FORVM, No. 93
September
1961

Literarische Marginalien

Der russische Romandichter Dostojewski schreibt einmal über eine Figur in einem seiner Romane: „Ich wollte dem Leser einen Menschen vorführen, der von den anderen Leuten etwas absticht, einen Charakter aus der jüngst vergangenen Zeit, einen Vertreter der jetzt erst ihr Leben allmählich beschließenden Generation.“

Für deutsche Ohren klingt ein solcher Satz merkwürdig. Ich wüßte keinen deutschen Autor, der ihn geschrieben haben könnte. In unseren Büchern, sowohl in unseren Dramen als auch in unseren Romanen, treten Menschen auf, nicht bestimmte Menschen, ja, ich glaube sogar, das erste Anliegen unserer Literatur ist überhaupt nicht der Mensch.

Was unsere Art zu denken fesselt, das ist das Problem. Die scheinbare oder wirkliche Ungelöstheit einer Frage regt uns zum Nachdenken an und zu Diskussionen. Uns interessiert das Problematische, alles Problematische.

Es gibt Gelehrte, die meinen, zu den Pflichten eines gebildeten modernen Menschen gehöre es, nicht nur objektiv zu denken, sondern auch so zu empfinden. Ein großes Kunstwerk sei immer groß und bleibe es für alle Zeiten. Meine Meinung ist das nicht, und wenn man diese Frage, die ein wenig Nachdenken lohnt, auf die äußerste Spitze treibt, dann läuft ihre Beantwortung auf eine zweite Frage hinaus: was ist wichtiger, der Mensch oder das Kunstwerk:

Ich antworte ohne Zögern: der Mensch ist wichtiger. Denn er muß leben und existieren, den Staat verwalten und regieren, er muß produzieren, und die Künstler müssen neue Kunstwerke hervorbringen. Das können sie nur dann, wenn sie frei sind. Frei ist aber nur, wer Ja und Nein sagen darf, wie seine Überzeugung es ihm empfiehlt. In diesem Sinne soll jedoch nicht nur der Künstler produktiv sein, sondern auch das Publikum. Das heißt: es soll sich auf seine Art ebenso äußern wie der Künstler, soll seine Wünsche und Abneigungen unter keinen Umständen verschweigen. Auf eine geheimnisvolleWeise haben nämlich die Kunstwerke großer und fruchtbarer Epochen zwei Eltern (wie alle Kinder): den Schöpfer, den Mann, der das Bild gemalt hat oder das Buch geschrieben, und das Publikum. Zeiten, in denen Kämpfe stattfinden zwischen Dichtern auf der einen Seite und Lesern oder Zuschauern auf der anderen, sind stets fruchtbar. Ich habe mehr Mitleid mit einem Künstler, der totgeschwiegen wird, als mit einem umkämpften und angegriffenen.

Eine vorzügliche Äußerung des amerikanischen Dramatikers Eugene O’Neill, die ich neulich gefunden habe:

Man sagt heute, die Tragödie sei traurig. Die Griechen und Elisabethaner wußten es besser. Sie spürten den gewaltigen Auftrieb darin. Die Tragödie erweckte in ihnen ein besseres Verständnis für das Leben und befreite sie aus den Kümmernissen des Alltags. Die Menschen sahen ihr Leben, geadelt durch die Kunst. Das große Kunstwerk ist beglückend, alles andere ist glücklos.

Aber die deutsche Kunst folgt gar zu gern einer Eigentümlichkeit des deutschen Charakters, wenn sie Lehrstücke oder Lehrromane schreibt, wenn sie, ähnlich wie die Philosophie, den Versuch macht, die Menschen zu belehren und aufzuklären. Das Seinsollende hat für uns Deutsche manchmal mehr Gewicht als das Seiende, die Idee erscheint uns wichtiger als die Wirklichkeit. Diesem Gesetz folgen in unserer Literatur sogar die Größten. Auch Goethes „Iphigenie“ ist in diesem Sinne ein Lehrstück, wenngleich ein erhabenes. Ich lasse mich mit dieser Überlegung in ein gefährliches Unterfangen ein. Wir Deutschen hängen an unseren großen Dichtern, und unsere Empfindlichkeit auf diesem Gebiet, eine sehr große Empfindlichkeit, ist leicht geneigt, kritische Gespräche über ein klassisches Werk für eine Art von Blasphemie zu halten. Der englische Dichter und Kritiker T. S. Eliot hat einen Essay geschrieben über das Stück „Hamlet“ von Shakespeare, einen meisterhaften Aufsatz, in dem er erklärt, daß „Hamlet“ ein mißglücktes Werk ist, ein Stoff, den Shakespeare nicht in Kunst umzusetzen verstand. Weit davon entfernt, Shakespeares Meisterwerk zu sein, sei das Stück ganz sicherlich ein künstlerischer Fehlschlag. Ich fürchte, einem deutschen Autor von Rang würden einige Unannehmlichkeiten passieren, wenn er den Versuch wagen wollte, einen ähnlichen Essay über Goethes „Faust“ zu schreiben. Wir haben von der Freiheit eine eigentümliche Vorstellung. Manchmal unterwerfen wir uns der Diktatur eines Diktators, manchmal der Pseudo-Autorität einer Rangordnung. Ich beklage die Herrscherstellung, die das Kunstwerk bei uns einnimmt, besonders das Kunstwerk unserer Klassiker. In meinen Augen steht niemals etwas Geschaffenes über dem Menschen, sondern der Mensch steht über allem, was geschaffen worden ist, auch über den Werken von Bach oder Beethoven oder Goethe. Das hat nichts mit Respekt zu tun. Respektlosigkeit ist weit mehr ein Mangel an Verstand als ein Mangel an guten Manieren. Nur ein Dummkopf weiß nicht, wie er sich einem Goethe gegenüber zu benehmen hat. Trotzdem hat der Mensch das Recht, das Menschenrecht, abzulehnen, was ihm nicht gefällt.

Goethes „Iphigenie“ ist kein Drama, und zwar aus dem einzigen Grunde nicht, weil in diesem Stück das Böse fehlt. Die Menschen, die in der „Iphigenie“ auftreten, sind gut und edel. Aber so ist die Welt nicht beschaffen. Der Philosoph Karl Jaspers berichtet, daß in den schlimmen Dreißigerjahren er und seine Freunde „keine Neigung mehr hatten, Goethe zu lesen, aber dafür zu Äschylos griffen, zu Shakespeare und der Bibel“ (vgl. Erich Hellers Essayband „Enterbter Geist“). Angesichts des Bösen, des sehr sichtbaren Bösen, schien Lesern wie Jaspers eine geträumte Welt, in der das Böse fehlte, unerträglich.

Biographien sind ein Beitrag zur Zeichnung des Menschenbildes einer bestimmten Zeit; auch jener, in der sie geschrieben werden. Jede Generation sieht etwas anderes in einem Mann wie Goethe oder einem Mann wie Mozart oder einem Politiker und Staatsmann wie Stresemann oder einem Friedrich Ebert. Und aus dem, was die neue Generation im Bilde solcher Männer sieht und nicht sieht, was sie am Charakter eines großen Mannes bewundert oder tadelt, was sie ablehnt oder nicht mehr wichtig findet — aus alledem kann ein prüfender Beobachter gültige Schlüsse ziehen auf das Menschenbild der betreffenden Generation.

Nehmen wir ein bedeutendes Beispiel: die Briefe Mozarts. In der Fülle von Briefen, die dieser leidenschaftliche Mensch geschrieben hat, finden sich ein oder zwei Dutzend, die so unanständig sind, daß man sie in den öffentlichen Bibliotheken nicht ohne weiteres ausgeliehen bekommt. Bisher haben die meisten Biographen Mozarts diesen Umstand verschwiegen; erst neuere Bücher deuten ihn mehr oder weniger zaghaft an. Ich schließe daraus, daß wir als Volk etwas reifer geworden sind.

In der zeitgenössischen Literatur sind wir noch nicht ganz so weit. Diese Literatur besteht in den meisten Fällen — wenn ich mich einmal so unbestimmt ausdrücken darf — also in den meisten Fällen nicht so sehr aus lebendigen, gut beobachteten und exakt geformten Bildern von Menschen, als vielmehr aus Aussagen. Die Verfasser arbeiten eher mit Menschentypen, die sie sich ausgedacht haben, als mit wirklichen, beobachteten, lebendigen Menschen. Manche Kritiker sprechen gelegentlich davon, daß in der modernen Literatur „der neue Mensch“ gezeigt werde. Dieses Fabelwesen gibt es nicht. Was von der neuen Kunst gezeigt werden kann, ist der alte, ewige Mensch, der sich in neuen Verhältnissen befindet und bewegt, unter Bedingungen lebt und arbeitet, die es früher nicht gegeben hat — etwa in der modernen Großstadt, die als Erscheinung unserer Zeit angehört. Was sich wandelt, ist das Gesicht der Welt, nicht das Gesicht des Menschen.

Denn der Mensch „entwickelt“ sich nicht. Die Entwicklungstheorie war eine Schwester der Fortschrittstheorie, und beide zählen zu den großen Irrtümern des 19. Jahrhunderts. Wenn ich „große Irrtümer“ sage, liegt die Betonung auf groß, nicht auf dem Irrtum. Unsere Zeit wird anderen Irrtümern verfallen.

Was nun die Behauptung vom neuen Menschen angeht, den es nicht gibt, so braucht man nur einen Blick auf die ältesten Kapitel des Alten Testaments zu werfen. War ein Mann wie König Saul ein anderer Mensch als wir? Sein heftiger, glühender Ehrgeiz, sein finsteres Mißtrauen, sein Neid auf den schönen, erfolgreichen, tapferen David — ist uns ein einziges dieser Gefühle unverständlich? Haßt Saul den David anders, als ein Mensch unserer Tage einen anderen Menschen haßt: Ich kann das nicht finden. Und der Heerführer Saul, der zur Hexe von Endor geht, um sich den Ausgang seines Feldzugs gegen die Philister wahrsagen zu lassen — ist dieser hochgekommene Regent anders beschaffen als ein Industrieller unserer Tage, dessen Limousine vor der Haustür einer kostspieligen Astrologin wartet?

Die Geschichte des unglücklichen Königs Saul ist ein wundervoller Roman, in meinen Augen einer der großartigsten Romane, diei ch kenne, und einer der modernsten.

Der französische Lyriker Charles Baudelaire litt darunter, daß seine Mutter nach dem Tode seines Vaters eine zweite Ehe einging. Sooft der Dichter auf dieses Ereignis zu sprechen kam, das sein ganzes Leben überschattet hat, konnte er kein Ende finden, kein Ende mit Klagen und Vorwürfen. „Wenn man einen Sohn hat wie mich“, erklärte er seinen Freunden, „wie mich — und was das hieß, das wußten wir ja beide —: dann heiratet man nicht zum zweiten Mal!“

Dieser Satz könnte in einem modernen Roman stehen, weil der bürgerliche Mensch, jeder von uns, sich für eine Ausnahmeerscheinung hält, für ein einmaliges und unverwechselbares Wesen. — Das er ja tatsächlich ist.

Xerxes hat, nach Herodot, beim Anblick seines unübersehbaren Heeres geweint, indem er bedachte, daß von diesen Allen, nach hundert Jahren, Keiner am Leben sein würde: wer möchte da nicht weinen, beim Anblick des dicken Meßkatalogs, wenn er bedenkt, daß von allen diesen Büchern, schon nach zehn Jahren, keines mehr am Leben sein wird ... Neun Zehntel unserer ganzen jetzigen Litteratur hat keinen anderen Zweck, als dem Publiko einige Thaler aus der Tasche zu spielen: dazu haben sich Autor, Verleger und Recensent fest verschworen.

Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, XXIV/294, 295
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