Streifzüge, Heft 48
März
2010

Liebe und Freundschaft

Soll Liebe nicht verkümmern, braucht sie Freunde, die sich um sie kümmern

Liebe und Freundschaft wider Willen

Liebe und Freundschaft werden gern in einem Atemzuge genannt und gleichgesetzt. Von „Chaostheoretikern“ z.B., die die Natur nicht mehr länger als Chaos verstehen wollen, das des menschlichen bzw. göttlichen Subjekts bedarf, um in Ordnung zu gehen. Das Chaos, für das die Natur immer gehalten wurde, wenn auch nicht schon immer für ein unproduktives Chaos, das Chaos ruft sich schon selbst zur Ordnung – und das umso sicherer, je weniger subjektive Willkür das natürliche Gleichgewicht drangsaliert.

Die Natur, will Alfred North Whitehead (1984) wissen, hat einen ursprünglichen Ordnungssinn: Sinn für Freundschaft, wie er sagt – und wieder einmal den Wald, wenn auch nicht bevorzugt den deutschen, als Beweis dafür heranzieht. Er lehrt uns – anders als es uns Darwin weismachen wollte –, dass „jeder Organismus eine Umgebung von Freunden (braucht), teils um ihn vor gewaltsamen Veränderungen zu schützen, teils um seine Bedürfnisse zu befriedigen“ (239ff.). Jeder Organismus! Wald, Wiesen und Felder – und ebenso die Familie, die Schule und die Fabrik. „Eine Fabrik … ist ein Organismus, der eine Vielfalt von lebendigen Werten offenbart. Was wir auszubilden wünschen, ist die Gewohnheit, einen solchen Organismus in seiner Gesamtheit aufzufassen“ (231f.). Das ist insbesondere die Gewohnheit, eine Fabrik „mit ihren Maschinen, ihrer Gemeinschaft von Arbeitsgängen, ihrem sozialen Dienst an der Bevölkerung, ihrer Abhängigkeit von Organisations- und Planungstalent, ihren Potentialitäten als Quelle des Reichtums für Aktionäre“ (232), so zu sehen, wie der Wald zu sehen ist, den Whitehead als einen „Triumph der Organisation wechselseitig voneinander abhängiger Spezies“ (240) sieht. Wie dieser so ist auch die Fabrik nicht als Kampfzone zu verstehen, in der jeder Organismus nur um sein Überleben kämpft, sondern als „eine Umgebung von Freunden“ usw. (s.o.).

Whitehead ist kein Einzelkämpfer im Kampf für ein „Neues Denken“, das sich von dem veralteten Denken Darwins trennt. „Alle neueren Universal- und Einheitswissenschaften“, so Stephan Poromka, „plädieren für die Beobachtung des Komplexen, für die Nicht-Linearität, die Lebendigkeit, Eigendynamik und Selbstorganisation der Systeme, ihre Unplanbarkeit und Unsteuerbarkeit“ und werfen den klassischen Wissenschaften vor, „genau das ignoriert zu haben, um das Lebendige reduktionistisch mit einfachen, starren, uniformen Gesetzen ins Lineare, Determinierte und Reversible zu bannen“ (Poromka 114).

Was Whitehead „Freundschaft“ nennt, nennt Francisco J. Varela „Liebe“ (1990). Wie jene keine unter Freunden ist, ist diese keine unter Liebenden: keine Sache von Individuen, die sich aus freiem Willen und mit mehr oder weniger guten Gründen zu einem freundschaftlichen bzw. liebevollen Umgang miteinander entschließen. Die den „Überlebenseinheiten“ attestierte Freundschaft bzw. Liebe zu anderen „Überlebenseinheiten“ wurzelt tiefer – und funktioniert, ohne dass die einzelnen Glieder ausdrücklich an sie denken. Der Geist, der sie in Liebe und Freundschaft miteinander verbindet, ist der Natur von Natur aus eigen. Sie hat ihn einfach: als Hirntätigkeit, die sich früher äußert als wir gedacht haben und das objektive Geschehen zwischen den Dingen reguliert, das eine subjektive Auffassung von Liebe und Freundschaft nur stören kann.

Das freundschaftliche Geschehen in den diversen „Überlebenseinheiten“ lässt sich beobachten, doch nicht dingfest machen. Es zeitigt Wirkungen, die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussehen, in keinem Fall exakt bestimmen lassen. So chaotisch diese Wirkungen auch scheinen: Die in keiner bestimmten Wirkung zu fassende Wechselwirkung gehorcht einem „großen Gedanken“ (David Bohm), für den es auch wissenschaftliche Beweise gibt. Sie kommen aus der Atomphysik. Aus der Neurowissenschaft. Oder aus der Kognitionswissenschaft, die uns auch wissen lässt, wie wir uns dieses eigentümlich freudlosen Geistes von Liebe und Freundschaft versichern. In teilnehmender Beobachtung! Was uns dabei als bedeutungsvoll erscheint, das ist es nicht, sondern ergibt sich – aus einer Fülle von Aktionen, die für sich betrachtet scheinbar ganz geistlos sind und in ihrem Verhalten „viel stärker dem Stimmengewirr einer Cocktailparty als einer Kette von Befehlen“ gleichen (Varela 1990, 75).

Man muss nicht unbedingt „hirnforschungsorientiert“ sein, um zu wissen, dass das Gemurmel der Gäste einer Cocktailparty Sinn macht – und den Beobachtern dieses Gemurmels zu erkennen gibt, „was etwa in einem Büro geschieht“ und dass diese Beobachtung vielleicht „weitaus wichtiger und angemessener für ein Verständnis der Bürodynamik (ist) als etwa die herkömmlichen Organigramme in der Managementwissenschaft bzw. Betriebswirtschaftslehre“ (Varela 1990, 113f.). Man muss aber unbedingt „hirnforschungsorientiert“ sein und systemisch denken, wenn man davon ausgehen will, dass es die Bürogemeinschaft selber ist, die an ihrer Beobachtung interessiert ist – der Freundschaft wegen, mit Whitehead gesprochen; aus emotionalen Gründen, wie Hirnforscher Pöppel beweist; der Liebe wegen, wie Varela sagt – und davor warnt, die Liebe als eine ausdrücklich gesuchte Beziehung zu verstehen. Liebe, sagt das Hirn, das nicht nur Männer, auch Frauen haben, ist nicht zu machen, sondern anzuerkennen: als die offenkundige Tatsache, wie Varela mit Umberto Maturana einig (Varela/Maturana 1984) bekundet, „dass es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozess gibt“, dass also alles, „was die Annahme anderer untergräbt – vom Konkurrenzdenken über den Besitz der Wahrheit bis hin zur ideologischen Gewissheit – … den sozialen Prozess (unterminiert), weil es den biologischen Prozess unterminiert, der diesen erzeugt“.

Gewollte Freundschaft – nichts für „Weibspersonen“

Wer noch bei Sinnen ist, wenn er das „Gemurmel der Gäste einer Cocktailparty“ erlebt, wird nicht leugnen, dass es „emotional bewertend“ ist, seine Erfahrung aber gewiss nicht als „eingebettet in die Vorgeschichte der Erfahrung“ deuten, vielmehr als eingebettet in die Geschichte einer Erfahrung, die besagt, dass Liebe und Freundschaft ausgesuchte Begegnungen sind und als solche durchaus verschieden, wie jeder weiß, dessen Liebe nicht auf Gegenliebe stieß und der zum Trost Freundschaft angeboten bekam. Ein Unglück! Sagt Marx (MEW EB 1, 567). Glück im Unglück! Dürfte Michel de Montaigne sagen. Denn der Zustand, in den wir geraten, wenn wir auf Liebe machen, „ist ein wildes, flatterichtes, wallendes, und abwechselndes Feuer“, wie Montaigne überzeugt ist, „eine fieberhafte Hitze, die uns bald überfällt, bald aber sich wieder legt, und uns nur auf einer Seite einnimmt“ (Montaigne 2008, 36f.). Ganz anders ergeht es uns in der Freundschaft. In ihr waltet „eine beständige und stille Inbrunst, die holdselig und artig, nicht aber rau und stechend ist. Weiter ist bei der Liebe nichts als ein rasendes Verlangen nach dem, was uns flieht. Sobald sie sich in den Schranken der Freundschaft, das ist, in der Übereinstimmung des Willens hält, verschwindet sie und wird matt. Der Genuss ist ihr Verderben, weil ihre Absicht nur auf den Körper geht und endlich zum Ekel wird. Hingegen die Freundschaft genießt man desto besser, je mehr man sie wünscht: sie entsteht, nährt sich, und wächset nur bei dem Genusse, weil sie nur auf den Geist sieht“ (ebd.). Wozu „Weibspersonen gemeiniglich … nicht recht geschickt sind“ (ebd., 38). Schön wär’s, wenn sie dieses Geschick hätten – und zur Freundschaft so fähig wären wie Männer, so dass eine Freundschaft auch zwischen Mann und Frau sich ergeben könnte und derart nicht nur „die Seelen“, sondern auch „die Leiber“ in den Genuss der Freundschaft kämen. Womit gewiss „die Freundschaft noch vollkommener und vollständiger sein würde. Allein wir wissen kein Beispiel, dass dieses Geschlecht habe so weit gelangen können“ (ebd.).

Anders als „alle neueren Universal- und Einheitswissenschaften“ besteht Montaigne darauf, dass Liebe und Freundschaft von Menschen gesuchte und gefundene Verhältnisse sind – und keine Naturgegebenheiten, denen man gehorchen muss, wenn man den sozialen Prozess nicht unterminieren will: die Liebe wesentlich ein geschlechtliches Verhältnis, das bevorzugt zum anderen Geschlecht wahrgenommen wird, Freundschaft eher ein geschlechtsneutrales Verhältnis, das nicht unbedingt, doch bevorzugt zum gleichen Geschlecht gesucht wird. Für das aber „Weibspersonen gemeiniglich … nicht recht geschickt sind“. Fragt sich nur, wer diese von Montaigne angesprochenen Menschen sind und was sie in dem einen wie in dem anderen Fall suchen? Es sind in jedem Fall vorbildliche Menschen: Mannspersonen; Menschen also, deren Verhältnis zueinander und zur Welt nicht als ein menschliches vorausgesetzt werden kann, wie das Montaigne unterstellt. „Er sieht nicht“, so die Kritik von Marx und Engels an Feuerbach, die auch auf Montaigne zutrifft, „wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, dass sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren jede auf den Schultern der vorhergehenden ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte“ (MEW3, 43).

Wie Feuerbach, wie aber auch Whitehead und Varela usw., kommt Montaigne, weil er „die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange“ sieht, mit seiner Auffassung von Liebe und Freundschaft „nie zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei dem Abstraktum der Mensch stehen“ (ebd., 44). Es fehlt die Kritik der anstehenden Lebensverhältnisse, die „den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches“ in Aussicht nimmt (MEW EB 1, 567).

Freundschaft um der Liebe willen

1. Die Liebe ist eine Kunst

Vorausgesetzt, das Verhältnis des Menschen zum Menschen und zur Welt ist ein menschliches, so „kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. … Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, d.h., wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück“ (ebd.).

Die Liebe, die Marx vor Augen hat und die „den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches“ voraussetzt (ebd.) und unter dieser Voraussetzung mit dem „kleinen“ Unterschied zwischen Mann und Frau spielt, ist der Versuch des Mannes, sich mit einer bestimmten Äußerung seines wirklichen individuellen Lebens in das Leben der Frau einzumischen, diese aus der Fassung zu bringen und zu bewegen, ihre Fassungslosigkeit geistesgegenwärtig aufzugreifen, sie mit dem eigenen wirklichen individuellen Leben zu verbinden und durch dessen Äußerung rückwirkend auf den Mann einzuwirken, so dass auch er seine Fassung verliert, ins Taumeln gerät und sich ermuntert fühlt, seine Fassungslosigkeit in Verbindung mit der Frau neu zu verfassen, ein Paar bildend, das mit jeder Paarung sich erneuert, aufblüht und seine „Produktivkraft“ steigert.

Das als Liebe zu bezeichnende Verhältnis der Geschlechter zueinander ist nicht das Verhältnis von zwei unvollständigen Wesen, die einander vervollständigen, das mangelnde Vermögen durch das Vermögen des anderen ergänzen. Es ist keine Sache der Organisation vorhandener Schwächen und Stärken, kein soziales Anliegen, vielmehr ein Wahnsinn, in dem „immer auch etwas Vernunft“ ist, wie Nietzsche sagt (II, 306): ein „Lustzustand, den man Rausch nennt“ (III, 755) und der neues, ein anderes Leben will, sei es ein noch nie gehörtes Musikstück, ein zuvor noch ungesehenes Bild, einen völlig unbekannten Tanzschritt. Oder ein Kind. Was keinen wesentlichen Unterschied macht. Wie Nietzsche meint: „Musikmachen ist auch noch eine Art Kindermachen“ (III, 756), das Kindermachen dem entsprechend auch eine Art, Musik zu machen. In jedem Fall eine Kunst – und weder nur eine Technik noch ein bloß biologischer Vorgang –: die Kunst, etwas zu erzeugen, „was vorher nicht vorhanden, und … ebensowenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet“ ist (Wilhelm von Humboldt I, 268), ein Etwas also, das anstößig wirkt, das nicht nur eine andere Gemeinschaft in Aussicht nimmt, sondern die alte augenblicklich erneuert, um die gesellschaftlich erneuerte Gemeinschaft schon im nächsten Augenblick mit einem anderen Aspekt der Individualität bekannt zu machen, der die bekannte alt aussehen lässt – und aufhebt: einen Produktionsprozess initiierend, der von der Bahn, die ihn auf die Welt brachte, nur abweicht, um sie mit zusätzlicher Individualität, also auch mit weiteren und grundsätzlich mit allen Individuen fortzusetzen, auch wenn diese ihr menschliches Wesen hinter Bosheit verstecken.

2. Blumen des Bösen

„Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum“ (MEW 3, 6). Es wohnt auch nicht an einem festen Ort in einer auserwählten Gemeinschaft. Das menschliche Wesen wohnt dem einzelnen Individuum als Sehnsucht und Suche nach diesem Wesen inne: als ein empfindsames Leiden an der unmittelbaren Wirklichkeit, das es leidenschaftlich nach einer anderen, schöneren Wirklichkeit suchen lässt, die nur zu verwirklichen ist, wenn das Individuum mit Liebe zur Sache kommt – und seine körperliche und geistige Kraft zur Veränderung der Welt vergesellschaftet, d.h. sie aus eigener Kraft mit der anderer Individuen produktiv vermittelt. Und dazu sind grundsätzlich alle Menschen eingeladen. Nicht nur die bekannten und vertrauten, sondern auch die Masse der unbekannten Menschen. Erst mit dieser Einladung ist das natürliche Dasein des Menschen ein „menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden“ (Marx EB 1, 537f.). Was dem Einladenden die Fähigkeit abverlangt, sich unbekannten Reizen hinzugeben, ohne sich aufzugeben, den massenhaften Reizen, wie Baudelaire schreibt, einen individuellen Reiz abzugewinnen.

Baudelaire beschreibt diese Fähigkeit als die Fähigkeit des modernen Künstlers, dem die Menge auf den Straßen und Plätzen, in den Warenhäusern ein ebenso leidenschaftliches Bedürfnis ist wie seine Einsamkeit. Er braucht die Menge, wie der Vogel die Luft, der Fisch das Wasser braucht. Seine „Gesundheit“ verlangt, „sich mit der Menge zu vermählen“ (Baudelaire 5, 220). Wie sie von ihm verlangt, was sie von Fischen und Vögeln nicht verlangt: die Menge der widerfahrenden Ereignisse künstlerisch zu verarbeiten. „Er ist ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt, und dieses in jedem Augenblick wiedergibt, es in Bildern darstellt, die lebendiger sind als das immer unbeständige und flüchtige Leben selbst“ (ebd., 222). Er nennt sie „Die Blumen des Bösen“, zu denen auch die „Eine“ gehört, „die vorüberging“:

üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften Saum;
Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber trank, im Krampf wie ein Verzückter, aus ihrem Auge, einem fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört, die Lust, die tötet.
Ein Blitz … und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen?

(Baudelaire 3, 245)

3. Ein „Kraftakt von doppelter Kraft“

Um die „Flüchtige Schönheit“, von deren Blick der Künstler plötzlich neu geboren war, noch im Diesseits wiederzusehen, muss das neugeborene Ich sein gegenwärtiges Du als Neugeborener ansehen – und es verzückt neu gebären: im Akt der Liebe, der ein „Kraftakt“ ist, wie von Humboldt sagt; ein „Kraftakt von doppelter Kraft“: passiv, empfangend, leidend die eine, aktiv, tatkräftig, leidenschaftlich die andere, „eine auf Wirkung und eine andre auf Rückwirkung“ gerichtete Kraft. Wobei „dieser Unterschied nur in der Richtung, nicht in dem Vermögen (besteht). Denn wie die tätige Kraft eines Wesens, so auch seine leidende, und wiederum umgekehrt. Etwas bloß Leidendes ist nicht denkbar“ (277f.), wie eine tätige Kraft ein Unding ist, die vom Stoff, den sie bearbeitet, unberührt bleibt. Die Zwiespältigkeit ist entscheidend. Sie ist entscheidend nicht nur für den unmittelbaren Geschlechtsakt.

Die Differenz zwischen Mann und Frau sorgt auch sonst im Leben für Spannung, die die „Wechselwirkung der Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit“ (274f.) zur Voraussetzung hat. Sie spaltet die menschliche Art natürlich nicht in zwei verschiedene Arten, in der Welt zu sein. So oder so wird die Welt in der Art von Menschen wahrgenommen, die im Unterschied zu jeder anderen Art individueller, d.h. gesellschaftlicher Natur ist. Sie erlaubt es ihnen, sich in Freiheit zu paaren: wann, wo und wie es ihnen beliebt. Sie können, wenn sie wollen, ihre Tage auch in langweiliger und erschlaffender Gleichheit miteinander verbringen. Wollen sie sie schöpferisch, lustvoll, produktiv miteinander verbringen – mit „Genie“ zum Vorschein bringen, „was vorher nicht vorhanden“ war, sich ihr eigenes Leben erfinden –, dann müssen sie jenen „ästhetischen Zustand“ wollen, der, wie Nietzsche schreibt, „einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln … mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen“ vereint (III, 753). Sie müssen diesen Zustand, wie gesagt, wollen. Er überkommt sie nicht, wie er die Katze und den Kater zur Paarungszeit überkommt. Sie müssen sich die Zeit dazu nehmen: eine „Ich-Du-Beziehung“ (Martin Buber) eingehen, die gut daran tut, die Natur des Unterschieds von Mann und Frau, dem „nicht bloß die Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut“ ist, sondern aus dem „auch die reinste und geistigste Empfindung“ hervorgeht (von Humboldt, 274), nicht als Prägung zu werten, sondern gesellschaftlich zu nutzen – und die geschlechtliche Liebe „weit über die beschränkte Sphäre hinaus, in die man (sie) einschließt, in ein unermessliches Feld zu versetzen“ (268) und auf diesem „weiten Feld“ zum Vorschein zu bringen, „was vorher nicht vorhanden und … ebensowenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet“ ist, was eine „wirkliche Erfindung“ ist, die nur „durch diese Wechselwirkung der Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit“ zustandekommt.

4. Liebeskummer

Freundschaft ist nicht Liebe. Von ihr aber auch nicht zu trennen. Ist Liebe wesentlich ein geschlechtliches Verhältnis, das bevorzugt zum anderen Geschlecht wahrgenommen wird, so ist Freundschaft ein geschlechtsneutrales Verhältnis, das nicht unbedingt doch bevorzugt zum gleichen Geschlecht gesucht und gefunden wird. Will sie nicht, wie in der bürgerlichen Gesellschaft üblich, „bei dem Abstraktum der Mensch“ stehen bleiben und den „wirklichen, individuellen, leibhaftigen Menschen“ nur in der Empfindung anerkennen, will Freundschaft ihrem Anspruch – bei dem „wirklich existierenden, tätigen Menschen“ anzukommen – gerecht werden (MEW 3, 44), dann kann sie nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen und insbesondere nicht von dem Verhältnis des Freundes zum anderen Geschlecht absehen, das nun einmal das „unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist“ (EB 1, 535). Der Freund muss sich darum kümmern. Nicht nur um die Kümmernisse des Freundes, sondern um die Kümmerlichkeiten dieses Verhältnisses, das die Liebenden zwingt, sich um eine Arbeit zu kümmern, die mit Liebe und Freundschaft praktisch nichts im Sinn hat. Dem entsprechend spekuliert jeder Mensch nur darauf, „dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten“ (EB 1, 546f.).

Wenn der ideale Freund „keine Kritik der jetzigen Lebensverhältnisse“ (MEW 3, 44) gibt, der wirkliche gibt sie. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Er mischt sich in das befreundete Liebesleben ein. Etwa dadurch, dass er die angetraute Frau des Freundes (bzw. sie den Mann der Freundin) zum Tanzen auffordert – und so der theoretischen „Kritik der jetzigen Lebensverhältnisse“ spielend auf die Sprünge hilft. In dem Wissen: „Auch was tanzt, will anders werden und dahin abreisen“ (Bloch, 456f.). Und wird auch anders, wenn es denn mit Liebe tanzt, die eine Kunst ist: „die Kunst“, wie Brecht sagt, „etwas zu produzieren mit den Fähigkeiten des andern. Dazu braucht man von dem andern Achtung und Zuneigung. Das kann man sich immer verschaffen“ (87). Man muss sich nur die Zeit dafür nehmen: Zeit, die nicht dem Takt des Geldes gehorcht, sondern einem Rhythmus, dessen Zweck die „Verlängerung des Augenblicks der sinnenden Betrachtung“ ist, wie der irische Dichter William Butler Yeats schreibt: „des Augenblicks, in dem wir zugleich träumen und wachen“ und der „der einzige schöpferische Augenblick“ ist, „in dem sich das Gemüt, befreit vom Drang des Willens, in Sinnbildern entfalten kann“ (zit. nach George Thomson: Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis. Berlin 1960, 391), die freilich ohnmächtig bleiben, wenn die Sinnbilder nicht zu einer bestimmten Äußerung des wirklichen individuellen Lebens werden, mit der sich die Tanzenden ungeschickter Weise auf die Füße treten und sich damit entschuldigen, dass sie sich gegenseitig in eine geschicktere Tanzbewegung schicken, um sich auf diesem Wege in ihrem „individuellsten Dasein“ miteinander zu verwickeln: ein Paar bildend, das am Ende des Tanzes nicht dasselbe ist als das zum Tanzen angetretene und für das traute Paar eine Provokation darstellt, die nicht als Kriegserklärung zu verstehen ist, sondern als Liebeskummer, mit dem nicht das fliehende Eheglück zu bejammern, sondern das in dieser Beziehung Unterdrückte zu betrauern ist – im „Erfassen der flüchtigen Bilder“ (Benjamin I.3, 1244), die von einem ganz anderen, fernen Liebesglück sprechen. Und die nur zu fassen sind, wenn das in seiner Liebe dahinkümmernde Paar auch andere Liebesbeziehungen eingeht. Doch nicht, um den alten „Partner“ gegen einen neuen auszutauschen, weil, wie man meint, das „Potential“ erschöpft, in der Beziehung keine Lust mehr zu finden sei, man und frau einfach Abwechslung brauchen.

„Es gibt keinen ärgeren Sophismus“, bemerkt André Breton (114f.), als zu behaupten, die „erotische Spannung zwischen zwei Menschen“ lasse mit der Zeit nach, dass also „die Liebe in dem Maße, als sie ihre Verwirklichung erstrebe, sich selber der Zerstörung“ aussetze. „Nichts Herzloseres, nichts Trostloseres als diese Vorstellung“. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass die erste „Partnerwahl“ aus ökonomischen und moralischen Gründen keine freie Wahl war – und jede neue Wahl so unfrei wie die vorausgehende. „Wenn die Wahl wirklich frei war, kann, wer sie getroffen hat, sie unter keinen Umständen anfechten“. Die Liebe auf den ersten Blick macht nur den Anfang einer Liebesgeschichte, die durch einen zweiten, dritten, durch immer neue Blicke auf die Probe zu stellen ist. Nicht ausgeschlossen, eher zu erwarten, dass der Blick auch auf ein fremdes Gesicht fällt – und sich darin verliebt. Das muss zum Bruch der Ehe führen. Nicht zur Untreue. „Nichts Herzloseres, nichts Trostloseres als diese Vorstellung“. Herz- und trostlos ist aber auch die Vorstellung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: dass die Liebe zu dem oder der Einen die Liebe zu einem oder einer Anderen ausschließt.

Die erste „große“ Liebe muss eine zweite nicht weniger „große“ nicht ausschließen. Das versteht sich in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind von selbst. Ihre Liebe zu dem einen verträgt sich problemlos mit der zu dem anderen. Das muss für die Liebe zwischen Mann und Frau nicht anders sein, auch wenn in dieser offensichtlicher als in der Mutter- oder Vaterliebe die sexuelle Lust mit im Spiel ist. So individuell in diesem oder jenem Fall die Liebeslust auch ist, so wenig muss die Individualität der einen Liebeslust durch die andere eingeschränkt werden. Vorausgesetzt, dass keiner darauf spekuliert, „dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten“ (EB 1,546f.).

5. Wirkliche Freundschaft hört bei Geld nicht auf

Vorausgesetzt, die Liebe ist so frei, dass sie sich gegen Liebe tauschen kann – und nicht gezwungen ist, sich mit Sex, Geld oder einem anderen verführerischen Angebot beliebt zu machen, nicht genötigt, den anderen mit gemeinen Mitteln in Besitz zu nehmen, in der Lage, durch Liebe Liebe zu produzieren, dann ist das traute Paar nicht geschieden, wenn die Vertrauten sich auch anders paaren – und sich zutrauen, das hier wie da erzeugte „Mehr von Kraft“ (Nietzsche) als gemeinsame Kraft zu bekunden, für die ihre Erzeuger als Freunde bürgen, deren Freundschaft bei Geld – anders als bei der bürgerlichen Freundschaft – nicht aufhört.

Freundschaft, die nicht „bei dem Abstraktum der Mensch“ stehen bleiben, die „zu den wirklichen existierenden, tätigen Menschen“ vordringen, ihn nicht nur in der Empfindung anerkennen will, kann nicht das Privateigentum anerkennen. Es ist abzuschaffen! Das Privateigentum aber ist nicht abzuschaffen, wenn die Menschen es nicht schaffen, sich ein Dasein zu schaffen, in dem das Privateigentum sich aufhebt. Wie die „ganze Bewegung der Geschichte … wie ein wirklicher Zeugungsakt (ist) – der Geburtsakt seines (des Menschen) empirischen Daseins“ (EB 1, 536) –, so ist auch die Abschaffung des Privateigentums und der darauf zugeschnittenen Beziehungen, die Abschaffung also auch der Ehe, die Abschaffung der staatlichen Bevormundung nicht ein Staats- oder sonst ein Gewaltakt, sondern „ein wirklicher Zeugungsakt“: der Geburtsakt eines empirischen Daseins, das nicht für einen Geist spricht, den es hat, vielmehr von einem, der ihm fehlt, der die Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Dingen revolutioniert – und sie zu immer neuer „Bestätigung der menschlichen Wesenskraft und neue(r) Bereicherung des menschlichen Wesens“ ermuntert (EB 1, 546), das „kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum“ ist, auch nicht eine von diesem oder jenem Volk verkörperte Wesenheit, sondern in „seiner Wirklichkeit“, wie Marx schreibt, „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW 3, 6), das nicht falsch zu verstehen ist. Nicht als Zustand, der nur zu bestätigen ist, sondern als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (ebd., 35), der selbst ein wirklich gewordener, gesellschaftlich produzierter Zustand ist – und nicht „etwa eine bloß abstrakte Tat des Selbstbewusstseins, Weltgeistes oder sonst eines metaphysischen Gespenstes“. Er „ist eine ganz materielle, empirisch nachweisbare Tat, eine Tat, zu der jedes Individuum, wie es geht und steht, isst und trinkt und sich kleidet, den Beweis liefert“ (ebd., 46).

Wie gesagt: Jedes menschliche Individuum liefert den Beweis, auch wenn es längst nicht mehr lebt. Jedes Individuum, auch wenn es nicht vor Ort ist, an einem unbekannten, weit entfernten Ort lebt und arbeitet. Und wie jedes Individuum für den jetzigen Zustand wesentlich war, ist es auch wesentlich, um ihn aufzuheben. In den Worten Bretons: „Unsere Chance ist über die Welt hin verstreut, wer weiß wo, allenthalben nur darauf wartend, sich zur Blüte zu entfalten, doch knitterig wie der Mohn in seiner Knospe“. Doch Vorsicht! Wir verspielen unsere Chance, wenn wir „allein nach ihr auf die Suche“ gehen (Breton, 40). Wir müssen sie in Begleitung suchen. „Die Sympathie, die zwischen zwei, zwischen mehreren Menschen besteht, scheint wohl geeignet, sie Lösungen näherzubringen, die zu erreichen sie getrennt vergebens hoffen würden“ (ebd., 39).

„Sympathie“ nennt Breton das Programm, das die „Bekannten, Erreichbaren“ miteinander verbinden muss, um Lösungen zu erreichen, „die zu erreichen sie getrennt vergebens hoffen würden“. Wir haben „Freundschaft“ gesagt – und darauf hingewiesen, dass sie wenig hilft, wenn die miteinander Befreundeten sich nur in der Empfindung anerkennen, sie bei dem Abstraktum der Mensch stehen bleiben, nicht zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen vordringen, wozu die Kritik ihrer Lebensverhältnisse, die ihres falschen Bewusstseins eingeschlossen, nicht fehlen darf. So gesehen, kommt Freundschaft die Aufgabe zu, sich darum zu kümmern, dass der Akt der Liebe, der ein „Kraftakt von doppelter Kraft“ ist, dem „nicht bloß die Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut“ ist, sondern aus dem „auch die reinste und geistigste Empfindung“ hervorgeht (von Humboldt, 274), auch überdacht wird, nicht nur im geistigen, sondern auch im materiellen Sinne, er eine Wohnung findet, die schwer enttäuscht wäre, wenn ihre Bewohner sich weigerten, ihr miteinander belastetes Leben auf sie zu übertragen und Kräfte in ihr anzusprechen, die ihren „beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus treiben zu einem menschenwürdigen hin“ (Adorno).

Literatur

  • Baudelaire, Charles-Pierre: Sämtliche Werke / Briefe in acht Bänden, München Wien 1975 ff.
  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften (12 Bände), Ffm. 1980.
  • Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung I. Ffm. 1959.
  • Brecht, Berthold: Geschichten von Herrn Keuner, Ffm. 1971.
  • Breton, André: L’Amour fou, Ffm. 1989.
  • Montaigne, Michel de: Von der Freundschaft und andere Essais, Ffm. 2008.
  • Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, München 1954-65.
  • Poromka, Stephan: Hypertext, München 2001.
  • Varela, Francisco J.: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik, Ffm. 1990.
  • Varela, Francisco J. / Maturana, Umberto: Der Baum der Erkenntnis, München 1984.
  • von Humboldt, Wilhelm: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur in: Bd.1 der Werke in fünf Bänden, Darmstadt 2002.
  • Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt, Ffm. 1984.
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