß Kreisky nachvollziehen, was ursprünglich Vor- und Gegenleistung der BRD sein sollte: sparen, sparen, sparen. [3]

BRD: Fiskusfeuerwehr, zweiter Einsatz

Zu Hause hat Schmidt alle Hände voll zu tun, um die Krisentendenzen einzudämmen. Mit einer abermaligen Steuer„reform“ erlebt die BRD die zweite Phase fiskalischer Manipulationen seit der Krise 1974. Was war geschehen? Was hat das Bonner Krisenmanagement durcheinandergebracht? Freiwillig ist die zweite Steuerreform ja nicht erfolgt. [4]

1976 war zunächst alles gut angelaufen. Das Produktionsplus konnte sich sehen lassen, und es schlug sich — das war der Sinn der Sache! — in einer großen Gewinnzunahme nieder. Die Lohneinkommen dagegen hielten geradeso mit der Geldentwertung Schritt. Auch die zweite Lohnrunde nach der Krise, die von 1977, endete zunächst mit einem Erfolg des Kapitals. Die Gewinne wären immerhin um die Hälfte mehr gestiegen als die Löhne, wenn alles so gegangen wäre, wie man es Ende 1976/Anfang 1977 einschätzte. [5]

Im dritten Quartal 1977 wurde offenbar, daß man sich gewaltig verkalkuliert hatte. Das Produktionsplus fiel nur halb so stark aus wie erwartet. Auch der Umfang der Arbeitsstunden und damit die zu zahlende Lohn- und Gehaltssumme — einschließlich des tarifvertraglichen Plus — blieb zurück. Der gleiche Wirkmechanismus, der 1976 einen kräftigen Gewinnaufschwung brachte, verhinderte das 77er Gewinnplus: infolge des schmalen (damals: des starken) Wachstums der Produktion wuchsen die Lohnkosten leicht überproportional (damals: unterproportional).

Dahinter stehen als Hauptposten mehr Lohnsteuern und zunehmende Sozialversicherungsbeiträge. Hinzu kamen Gewinnsteuernachzahlungen für 1976. Das alles zusammen ergab ein leichtes Fallen der Gewinne statt eines starken Steigens. [6]

Was ist die Ursache dieses Debakels? Versagt hat vor allem der Export. Statt um acht Prozent nahm der Welthandel nur um fünf Prozent zu. Und statt, wie früher, überproportional beteiligt zu sein, konnte die BRD nur drei Prozent mehr an Waren und Dienstleistungen exportieren. [7]

Arznei wird Gift

Warum? Ein echter weltweiter Aufschwung ist ausgeblieben, d.h. ein solcher, der von einem Investitionsboom (Investitionsgüter bilden den Hauptexport der BRD) getragen worden wäre. [8] Forscht man weiter, so stößt man

  • auf die ungelösten Inflationsprobleme in etlichen Ländern (England, Italien, Frankreich u.a.). Wegen anhaltender Klassenspannungen besteht hier nach wie vor die Gefahr einer davongaloppierenden Inflation für den Fall eines stabilen Wirtschaftsaufschwungs. — Weiters
  • auf die Verschuldung im Außenhandel vor allem in der Dritten Welt und im Ostblock, auf die trüben Aussichten in der Schuldentilgung, damit weniger Kredite seitens der Banken und der anderen großen profitorientierten Geldgeber. — Und schließlich fällt der Blick
  • auf die in denselben Ländern herangereiften Produktionskapazitäten der Leichtindustrie (z.B. Textilien) und im Grundstoffbereich (Stahl, Chemie, Fasern); Kapazitäten, die wegen modernster Produktionstechnik, aber auch infolge billiger Löhne und Subventionen überdurchschnittlich konkurrenzfähige Waren ausstoßen. Diese Waren überschwemmen die Märkte in Westeuropa, Amerika und anderen hochkapitalistischen Ländern, wo Pleiten und Stillegungen gerade „Entlastung“ verschaffen sollen. [9]

Vor 1975 wirkten diese drei Faktoren krisenaufschiebend, nun verlängern sie die Krise. Mit anderen Worten: Die Widersprüche der kapitalistischen Weltwirtschaft aus der inflationären Vor-Krisenzeit drücken die Verwertungschancen der Gegenwart.

Dazu kommt, daß sich aus der längerfristig zu erwartenden Rohstoffverknappung, den Energieproblemen und den Umweltfragen Standortverschiebungen ergeben, welche die BRD und andere kapitalistische Länder benachteiligen. All das dämpft die längerfristigen Absatzerwartungen.

Das herabziehende Gewicht dieser depressiven Faktoren zeigt sich darin, daß der kräftige Aufschwung in den USA nicht — wie schon oft — genügt, um auch in den anderen Ländern eine echte Konjunktur anzustoßen. [10]

Staatsausgaben und privater Konsum nahmen in der BRD 1977 nur wenig zu — ganz wie geplant. In der Hauptsache sollten ja die Investitionen, sprich die Kapitalakkumulation wachsen; und zwar ohne eine starke Inflationswelle in Gang zu setzen, d.h. ohne sich inflationär gegenüber staatlichem und privatem Konsum Platz suchen zu müssen, wie es in den letzten Aufschwüngen in der BRD der Fall war. Die exportbedingte Gewinnspritze sollte — wie eh und je — die Weltmarktimpulse verstärkt auf die BRD-Wirtschaft wirken lassen. Nun, da der Export, damit die Gewinne und somit auch die Investitionen ausblieben, wirkte auch der absichtlich zurückgehaltene Massen- und Staatskonsum depressiv. Was eine Aufschwungstütze hätte werden sollen, wurde so zu einer Abschwungkraft. [11]

Damit ist mehr ins Wasser gefallen als nur ein Jahr Akkumulation. 1977 war das kritische Jahr, in dem sich entschied, ob erneut stärkere Wachstumsraten erreicht werden können oder nicht. Nun ist es recht wahrscheinlich geworden, daß mehr als zwei Prozent für die nächsten Jahre nicht drin sind. Wann sich wieder eine Chance bietet, bleibt offen.

Was sich aber ergibt, wenn das Wachstum nicht spürbar über zwei Prozent hinauskommt, wissen wir aus einer Hochrechnung eines Instituts in Hannover: zweieinhalb Millionen Arbeitslose gegen Ende der achtziger Jahre. [12] Jeder zehnte arbeitslos, das Sozialsystem muß überwiegend durch Steuern finanziert werden, Geld für Infrastruktur ist nicht mehr vorhanden, Versorgungsdefizite usw. Politisch heißt das: insuläre Konflikte ohne Ende.

1978: Steigende Löhne auf Kosten der Gewinne?

Schnell hat die Regierung in Bonn schon reagiert, als die fatale Entwicklung mehr und mehr zutage trat. Innerhalb weniger Wochen stand die zweite Steuer„reform“ der Koalition und passierte nach einigen Anstandsquerelen den Bundestag. Umfang, Art und Wirkungsdauer der beschlossenen Maßnahmen lassen aber keine grundsätzliche Kursänderung erkennen. Nach wie vor wird vom Export der entscheidende Beitrag für einen (gewinninduzierten) Investitionsaufschwung erwartet. Das neue Fiskalprogramm soll nur das diesjährige Ausbleiben des Exports ausgleichen, es soll daraus keine Vorbelastung für 1978 entstehen. [13]

Insbesondere aber soll die Steuerreform helfen, politische Forderungen zu neutralisieren, die aus der Dauermisere am Arbeitsmarkt entstehen. Denn die fiskalischen Änderungen haben erstens zur Folge, daß die Durchschnittseinkommen der Lohnabhängigen 1978 leicht steigen, so daß von einer alleinigen Begünstigung der Gewinne nicht mehr so ohne weiteres geredet werden kann. Dem Argumentationsnotstand der Gewerkschaftsführung muß abgeholfen werden. Zum Anklagepunkt Arbeitslosigkeit darf sich nicht der Vorwurf erneuter Reallohnsenkung gesellen.

Zum zweiten hat das komplizierte Zusammenwirken von entlastender Lohnsteuerreform einerseits und belastender Mehrwertsteueranhebung andererseits zur Folge, daß einige Monate lang die wenigsten so recht wissen, wieviel sie mehr verdienen, ob sie gar zur Minderheit der Verlierer zählen (die gibt es auch) oder zu den überdurchschnittlich Bevorzugten: ein bis weit ins Jahr 1978 hinein reichender Vorhalteeffekt gegen Protestgruppenbildung.

Und drittens bewirkt die Einkommensteuerveränderung, daß die Gewinne 1979 auch bei bescheidenem Wachstum — erst recht aber bei stärkerem — überdurchschnittlich zunehmen. Die Lohnkosten sinken ja infolge der Lohnsteuerentlastung.

Wie sehr man das politische Potential im Auge hat, das mit einer als unbefriedigend empfundenen Einkommensentwicklung verbunden ist, zeigt die unwirsche Reaktion der Regierung auf einige dreiste Gedanken des Sachverständigenrates (die Fünf „Weisen“) zur Lohnpolitik. Als dieser eine Lohnsenkung für wirtschaftspolitisch wünschbar erklärte, hieß es: „Dann kann man doch gleich die Gewerkschaftsführer in die Emigration schicken und den Marktplatz randalierenden Arbeitern überlassen!“ [14] Wohlgemerkt, die Regierung hatte nichts gegen die ökonomische Seite dieser Forderung einzuwenden, nur was gegen die politische.

Wie stets, seit Schmidt im Amt ist, ist auch diese „Reform“ auf kurzfristige Stabilisierung angelegt. Ganz im Sinne des „Feuerwehrreformismus“. Was aber zeichnet sich langfristig ab? Als Testobjekt dient uns das „Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1977/78“.

Mit Gerhard Fels ist ein Wissenschaftler in den Sachverständigenrat, das wichtigste wirtschaftliche Beratergremium, eingezogen, der über die außenwirtschaftliche Problematik der BRD hinreichend informiert ist. [15] Niemand kann heute eine Meinung zur Wirtschaftslage der BRD vertreten, ohne wenigstens eine grobe Vorstellung zu haben, wie der Hase außenwirtschaftlich läuft.

Der Rat selbst wie auch die Bundesregierung treten für eine Fortsetzung jener schon ein Vierteljahrhundert alten Politik ein, sich an die Weltmarktlokomotive anzuhängen, darauf bauend, daß diese nach wie vor unter Dampf steht. Es soll also mit einer entsprechenden Einkommenspolitik dafür gesorgt werden, daß die BRD-Arbeiterschaft weiterhin diszipliniert ist, und die Fiskal- und Geldpolitik soll so sein, daß der außenwirtschaftliche Funke möglichst gut auf die Binnenwirtschaft überspringen kann. Dazu gehört, daß man alle Weltmarktprobleme herunterspielt. Diese politisch deformierte Wirtschaftsanalyse reizt natürlich wissenschaftliche und politische Kontrahenten des Rates und der Regierung. [16]

Mehr Staat?

Die linkskeynesianische Fraktion der SPD und Teile der Gewerkschaften setzen statt auf den Export auf den Staat. Wissenschaftlich sind sie um das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ (DIW) herum gruppiert. Dessen Antwort auf das Jahresgutachten 1977/78 widerspricht der zentralen Forderung des Sachverständigenrates (und der Regierung), daß es auf die Lohnpolitik ankomme — so lautet ja die in Binnenwirtschaftspolitik umgesetzte Option auf den Weltmarkt. Vielmehr kommt es darauf an, daß der Staat zu einer umfangreichen und vor allem gezielten Ausgabenpolitik übergeht, welche die Defizite der Infrastruktur und der Reproduktionssphäre beseitigt. [17]

Kommentar: Wer in der gegenwärtigen Lage auf mehr Staat statt auf mehr Export setzt, hätte nicht (wie es die Bundesregierung jetzt tut) einige, sondern zig Milliarden DM mehr auszugeben, und das nicht nur im nächsten Jahr, sondern in den nächsten fünf Jahren. Das sagen die Linkskeynesianer natürlich nicht, weil sie damit ihre politische Glaubwürdigkeit einbüßen würden. [18] Aber die zentrale Bedeutung, die sie alle dem Export ausdrücklich zubilligen, impliziert eine solche konjunkturelle Rolle der Außenwirtschaftspolitik (30 Milliarden DM stark hätte der Konjunkturimpuls werden sollen, welcher vom Export 1977 erwartet wurde und der dann nicht eintraf). Damit die Exportrolle auch wirksam wird, müssen diese Staatsausgaben gezielt, verbindlich erfolgen — schon aus Gründen der Inflationsvermeidung. Planung, Kontrolle und damit direkte Eingriffe in den Unternehmensbereich sind erforderlich. [19] Nun sind aber gerade im Außenwirtschaftsbereich die mächtigsten der BRD-Firmen angesiedelt. Bis auf weiteres kann also keine Bundesregierung ein derartiges Lenkungsprogramm wagen.

Weniger Arbeit?

Seit längerem wird von den Gewerkschaften die Forderung nach einer weiteren Arbeitszeitverkürzung erhoben; eine dem Sachverständigenrat entgegengesetzte Analyse des gewerkschaftseigenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) schließt die Lageeinschätzung mit der Forderung nach der 35-Stunden-Woche — bei vollem Lohnausgleich, versteht sich. So sollen die Überkapazitäten abgebaut und Vollbeschäftigung erreicht werden. [20]

Kommentar: Ganze zehn Punkte würde damit der Lohnanteil am Sozialprodukt steigen, die Rendite würde somit erneut sinken. Da in den Augen der Privatwirtschaft schon die jetzige Rendite in der Industrieproduktion mehr dazu angetan ist, Gewinne in Banken statt in der Produktion anzulegen, kann man sich leicht ausmalen, was bei einem erneuten Absinken der Rendite passieren würde (die derzeitigen Eigentumsverhältnisse immer vorausgesetzt). Ganz zu schweigen davon, daß der Abbau des dann viel zu großen Investitionsgüterbereichs ein Planungs- und Kontrollkunststück erfordern würde, das seinesgleichen in friedlichen Zeiten suchen dürfte. Denkt man also dieses Konzept zu Ende, so kommen Voraussetzungen zutage, die sich angesichts der derzeitigen Machtverhältnisse reichlich exotisch ausnehmen.

Eine gesellschaftspolitische Ergänzung dieser Konjunkturkonzepte durch einen Mix aus Mitbestimmung und Investitionsienkung wird denn auch gern zugestanden, wenn man mit den Erfindern diskutiert. Meines Erachtens hat dieser Gradualismus aber keine neue Chance. Man kann nicht mit etwas mehr Lenkung und Mitbestimmung ausgleichen, was an Gewinnmasse und Rendite fehlt. Das setzt ein technokratisches Übergewicht in den nach wie vor privatwirtschaftlich bestimmten Produktionsverhältnissen voraus. Was jedoch an Steuerflucht, Subventionserschleichung, Kapitalexporten, Anwaltstricks gegen Mitbestimmung über die herrschenden Kreise in der BRD bekannt geworden ist, läßt eher den Schluß zu, daß staatliche und gewerkschaftliche Aktionen in Richtung institutioneller Reformen als Kampfansage verstanden würden. Zu Recht übrigens, denn wenn erst einmal in einem Drittel gezeigt wird, daß es auch anders geht, warum sollte man dann bei einem Drittel stehenbleiben?

Reformen werden gefährlich

Fazit: Zwar gehen die in der Kritik am Jahresgutachten formulierten Konzepte schon eher auf die außenwirtschaftlichen Probleme der BRD ein, sie haben aber keine politische Basis. Die BRD zeigt zwar mehr und mehr wirtschaftliche Planungstendenzen, aber die politischen Verhältnisse sind nicht mitgewachsen. Noch schärfer formuliert: Die wirtschaftlichen Probleme unterminieren die private Wirtschaftsverfassung, planwirtschaftliche Konzepte sind gefährlicher, weil notwendiger geworden. Das Kapital braucht mehr Planung, will aber keinen Sozialismus. Politisch heißt das: Aus dem Rechtsstaat wird mehr und mehr ein rechter Staat. Linke Politik kann mehr stören, kostet mehr (Feuerwehrreformen!), sie ist im alten, profitwirtschaftlichen Sinne weniger integrierbar. Die Schärfe, mit der heute linken Anfängen gewehrt wird, und der Abbau demokratischer Substanz aus der Verfassung verraten das Gespür der Herrschenden für diesen Widerspruch, die Mischung aus punktueller Repression und gezielter Feuerwehrreform beweist es.

Wo bleibt die Arbeiterbewegung? möchte man als Linker ausrufen. Gegenwärtig greift das System ja nicht nur auf jene vielhundertjährige Gewöhnung der Massen an Entfremdung zurück, sondern gegenwärtig werden massiv Basisinteressen — gesicherter Arbeitsplatz und Einkommen bzw. Einkommenssteigerungen — verletzt. Haben wir früher nicht gesagt, wenn erst einmal diese Errungenschaften, die das Klassensystem mystifizierende Vollbeschäftigung und Realeinkommenszunahme, aufhören, daß dann auch in Westdeutschland die Arbeiterbewegung wieder erwachen wird aus der Hitler-Paralyse und dem Adenauer-Schlaf? Sah man nicht in jedem größeren Betriebskonflikt seit der 67er Rezession „erste Anfänge“ dieser Rekonstruktion der Arbeiterbewegung? Schienen nicht die antisozialpartnerschaftlichen Töne seit 1969 zuzunehmen?

1977 waren über zwei Millionen Arbeiter und Angestellte in der BRD vorübergehend arbeitslos, rund eine Million im Jahresdurchschnitt. Fünf bis sechs Millionen dürften es somit gewesen sein, welche seit 1974, seit dem Beginn der großen Krise, ihren Arbeitsplatz räumen mußten (wenngleich die Mehrheit einen neuen fand). Ein Viertel der westdeutschen Arbeiterschaft ist durch die Krise persönlich berührt worden. Man darf also zu Recht von einer Massenerfahrung sprechen. Und dennoch: Spontane wie organisierte Gegenwehr hat eher ab- als zugenommen.

Viele Kommunisten und Sozialisten sehen ein raffiniertes Pack von Funktionären in den Gewerkschaften und den Parteien am Werk, welche jede Initiative zu unterbinden verstehen — und merken dabei nicht, was für eine massenverachtende, durch und durch elitäre Meinung sie gegenüber dem sonst immer hochgehobenen Proletariat vertreten. Soziale Bewegungen, Fortschritt, Revolution in der modernen Gesellschaft sind offensichtlich nicht so einfach zu begreifen, wie wir oft glaubten.

Schlacht, Krieg, Scharmützel

Was hatte es für einen Sinn, daß Einzelproteste und -aktionen immer wieder zu den berühmten „ersten Anfängen“ hochstilisiert wurden? Das war bei der Studentenrevolte 1967-1969 so, bei den spontanen Streiks 1969 und 1973, bezüglich der Randgruppen 1969-1971; das gilt heute gegenüber den proletarischen Unterschichten (die „andere Arbeiterbewegung“) und gegenüber der Frauenbewegung; warum wurde das alles ins „revolutionäre“ Koordinatennetz gezwungen? Woher nahm man das Recht, das Aufbegehren unterdrückten Lebens zur Klassenfront Lohnarbeit/Kapital zu extrapolieren? Das Wissen um die kapitalistische Bedingtheit von Herrschaft hat kurzschlüssig aus punktuellen Reaktionen gegen Herrschaft Reaktionen gegen das Kapital gemacht — Unbestimmtheiten dieser Zuordnung wurden mit der Zauberfloskel „erste Anfänge“ verdrängt. Der historisch-materialistische Analyseansatz wurde „gewendet“, und heraus kam die gewünschte „Perspektive“.

Die Antikernkraftbewegung ist gegenwärtig noch am ehesten eine Massenbewegung. Ist es nicht ein Hohn für den materialistischen Politikansatz, daß aus der organisierten Arbeiterschaft so gut wie keine Unterstützung kommt? Wo doch der Zusammenhang zwischen Energie einerseits und Rationalisierung, sprich Arbeitsplatzvernichtung, andererseits ein massenhaft am eigenen Leibe erfahrener ist! Und dennoch: Die naturwüchsige Spaltung zwischen den Arbeitern, welche von den Kernkraftwerken profitieren, und jenen, deren Arbeitsplätze dadurch bedroht werden, wurde von den Gewerkschaften nicht überwunden. Obwohl die Horrorperspektiven der KKW alle Arbeiter betreffen, hat die KKW-Fraktion über die stille Anti-KKW-Mehrheit den Sieg davongetragen, hat der Einsatz von einigen Industriemillionen, investiert in eine tüchtige Public-Relations-Firma, ausgereicht, um die Betriebsräte der wichtigsten Großkonzerne auf Pro-KKW-Kurs zu trimmen, mußte der DGB-Vorstand gezwungenermaßen auf diesen Pro-KKW-Zug aufspringen. Was für ein beschämendes Bild gewerkschaftlicher Basisbewegung, auf deren korrigierende Potenz immer wieder gesetzt worden war! [21]

Der Arbeiter ist noch nicht tot!

Andererseits gilt auch, daß die Arbeitnehmermassen für die Herrschenden eine gefährliche Potenz darstellen. Sie ist immerhin so groß, daß schon zwei Versuche, die Inflationsprobleme auf Kosten der Arbeiter zu lösen, nämlich der nach der 67er Krise und der von 1972/73, an der Streikfront gescheitert sind: Sowohl 1969als auch 1973 gab’s „wilde“ Streiks (beide Male nicht mit der, sondern gegen die Gewerkschaftsführung). Und die beiden Steuer„reformen“, sowohl die von 1975 als auch die von 1978, zeugen dafür, daß diese Potenz weiterhin vorhanden ist. In die gleiche Richtung wirkt der Schock, der den Herrschenden in die Glieder fuhr, als die Basis gegen die nach der Wahl 1976 versuchte Rentenkürzung aufstand. Daß der „Feuerwehrreformismus“ als Kur ausreicht, beweist wiederum, daß diese Potenzen nicht hinreichend sind, um eine politische Bewegung auszulösen.

Wer auf die politisierende Wirkung der Krise gesetzt hat, wer sich zu ökonomischen Spekulationen hat verleiten lassen und glaubte, aus der materialistischen Analyse ein politisches Programm machen zu können, wird an der politischen Entwicklung in Westdeutschland verzweifeln und resignieren. Er wird sich vom Proletariat im Stich gelassen fühlen, wo dieses doch nur die ökonomische Propaganda im Stich läßt. Grund genug, Augen und Ohren aufzusperren, kein Grund zur Resignation.

Es gibt Tausende von rationalisierungsbedingten Betriebskonflikten in der BRD, in denen sich Hunderttausende von Beschäftigten mit den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten herumschlagen. Der Bundesverband der Bürgerinitiativen umfaßt über 100.000 Mitglieder, welche sich mit kommunalen, ökologischen, infrastrukturellen Problemen abmühen, die durch den ökonomischen Wildwuchs der letzten zwanzig Jahre entstanden sind.

Der Teil, der nur den Weg sieht, sich mit der Betriebsleitung bzw. den Behörden auf einen zähen Nahkampf einzulassen, der auf die spektakulären, aber dauerhaft nicht zu haltenden Nurbesetzungen verzichtet, ist der überwältigende Teil und nimmt in den Jahren zu Lasten des „politischen“, klassenkämpferischen Teils zu. Ist das nur Ohnmacht? Drückt sich hier nicht auch ein Wissen, ein Realitätssinn aus, der weiter vorn ist als die kurzschlüssige, auf Kampf, Front, Rekrution, Taktik hinauslaufende Politik der meisten neuen und alten Linken? Ihr Ceterum censeo, daß alle diese Mikroaktivitäten letzten Endes ja doch an der Makrogewalt des profitorientierten Staates scheitern, ist nicht die ganze Wahrheit. Der andere Teil ist, daß nur diejenigen, die jahrelang in ihrem Problembereich gearbeitet haben, über das Wissen und die Fähigkeiten verfügen, die für eine positive Weiterentwicklung nötig sind.

Der moderne Produktions- und Reproduktionsprozeß, jenes komplizierte Zusammenspiel von materieller Produktion und Dienstleistungen, von Behörden und Konstruktionsbüros, von Ämtern und Fließband, reagiert auf jede Störung mit einer überraschend großen Kettenreaktion. Die Erhöhung des Ölpreises 1973/74, also eines wichtigen Rohstoffes, rief Erschütterungen hervor, die nicht nur bis heute anhalten, sondern sich auch verstärken.

„Die Schweine von heute sind die Schinken von morgen“
(Transparent auf Antirepressionsdemo in Westdeutschland)
Bild: ID-Foto

Lob dem reifen Rot

Die Besetzung von wenigen wichtigen BRD-Fabriken durch die Arbeiter — etwa der BASF — würde so gut wie alle anderen Industriebranchen behindern oder gar lahmlegen. Die westdeutschen Arbeiter haben mit einer Konfrontationsstrategie ökonomisch ein Vielfaches von dem zu verlieren wie ihre revolutionären Vorfahren, sowohl gemessen am Produktionsvolumen als auch gemessen an ihrem heute erreichten Lebensstandard. Sie haben politisch bereits einen großen Teil dessen erreicht, worum es früher ging und worum es in den revolutionären Bewegungen draußen geht. Solange der Produktionsprozeß einigermaßen läuft, spielen die „Karrieresüchtigen“ eine positive Rolle gegenüber den Anhängern einer „kompromißlosen“ Konfrontationsstrategie.

Revolutionäre wachsen langsam, sie wälzen um, stürzen nicht um. Das Rot der Hitzköpfe stört.

Die in der heutigen Krisenstruktur angelegte Tendenz zu insulären Konflikten steht dem Vereinheitlichungsprozeß im Wege. Das Nebeneinander von akkumulierenden und prosperierenden Multis einerseits und mehrheitlich stagnierendem und schrumpfendem Umfeld andererseits steht der breiten Solidarisierung entgegen. Wer im ökonomischen Schatten lebt, ist mehr als früher auf Eigeninitiative und Durchhaltevermögen angewiesen. Hier überlebt nur, wer überdurchschnittlich fähig ist.

Auf nichts ist der Staat mittlerweile besser vorbereitet als darauf, der Verallgemeinerung solcher insulärer Konflikte einen Riegel vorzuschieben. All die Gesetzes- und Verfahrensänderungen, welche in den letzten Jahren im Zuge der zweiten Nachkriegsrestauration eingeführt wurden, zielen darauf hin, daß der Staat möglichst punktuell eingreifen kann, ohne daß er allgemein repressiv ist. Es kommt zu einem Dreischritt in der Herrschaftstechnik: liberales Totschweigen, solange die Konflikte noch nicht die Schwelle zur Öffentlichkeit überschritten haben (daran gehen bereits die meisten Proteste ein); repressives Traktieren plus ideologischer Verwirrung der Diskussionsfronten, wenn diese Schwelle überschritten wurde; und Totfüttern im Sinne eines Feuerwehrreformismus, wenn die Öffentlichkeitsarbeit Solidarisierungserfolge zeitigt.

Mit dem Ruf „Betrug, Betrug!“ kann dieser Insularisierungstechnik nicht entgegengearbeitet werden. Die Parole „Sozialismus jetzt“ macht uns zum Lockvogel, der aus insulären Konflikten heraus auf jene ideologischen Felder ruft, wo Kapital und Staat, aufbauend auf dem Antikommunismus der Vergangenheit und den planwirtschaftlichen Defiziten des „realen Sozialismus“ heute, bis auf weiteres unschlagbar sind. Wenn in einer solchen Diskussion über die Arbeitsbedingungen in den Leuna-Werken der DDR oder über die Sowjetjustiz oder über Chinas „Viererbande“ gesprochen wird, kann man einpacken; es gibt kaum etwas Demoralisierenderes.

Sind Italien und Frankreich weiter?

In Lateineuropa, den Ländern des offenen trade-unionistischen Klassenkampfs, ist das übergreifende, einzelne Konflikte verallgemeinernde Moment viel stärker. Hier zeichnet sich bereits abschnittsweise eine Klassenfront Kapital/Arbeit ab. Ob die italienischen und die französischen Arbeiter hinsichtlich einer demokratischen, sozialistischen Gesellschaft weiter sind, bezweifle ich. Gewiß, sie sind besser organisiert überwiegend jedoch mit der Stoßrichtung, vom Staat Subventionen zu erhalten.

Auch auf der makropolitischen Ebene hat die Linke der Rechten mehr entgegenzusetzen als hierzulande. Aber KPI, KPF und die respektiven sozialistischen Parteien setzen in ihren gesamtwirtschaftlichen Plänen produktiv arbeitende Mikrobereiche voraus. Muß man nicht befürchten, daß beide aneinander zerbrechen und in der darauffolgenden Restauration eine der BRD ähnelnde Entwicklung stattfindet? Schon seit Jahren nährt diese Diskrepanz den Prozeß der Selbstzerfleischung innerhalb der italienischen und französischen Linken. Ein Ende ist nicht in Sicht; im Gegenteil, die Machtchancen der großen linken Parteien schütten Öl ins Feuer: Je näher sie an der Staatsmacht sind, um so mehr konkretisieren sich ihre repressiven Züge gegenüber Mikrobereichen. [22]

Vielleicht ist es so, daß die heute in Westdeutschland gemachten Erfahrungen den französischen und italienischen Genossen erst noch bevorstehen? Ich jedenfalls habe die Italienbegeisterung und die großen Seufzer der westdeutschen Genossen über die traurige BRD-Situation ökonomisch nie verstanden. Traurig schon, aber trauriger als dort? Ist das Segelschiff Italien besser, nur weil das Dampfboot BRD angekettet ist? Schöner schon — aber besser?

Jedes verhinderte Kernkraftwerk verhindert ein Stück Polizeistaat und rettet wahrscheinlich etliche zehntausend Menschenleben. Die Anti-KKW-Initiativen stehen quasi unter Erfolgszwang. Ebenso geht es jenen, die Arbeitsplätze zu erhalten suchen, welche von der Rationalisierung bedroht sind; gerade weil der Glaube an die positive Rolle der Weltmarktanarchie weiterhin die Wirtschaftspolitik beherrscht, es aber immer unwahrscheinlicher wird, daß von dort Vollbeschäftigungsimpulse ausgehen werden, kommt es immer mehr auf die betrieblichen Initiativen an.

Sozialismus von der Illusion zur Utopie

Aus der beschriebenen Konfliktstruktur ergibt sich jedoch, daß einem solchen Engagement der volkswirtschaftliche Durchbruch in, sagen wir, den nächsten zehn Jahren versagt bleibt. Die Politik im Makrobereich orientiert sich an den weiter akkumulierenden Kapitalzentren (Multis, bestimmte Branchen und Regionen). Die Gegenwehr im Mikrobereich muß auf längere Sicht ohne reale, allenfalls mit einer bloß programmatischen Makroperspektive auskommen. Es bleibt also bis auf weiteres bei den insulären Konflikten. Daraus muß etwas gemacht werden.

Aus Not kann sehr wohl Tugend entstehen. Denn der große Vorteil einer solchen zu insulärer Gegenwehr verurteilten Politik besteht darin, daß mit der Zeit ein Wissen und eine Erfahrung entstehen, welche den Schritt in das praktizierte Gemeinschaftseigentum und in die gesellschaftliche Planung mikrotechnisch ermöglichen. Damit kann auch die sozialistische Perspektive auf der Makroebene aus der heute illusionären zu einer zumindest utopischen werden.

In einer ganzen Reihe von insulären Betriebskonflikten werden Selbstverwaltungsbetriebe entstehen. Ähnliches gilt für die Reproduktionssphäre. Aus dem insulären Konflikt wird also ein sozialistischer Fokus. Das hat für die kapitalistischen Zentren nichts direkt Bedrohliches und kann von ihnen sogar als unmittelbare Erleichterung empfunden werden. Man wirft Ballast ab und wird damit zugleich ein paar Quälgeister los. Solche sozialistischen Unternehmen haben mit überdurchschnittlich ungünstigen Bedingungen fertig zu werden und haben damit die Chance, die antikommunistische Massenmeinung um so nachhaltiger zu korrigieren. Sozialismus auf der Makroebene wird so überhaupt wieder diskutabel.

Wer kann schon so lange kleine Brötchen backen?

Die Skepsis gegen einen solchen Ansatz ist begründet. Jeder, der Jahre Betriebsarbeit gemacht hat, ohne sich anzupassen und ohne zu resignieren, kennt den Zustand der langsamen, aber unerbittlichen Auszehrung. Viele stecken ja bereits nach zwei Jahren Bürgerinitiative auf. Von der Masse der Ein-Sitzungs-Fliegen ganz zu schweigen. Wie schwer ist es, jene, welche die kontinuierliche Arbeit mit dem Vorwurf des Vorsich-hin-Wurstelns-wo-bleibt-denn-die-Linie deprimieren, auf den Boden der realen kleinen Schritte herunterzuholen! Die Gegenwehr gegen die Segnungen der Verkehrsplanung, gegen zersiedelnde Stadtsanierung, gegen zynische Sparansätze im Gesundheitswesen, gegen den neuen Sozialdarwinismus in der Schulpolitik, gegen den „Segen“ der Kernkraftwerke usw. ist ein hartes Geschäft.

Tröstung in revolutionärer Perspektive bleibt aus. Nach zehn Jahren Hoffens auf die große neue Massenbewegung zieht das Revolutionspathos die selbsternannten Revolutionäre nicht mehr aus dem Sumpf alltäglicher Kleinarbeit. Nicht leicht, aus dieser Not eine Tugend zu machen.

Ohne Revolutionierung der Persönlichkeit werden wir das alles nicht durchhalten. Notwendig ist eine Verquickung von persönlicher Emanzipation mit der multifokalen Arbeit. Diese These muß hier als neue black box stehenbleiben.

Deplaziert? Deus ex machina? Sicher ist, daß die breite psychische Verelendung über das Tranquilizerstadium hinausgelangt ist; wie Pilze schießen heute neue Psychoinstitute, Therapien usw. aus dem Boden. Fast kann man schon von einer modernen Variante der Schrebergartenbewegung sprechen. Der Psychourlaub bei professionellen Reiseunternehmen hat die Testphase bereits hinter sich.

Die Psychopathie des linken Zirkelwesens und die riesigen Reibungsverluste, die durch linke Gremienarbeit entstehen, unterstreichert die Bedeutung des emanzipatorischen Faktors.

Die zwei Massenbewegungen der Gegenwart, die schillernde Welt der insulären Konflikte einerseits und die Halbwelt der grauen und schwarzen Psychomärkte andererseits, sind komplementär zueinander. Und vergessen wir nicht: Auch die Rechte schickt sich an, auf ihre Weise eine Einheit anzubieten. Wir sollten Wilhelm Reich nicht ein zweites Mal verkennen.

[1Aike Blechschmidt: Krise Zwo. Produktions- und Absatzkrise 1929 und 1974 — ein Vergleich, NEUES FORVM, Mai/Juni 1975; Aike Blechschmidt: Feuerwehrreformismus — Vergleich zwischen alter und neuer Weltwirtschaftskrise II, NEUES FORVM, Juli/August 1975

[2Aike Blechschmidt: Krise Zwo. Produktions- und Absatzkrise 1929 und 1974 — ein Vergleich, NEUES FORVM, Mai/Juni 1975; Aike Blechschmidt: Feuerwehrreformismus — Vergleich zwischen alter und neuer Weltwirtschaftskrise II, NEUES FORVM, Juli/August 1975

[3Aus Zahlungsbilanzgründen muß heute Österreich Zölle auf BRD-Importe erheben. Wien befindet sich mit diesen protektionistischen Anfängen in guter Gesellschaft: „Es findet sich kein Land, das in den Jahren der Unterbeschäftigung auf zusätzliche Handelsbeschränkungen gänzlich verzichtet hätte. Die meisten protektionistischen Initiativen gingen von der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten aus“, heißt es in Ziffer 39 des Jahresgutachtens 1977/78 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der BRD (im weiteren mit „Jahresgutachten“ abgekürzt). Ohne die expansive Wirtschaftspolitik 1975/76 wären diese die Weltmarktkonjunktur negativ beeinflussenden Maßnahmen Österreichs nicht nötig gewesen, aber dann hätte Österreich bereits damals, zu Beginn der Krise, negativ gewirkt. Da seinerzeit nicht auszuschließen war, daß es nach 1975 wieder zu einem kräftigen Weltmarktaufschwung kommt, entsprach es einer rationalen Wirtschaftspolitik — rational im gegebenen Rahmen —, diese expansionistische Politik zu betreiben. Kreisky wie Schmidt scheiterten somit letztlich an den nach wie vor dominierenden anarchischen Zügen der Weltwirtschaft.

[4Noch im September weigerte sich Schmidt, von der sich abzeichnenden Fehlentwicklung Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen zu ziehen. Denn die Konsequenzen bestehen u.a. darin, daß der jetzt fällige Budgetkurs nicht mehr durch die verfassungsrechtlichen Vorschriften gedeckt ist, wonach nur intensive, nicht aber konsumtive Staatsausgaben durch Schuldenaufnahme getätigt werden dürfen. Genau das ist 1978 infolge der Steuerreform zum ersten Mal der Fall (Frankfurter Rundschau vom 16. Dezember 1977). Dieser Grundsatz hat zwar keine ökonomische Bedeutung, aber eine politische. Die Opposition wird es sich kaum nehmen lassen, Schmidt mit einer Verfassungsklage in Schwierigkeiten zu bringen.

[5Netto, nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben, stiegen 1976 die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen (privat) um rund 15 Prozent, die Einkommen aus unselbständiger Arbeit um vier Prozent. Die Inflationsrate bei den Verbraucherpreisen betrug 1976 4,5 Prozent. Pro durchschnittlichem Selbständigenhaushalt stieg das verfügbare Haushaltseinkommen um 825 auf 6.565 DM pro Monat oder um 14 Prozent, beim durchschnittlichen Angestelltenhaushalt stieg es um 100 DM auf 2.695 DM, beim Arbeiterhaushalt um 90 DM auf 2.300 DM oder jeweils um vier Prozent. Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW-Wochenbericht 27/1977. Für 1977 rechnete dasselbe Institut in seinem Wochenbericht 43/44/1976 mit einer Zunahme des Volkseinkommens von zehn Prozent (einschließlich der Inflationsrate), wobei die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 11,5 Prozent, die Einkommen aus unselbständiger Arbeit um acht Prozent steigen sollten. Das war im November 1976. Die Lohnabschlüsse hielten sich an diesen Rahmen.

[6Aus dem Jahresgutachten 1977/78, Ziffer 139, ergibt sich, daß die Einkommen aus unselbständiger Arbeit netto um sechs Prozent gewachsen sind, die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen aber um knapp zwei Prozent abgenommen haben. Die Verbraucherpreise stiegen um vier Prozent.

[7Quelle: Jahresgutachten 1976/77, Ziffer 248, 254 und 259, und Jahresgutachten 1977/78, Ziffer 11 und 63. Nach einer Überschlagsrechnung anhand von Tabelle 43 des Jahresgutachtens 1977/78 ergibt sich, daß statt der erwarteten 25 Milliarden DM Mehrexport nur acht Milliarden mehr ausgeführt worden sind.

[8Siehe dazu das Jahresgutachten 1977/78, Ziffer 10 und 62.

[9Siehe dazu das Jahresgutachten 1977/78, Ziffer 1 bis 52.

[10Siehe Jahresgutachten 1977/78, Ziffer 4.

[11Siehe Jahresqutachten 1977/78, Ziffer 64 bis 68.

[12Das ergab die neueste Hochrechnung des Instituts für angewandte Systemforschung und Prognose in Hannover. Die Annahmen sind sehr plausibel: Man rechnet nämlich lediglich die Konsequenzen aus, welche sich aus der gegenwärtigen demographischen Entwicklung, den Berufsbildungstendenzen und der besagten Wachstumsrate ergeben (Frankfurter Rundschau vom 20. Dezember 1977).

[13Die staatlichen Ausgaben sollen 1978 um acht Prozent zunehmen, d.h. kaum ein Prozent mehr als die Zunahme des Sozialprodukts (Jahresgutachten 1977/78, Ziffer 216 und Tabelle 31); der private Konsum wird mit 6,5 Prozent Zunahme sogar als hinter dem Sozialproduktswachstum geschätzt (ebenda). Siehe auch die Ziffern 213 bis 217. Die Bundesbank sagte es in ihrem Dezembermonatsbericht 1977 klar: „Nur wenn die deutsche Wirtschaft ihre Marktanteile behaupten kann und wenn der Welthandel im nächsten Jahr beträchtlich zunimmt, ist ein weiteres und kräftiges Wachstum in der BRD denkbar.“ „Denkbar!“ Man beachte den affirmativen Sprachgebrauch — als ob Wachstum nur durch Export möglich sei.

[14Nach Spiegel 49/1977. Ein paar Wochen zuvor wurde die Herbstprognose der fünf wirtschaftswissenschaftlichen Institute der BRD veröffentlicht. Lapidar wurde für 1978 konstatiert, daß sich an der Arbeitslosigkeit in Höhe von einer Million nichts ändern würde. Die Süddeutsche Zeitung hat daraufhin in einem Kommentar Klage darüber geführt, daß diese Prognose nicht in eine Diskussion über Konzepte eingebettet worden sei, da das ja doch wohl eine Zumutung für die Gewerkschaften darstelle und den Kaufkraftargumentanhängern Auftrieb gebe (SZ vom 25. Oktober 1977). Auch hier steht der ideologische Effekt im Mittelpunkt, nicht der ökonomische. Denn einen konkreten Vorschlag hatte die Süddeutsche Zeitung selbst nicht.

[15Siehe seinen Aufsatz in Die Weltwirtschaft 1/1974.

[16Der Sachverständigenrat ist übrigens nicht einer geschlossenen Meinung; zu wichtigen Fragen hat ein „Weiser“ ein Minderheitsgutachten abgegeben, welches wie folgt zusammengefaßt wird: „Den Gegebenheiten und Präferenzen scheint am ehesten ein mittlerer Wachstumspfad zu entsprechen, auf dem bei einer nur sehr langsamen Erhöhung der Staatsquote und bei einer mäßig über den Trend der letzten Jahre hinausgehenden Verkürzung der Arbeitszeit eine Angebotspolitik verfolgt wird, die den veränderten Problemen, für deren Lösung wir Wachstum brauchen, in einer Weise gerecht wird, daß die Entwicklung der Nachfrage sich bei mittleren Zuwachsraten stabilisieren kann. Mit der Erhöhung der Staatsquote und der Verkürzung der Arbeitszeit vertritt er die Position der Gegner des Sachverständigenrats, mit der Peu-à-peu-Vorstellung setzt er sich wieder von diesen ab. Daß ein solcher Gradualismus den Erfordernissen einer profitorientierten Wirtschaft genausowenig angemessen ist wie eine energische Anhebung der Staatsquote bzw. eine energische Verkürzung der Arbeitszeit, sehen wir weiter unten im Text.

[17Siehe DIW-Wochenbericht 49/50/1977.

[18Zum Jahresgutachten 1975 wurde von 71 linksstehenden Wissenschaftlern ein Memorandum veröffentlicht. Von Gerhard Kade, einem der Unterzeichner, wurde auf der ersten Pressekonferenz eine Summe von 20 Milliarden DM als nötige Konjunkturspritze genannt — durch diese Ziffern machten sich die Unterzeichner in den Augen der systemimmanenten Wissenschaftler unglaubwürdig.

[19Jede energische staatliche Ankurbelung steht ja vor dem Dilemma, einerseits einen spürbar größeren Teil des Produktionspotentials in Anspruch zu nehmen, genau diesen größeren Teil aber dann, wenn die Ankurbelung geglückt ist, wieder der privaten Akkumulation zu überlassen. Bisher sind solche Versuche immer in inflationären Schüben geendet, welche schließlich eine akkumulationszügelnde Politik nach sich zogen.

[20Siehe WSI-Mitteilung 12/1977.

[21Nach Spiegel 48/1977. Siehe auch express (sozialistische Zeitung) 11/1977 und 12/1977, wonach es sich beim Spiegel offensichtlich um keine Zeitungsente handelt. Auch der express konnte diese Entwicklung nur beklagen.

[22Vgl. Kati Stipsicz: Historische Konzentration. KZs am Mittelmeer? NEUES FORVM, November 1977.

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