Heft 2/2000
April
2000

Liebe Leserin, lieber Leser!

„Österreich ist ein normales Land“, so tönt es von rechtsaußen bis zu den Linkspatrioten von SPÖ und Grünen. Zu dieser Normalität gehört offenbar auch die historische Amnesie von Regierungspolitikerinnen. Auf die Erzählung eines NGO-Vertreters, daß auf seiner Heimatinsel Rhodos vor dem Zweiten Weltkrieg 2000 Juden lebten, nachher jedoch nur mehr sechs, reagierte die freiheitliche Sozialministerin Sickl mit der Nachfrage, wohin denn der Rest „gegangen“ sei. Es ist kaum vorstellbar, daß solch eine Person in einem der Staaten, die einst von Deutschen und Österreichern überfallen wurden, am nächsten Tag noch ein Regierungsamt bekleidet hätte. Das ist die Normalität in westlichen Demokratien. In Österreich hingegen haben wir es mit der Normalität einer postnationalsozialistischen Gesellschaft zu tun.

In den letzten Heften von Context XXI wurde mehrfach auf die Gemeinsamkeiten sowohl von der FPÖ und allen anderen Parlamentsparteien als auch von der österreichischen und der resteuropäischen Politik verwiesen. Dennoch gibt es auch Unterschiede. Festmachen lassen sich diese vor allem am Antisemitismus. So sehr der Rassismus und Nationalismus eines Haider jenem von sämtlichen westeuropäischen demokratischen Normalstaatsrassisten und -nationalisten ähnelt, ist doch immer wieder darauf zu verweisen, daß die österreichische Gesellschaft der Zweiten Republik aus dem NS hervorgegangen ist. Und nur in solch einer Gesellschaft kann die mit sämtlichen Motiven des sekundären Antisemitismus arbeitende antisemitische Agitation Haiders und anderer FPÖler in der Form funktionieren, wie wir es seit geraumer Zeit erleben müssen. Nicht zuletzt deshalb geht es im vorliegenden Heft nicht nur um die sozial-, wirtschafts- und kriegspolitischen Vorstellungen der FPÖ-ÖVP-Koalition, sondern auch erneut sowohl um den rassistischen und antisemitischen Konsens der österreichischen Bevölkerung als auch, in Anknüpfung an das Heft 1/2000 von Context XXI, um den Versuch einer allgemeinen theoretischen Durchdringung antisemitischer Projektionen. Anstatt die Konsequenzen daraus zu ziehen, daß jeder Versuch, Österreich zu denken, immer auch heißt, Auschwitz zu denken, spielen sich zahlreiche Linke als wahre Anwälte des Volkes auf. Das Volk ist aber nichts anderes als der sich selbst zum Maßstab aller Dinge setzende nationalistische Mob, der bewußtlose wie fanatische Reflex auf den Zwang zu Staatsloyalität und Kapitalproduktivität. Das scheint viele Demonstrierende jedoch nicht zu stören, und so kann man dann in einigen Flugblättern Aufrufe zum „Widerstand des Volkes gegen den Neoliberalismus“ lesen — eine Formulierung, mit der kaum ein Neonazi Probleme hätte.

Über Neoliberalismus und Globalisierung wird es in nächster Zeit erneut heftige Debatten geben. Ende September findet in Prag die Tagung von Weltbank und IWF statt, wogegen linke Gruppen bereits jetzt mobilisieren. Wir hoffen, mit dem Text von Michael Heinrich über den globalisierten Konkurrenzkapitalismus etwas zu den zu erwartenden Diskussionen beitragen zu können. Im nächsten Heft von Context XXI wollen wir die eher theoretisch gehaltenen Ausführungen von Heinrich durch Beiträge zur Diskussion um die Besteuerung von Spekulationsgewinnen ergänzen. Darüber hinaus planen wir für die Doppelnummer 3+4/2000 einen kleinen Schwerpunkt zu „Widerstand“, mit dem wir versuchen wollen, etwas zur grundsätzlichen Reflexion der bisherigen Aktivitäten gegen die blau-braun-schwarze Regierung beizutragen.

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