FORVM, No. 14
Februar
1955

Liberalismus — Pro und Contra

Ob der Liberalismus im einstigen Sinn heute noch eine politische Realität darstellt oder nicht — man wird, wenn man das Terrain nach einer „dritten Kraft“ sondiert, schwerlich um ihn herumkommen; und es scheint uns in diesem Z usammenhang besonders vermerkenswert, daß ein so bedeutender Theoretiker der modernen Soziologie wie Prof. André Philip, dessen Analyse der europäischen Situation wir im vorliegenden Heft veröffentlichen, sich an einer relevanten Stelle seiner Ausführungen für einen wirtschaftlichen Liberalismus einsetzt. — Zum eigentlichen Problem des Liberalismus haben nachstehend zwei extrem entgegengesetzte Meinungen das Wort: einerseits, als Anwalt des Liberalismus, Prof. Jürgen von Kempski (vgl. FORVM Nr. 3: „Das kommunistische Palimpsest“), anderseits Dr. Gerhard Szczesny, politischer Kommentator des Bayerischen Rundfunks und, wie man unschwer erkennen wird, Verfechter eines sozialistischen Standpunkts.

Jürgen v. Kempsik: Eine historische Notwendigkeit

Es ist leicht, aus dem Liberalismus einen Popanz zu machen, mit dem sich niemand mehr identifizieren, möchte. Wo immer sich in der Politik die Forderung nach Freiheit stellte, da stellte sie sich in konkreter Form. Die Freiheit, nach der man verlangt, ist zunächst einmal die Abschaffung von Beschränkungen, von bisher erduldeten Vorrechten anderer, und die Einsetzungin bisher versagte Rechte. So forderte man Gewerbefreiheit gegen ein als Zwangsjacke empfundenes Zunftsystem, so forderte man Freiheit der Produktion und des Handels gegen eine merkantilistische Wirtschaftspolitik des Staates, so forderte man Pressefreiheit gegen die Zensur usw. Der Liberalismus ist der historische Träger all dieser Forderungen, aber er geht in ihnen nicht auf. Wie jede politisch-geistige Bewegung von einiger Bedeutung begnügte er sich nicht damit, konkrete politische Forderungen zu stellen. Er untermauerte sie durch Theorien, die naturgemäß keinen Ewigkeitswert haben — am wenigsten die harmonistische Theorie, daß man die Wirtschaft nur sich selber zu überlassen brauche, um einen für alle befriedigenden, ja optimalen Zustand herbeizuführen. Hinter diesem Glauben an eine natürliche Harmonie steckten allerlei philosophische Prämissen, eine ganze, runde Anthropologie. Es war ein frommer Glaube, und wir wissen heute, daß er falsch war. Aber so wenig man leugnen kann, daß diese harmonistische Theorie vielfach von Liberalen zur Grundlage genommen worden ist, so irrig wäre die Annahme, der Liberalismus sei auf Gedeih und Verderb mit ihr verbunden. Besonders der deutsche Liberalismus war schon in seinen Anfängen ziemlich frei davon. Er stand viel zu sehr unter dem Einfluß Kants, und die Lehre, die Kant ihm tief eingeprägt hat, ist eine Theorie über den Staatszweck. Der Zweck des Staates besteht danach in der Sicherung der Rechte aller, und das Rechtsprinzip selber ist nach Kant bekanntlich die Vereinigung der Freiheit eines jeden mit der jedes andern nach allgemeinen Gesetzen.

Diese etwas abstrakten Formeln heben das ganze Problem des Liberalismus. auf eine neue Ebene, auf der sich reden läßt. Sie lösen nicht die Frage, die der Liberalismus aufwirft, sondern sie stellen sie. Die harmonistische Theorie ist eine Lösung und eine falsche dazu; wie man ja überhaupt mit jeder Antwort auf eine Frage riskiert, etwas Falsches zu sagen, und in der Politik wird wohl jede Antwort immer nur den konkreten, also veränderlichen Umständen nach „richtig“ sein können. Aber eine Frage, wenn sie eine echte Frage ist, bleibt bestehen.

Freiheit ist unbequem

Man kann selbstverständlich leugnen, daß der Staatszweck die Sicherung der Rechte aller ist. Dann entfällt auch die Frage, wie man den Staat einrichten müsse, damit er diesem Zwecke genüge. Und man kann leugnen, daß das Rechtsprinzip in der Vereinigung der Freiheit eines jeden mit der jedes andern zu suchen sei. Damit entfiele die Frage, wie die Gesetzgebung beschaffen sein müsse, damit jedermanns Freiheit gesichert sei. Es gehört nicht allzuviel Phantasie dazu, um zu sehen, daß mit der Leugnung dieser Voraussetzungen jeder Liberalismus, der sich von der bloßen Interessenvertretung einer bestimmten Gruppe unterscheidet, in sich zusammenbricht.

Die Geschichte pflegt den Menschen nichts zu schenken. Wenn das Bürgertum im Namen des Liberalismus seine „Freiheiten“ durchsetzte, so darf man nicht erwarten, daß der dritte Stand nun auch die Emanzipation des vierten Standes auf seine Fahnen schriebe. Die Fürsorge für den „Arbeiter‘‘ lag vielmehr im Sinne der alten, zu überwindenden feudal-patriarchalischen Verhältnisse. Aber als dann die Arbeiterklasse sich emanzipierte, lag das durchaus im Sinne des Liberalismus, auch wenn es nicht in seinem Namen geschah. Der Sozialismus in fast allen seinen Spielarten ist eine Antwort auf die Grundfrage des Liberalismus, genau wie der Harmonismus der Konkurrenzwirtschaft und kaum weniger falsch als dieser. Man könnte geradezu sagen, daß der Liberalismus die Freiheit realisieren wolite, indem er auf ihre gesetzliche Regelung verzichtete, während der Sozialismus sie zu realisieren gedachte, indem er zunächst einmal auf sie selbst Verzicht leisten wollte. Das ist gewiß ein wenig zu pointiert gesagt, aber nur ein wenig. Im Grunde hieß beides, sich die Beantwortung der Frage, die der Liberalismus aufwirft, sehr bequem machen. Denn diese Frage zielt darauf ab, wie man hier und jetzt Staat und Gesetze einrichten müsse, um jedem sein Recht und seine Freiheit zu geben und zu garantieren.

Freilich muß man sich über eines klar sein: Freiheit ist etwas Unbequemes, sie ist etwas durchaus Männliches und insofern keineswegs ein Gegenstand allgemeiner Sehnsucht. Sie verträgt sich nur schwer mit dem heute so gesteigerten Sekuritätsbedürfnis oder dem Bedürfnis nach Freizeit. Sicherlich kann man sich das Bild einer Betriebsverfassung ausmalen, in der die Betriebsangehörigen den Produktionsplan demokratisch bestimmen oder mitbestimmen. Ein solches Bild ist äußerst unrealistisch und würde, allgemein durchgeführt, die Wirtschaft in nicht geringe Unordnung bringen. Das heißt keineswegs, daß eine Wirtschaftsdemokratie sich nicht in einem gewissen Maß realisieren ließe oder daß sie nicht wünschenswert wäre. Aber bestimmte Entscheidungen gehören nun einmal zur Kompetenz der Einzelnen, die sie verantwortlich zu treffen haben.

Zwischen Sozialismus ...

Der Sozialismus hat, indem er sich die Stärkung der wirtschaftlich schwachen Volksteile angelegen sein ließ, eine sehr wichtige Frage aufgeworfen, die der Liberalismus vernachlässigt hatte. Es ist selbstverständlich richtig, daß alle Freiheiten dem nichts nützen, der keinen Gebrauch von ihnen machen kann, weil ihm dazu die Mittel fehlen. Das gilt besonders für den freien Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten, die der Staat bietet, zumal der Erwerb einer entsprechenden Bildung eine wesentliche Voraussetzung für die Erringung der höheren sozialen Position ist. Diese Frage ist heute keine Rechtsfrage mehr, und insofern ist sie längst im liberalen Sinne entschieden. Sie ist nur immer noch und weithin eine Frage des elterlichen Geldbeutels, und sie davon möglichst unabhängig zu machen, ist eine Forderung, die den Staat als Wohlfahrtseinrichtung angeht. Damit berühren wir ein viel allgemeineres Problem, das des sogenannten Wohlfahrtsstaates. Nicht ohne Grund hat der Liberalismus erhebliche Hemmungen, die Wohlfahrt als Staatszweck anzusprechen. Fällt dem Staat die Aufgabe zu, das Recht des Einzelnen und den Raum seiner Freiheit zu sichern, so heißt das nichts anderes, als daß er es dem Einzelnen möglich macht, seine Interessen in den Grenzen des Gesetzes zu verfolgen. Wohlfahrt als Staatszweck würde aber bedeuten, daß der Staat selber die Besorgung dieser Interessen vornimmt — und genau das ist es, was der Liberale perhorresziert und perhorreszieren muß. Hingegen läßt sich sagen, daß der Staat den wirtschaftlich Schwachen in die Lage versetzen müsse, von seinen Rechten Gebrauch zu machen. Insoweit schließt auch der liberale Staatsgedanke in der Tat eine Wohlfahrtstätigkeit ein.

Aber die Dinge liegen noch etwas komplizierter. Die Sicherung der Rechte aller als Staatszweck führt notwendig zur sogenannten Gewaltentrennung, und daraus ergibt sich eine Beschränkung der Exekutive auf bloße Polizeifunktionen. Hier liegt der Punkt, an dem sich die liberale Staatstheorie immer festgefahren hat. Entweder verurteilte sie den Staat zum Nachtwächterdasein, wobei sie zumeist nicht allzu konsequent verfuhr, aber doch so, daß ihre ‚‚Staatsfremdheit‘“ reichlich penetrant war; oder sie belud den Staat noch mit Zwecken machtpolitischer, kultureller, sozialer Art, die sich verständlicherweise mit dem Rechtszweck nicht zum Ausgleich bringen ließen. In Wirklichkeit aber sind die Staatsorgane noch Träger einer ganz andern Funktion, als sie vom Recht her sichtbar wird. Durch sie handelt das Volk als Ganzes. Genauer ausgedrückt: Es gibt eine umfassende Situation aller Staatsbürger, die jeden an seinem besonderen Platz und in seiner besonderen Lage umfaßt — und die eigentliche Regierungstätigkeit von Parlament und Regierung besteht darin, diese Gesamtsituation zu verändern, umzuformen, in eine bestimmte Entwicklungsrichtung zu lenken. Die Ziele, die man hierbei verfolgt, sind politische Ziele, aber sie sind nicht Staatszweck. Diese Unterscheidung ist ganz fundamental; denn von hier aus kann der Liberalismus eine Theorie der Politik entwickeln, die dem Politischen ebenso genugtut, wie sie am Prinzip des Rechtsstaates unverwandt festhält.

Zu dieser Gesamtsituation gehört es, daß sie gegen außen relativ abgeschlossen ist. Das ist die Folge der Zusammenfassung der von ihr umfaßten Personen als Staat. Solche Gesamtsituationen haben ihre eigene Dynamik — auch wenn man vom Verhältnis der Staaten untereinander einmal ganz absieht. Vor allem muß man sich klarmachen, daß das Handeln der Einzelnen oder von Gruppen auch dann, wenn es durchaus ‚‚privat‘‘ gemeint ist und sich im Rahmen der Gesetze hält, die Gesamtsituation mehr oder weniger stark tangieren kann und eben damit politisch relevant wird. Daran hat die politische Theorie des Liberalismus vorbeigesehen. Die totalitären Theorien haben das viel schärfer erkannt und ihre offene Verachtung des Liberalismus beruht gerade hierauf. Aber die Totalitären leugnen das Recht als Staatszweck, sie setzen die politische Zielsetzung als Staatszweck ein. Das ist ihr eigentliches Charakteristikum, nicht nur der brutale Terrorismus, mit dem sie ihr Ziel anstreben. Dieser Umstand ist wiederum der politischen Theorie des Sozialismus noch keineswegs ganz klargeworden, obwohl der Sozialismus heute doch eine mit totalitären Systemen unverwechselbare freiheitliche Ordnung anstrebt. Man kann das Tun und Lassen der Einzelnen und der Gruppen nicht völlig aus der Politik herausheben; trotzdem besteht das Wesen des Rechtsstaates darin, jedem rechtlich den gleichen Spielraum zur Verfolgung seiner Interessen zu gewähren und zu garantieren.

... und Konservativismus

Schließlich sei noch eine Bemerkung gestattet, die das Verhältnis des Liberalismus zum Konservativismus betrifft. Man sollte auch den Konservativismus nicht zu einem Popanz machen, zur bloßen Ideologie reaktionärer Cliquen. Solche Behauptungen sind für Wahlkämpfe sehr brauchbar, doch sollte man niemals vergessen, daß alle Parteien irgendwelche Interessen vertreten und für diese ihre berechtigten und unberechtigten Ideen strapazieren; wie man auch niemals vergessen darf, daß eine wahre Idee durch Mißbrauch nicht weniger wahr wird.

Der Konservativismus hält nichts von „Prinzipien“ und viel oder alles von geschichtlich gewachsenen Traditionen. Darin liegt ein berechtigtes Moment, das der Liberalismus um so weniger übersehen darf, als viel liberales Gut heute schon die Sanktion der Tradition erlangt hat. Gerade Rechtsinstitutionen bedürfen dieser Sanktion, wenn sie von Dauer sein sollen. Deshalb muß das gewordene Recht im liberalen Sinn weiterentwickelt werden, in dem Maße, wie es das allgemeine Rechtsbewußtsein erlaubt. Die große Chance des Liberalismus liegt in dem Prozeß, den die Soziologie als ‚‚Institutionen-Zerfall‘‘ beschreibt: Zersetzung und Auflösung des Glaubens an die religiös oder durch Tradition geheiligte Natur von Rechtsinstituten, eines Glaubens, der die Menschen mancherlei rechtliche Benachteiligung als selbstverständlich ertragen ließ, solange er lebendig war. Hier gilt es nun, die Entwicklung gemäß dem Rechtsprinzip zu lenken, und hier liegt die Bedeutung des Liberalismus auch für unsere Zeit, ja gerade für sie.

Der Liberalismus hat das Recht zu vollenden. Das ist eine Aufgabe, die sich ihm nicht nur für die Gegenwart stellt, sondern ihm für alle Zukunft gestellt bleibt. Denn die Entwicklung der Technik, der Wirtschaft, kurzum die Entwicklung der Handlungsmöglichkeiten stellen uns immer aufs neue vor die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß jedem sein Recht und damit das Seine auch unter gewandelten Umständen werden kann. Ohne das Rechtsprinzip aber, und mit dem Dahinschwinden der alten Traditionen, werden die Verhältnisse der Menschen an die bloße Manipulation ausgeliefert. Und das wäre auch dann von Übel, wenn die Manipulanten sogar vom besten Willen erfüllt wären in bezug auf das, was nach ihrer Meinung das Glück der Menschen befördert.

Gerhard Szczesny: Ein historischer Irrtum

Der Liberalismus geht von einem falschen Weltbild und einer unhaltbaren Auffassung von Freiheit aus. Er unterstellt einerseits die Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit der geistig-kulturellen Sphäre, anderseits überträgt er ihre spezifischen Entfaltungsmöglichkeiten auch auf jene Schichten des menschlichen Daseins, die man als „geistfremd‘“ oder „vorgeistig‘‘ bezeichnen könnte. Er läßt außer acht, daß geistige, ästhetische und künstlerische Aktivitäten sich im Abstrakten abspielen, politische, soziale und ökonomische hingegen eine unmittelbare Angelegenheit der menschlichen Existenz sind. Was dort als freie individuelle Entfaltung gutzuheißen ist, führt hier zu Anarchie und Inhumanität, weil es rücksichtslos auf Kosten des andern geht.

Der zweite Irrtum des Liberalismus besteht in der Annahme, daß die geistig-kulturelle Sphäre von den andern Seins-Bereichen völlig unabhängig sei. In der Tat existiert jedoch das „Reich des Geistes“ keineswegs freischwebend. Nicht nur ruht es auf den andern, den „niedrigeren“ Schichten — es ist von ihnen abhängig. Humanität ist kein gegebener Zustand, sondern eine Aufgabe, ein ständiger Kampf gegen physische, biologische und psychologische Kräfte, ein Kampf, der zwar niemals siegreich beendet, aber doch immer wieder siegreich bestanden werden kann. Dazu ist es notwendig, daß die blinden Kräfte der vormenschlichen Natur vom Bewußtsein kontrolliert und menschlichen Zwecken dienstbar gemacht werden. Es gibt auf keiner Ebene menschlichen und gesellschaftlichen Seins die oberflächlich-idealistische Alternative „Planung oder Freiheit‘; es gibt immer nur „Freiheit durch Planung“. Ein Mensch, der die Triebkräfte seiner biologisch-organischen Natur nicht unter ständiger Kontrolle hält, geht seiner Menschlichkeit ebenso verlustig wie eine Gesellschaft, die sich dem ‚‚freien Spiel der ökonomischen und sozialen Kräfte“ überläßt.

Der Citoyen wurde vom Bourgeois überspielt

Diesen Tatbestand muß der Liberalismus leugnen oder unterschlagen. Indem er die absolute Unabhängigkeit des Geistes proklamiert, versetzt er sich in die Lage, Kultur und Humanität hochhalten zu können, ohne auf das barbarische Spiel der sozial-ökonomischen Freibeuterei zu verzichten. Die sozialen Mißstände spielen hiebei die Rolle eines aus dem sogenannten „Lebenskampf“ zwangsläufig resultierenden Verhängnisses, und die Unterstellung, daß Art und Schicksal der „Freiheit“ in der geistig-kulturellen wie der sozial-ökonomischen Sphäre „unteilbar“ sind, erlaubt es dem Liberalismus, jede Forderung nach Planung der wirtschaftlichen Kräfte als Angriff auf die Freiheit des Geistes abzuweisen.

Zu diesem falschen gedanklichen Ansatz kommen noch die besonderen Bedingungen der historischen Situation, in der der Liberalismus entstand und sich entwickelte. Die bürgerlichen Revolutionen hatten die politische Erbschaft des europäischen Humanismus und der europäischen Aufklärung angetreten. Aber was mit diesen bürgerlichen Revolutionen seinen demokratisch-universalen Anfang nahm, endete als Forderung des Besitzbürgertums nach der souveränen Verfügungsgewalt über das im frühkapitalistischen Wirtschaftskampf „rechtmäßig erworbene“ Eigentum. Der Citoyen wurde im Laufe weniger Jahrzehnte vom Bourgeois überspielt. Aus einer progressiven Idee wurde ein konservatives Programm. Denn die befreite Klasse der Besitzbürger legte nach ihrer Befreiung keinen Wert darauf, die einmal errungenen Machtpositionen zugunsten der Befreiung noch unterdrückter Bevölkerungsschichten aufzugeben; heute besteht kein Gegensatz mehr zwischen liberaler und konservativer Haltung.

Freier Wettbewerb — für wen?

Das Besitzbürgertum ist zur Erhaltung seiner Machtposition in der sich entwickelnden parlamentarischen und politischen Demokratie weiterhin auf die Zustimmung und Solidarität des besitzlosen Bürgertums und Kleinbürgertums angewiesen, also der Beamten und Angestellten, der Lehrer, Juristen und Ärzte, der freien intellektuellen und künstlerischen Berufe. Und diese Schichten der bürgerlichen Intelligenz übersehen bis heute, daß sie am freien Wettbewerb der kapitalistischen Wirtschaft wirklich nur im Geiste teilnehmen. Die ‚‚freie‘“ Wirtschaft des Kapitalismus ist zu keiner Zeit und Phase der kapitalistischen Entwicklung jemals eine freie Wettbewerbs-Wirtschaft aller am Produktionsprozeß Beteiligten gewesen. Am geheiligten „freien Spiel der sozialen und ökonomischen Kräfte“ sind optimal 10 bis 15% der Bevölkerung beteiligt, da alle anderen in einem abhängigen Lohnverhältnis stehen, das ihnen die Entfaltung irgendeiner nennenswerten merkantilen Initiative mit entsprechenden Gewinnchancen überhaupt nicht erlaubt. Die freie Marktwirtschaft ist ausschließlich eine freie Marktwirtschaft der Unternehmer; sie allein haben in diesem Spiel, in dem alle Arbeitnehmer und Konsumenten Objekte sind, eine Subjektposition inne.

Staatsbürger, aber Betriebsuntertan

Der Liberalismus erzeugt jedoch nicht nur eine willkürliche Ungleichheit der wirtschaftlich-sozialen Chancen, sondern ist auch politisch das System einer bestenfalls halben Demokratie. In der liberal-demokratischen Gesellschaft lebt man nur als Staatsbürger in einer Sphäre demokratischer Rechte und Pflichten. Den überwiegenden Teil ihres Lebens bringt die überwiegende Zahl unserer Zeitgenossen als Betriebsuntertanen zu. Die ureigenste Hervorbringung des liberalistischen Zeitalters, nämlich der kapitalistische Betrieb, ist seiner politischen Struktur nach bis heute un- und antidemokratisch. Hier herrscht nach wie vor das hierarchisch-direktoriale Prinzip. Während der Staatsbürger das Recht hat, sich frei zu informieren, sich frei zu äußern und bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens durch Zustimmung oder Widerspruch mitzuwirken, hat der Betriebsbürger weder das Recht, Etat und Produktionsplan seines Unternehmens zu prüfen, noch gar einen bestimmenden Einfluß auf die Besetzung der leitenden Funktionen auszuüben. Und es muß hinzugefügt werden, daß die Bedingungen seiner Berufsexistenz das Dasein des Menschen viel nachdrücklicher formen und bestimmen als die seiner staatsbürgerlichen Existenz. So wird die demokratische Entwicklung unserer Zeitgenossen unausgesetzt von der autoritären Struktur der betriebsrechtlichen Verfassung, unter der zu leben sie gezwungen sind, gehemmt und korrumpiert. Die Demokratie nimmt im Gefühl des so düpierten Demokraten den Charakter einer Farce, einer Selbsttäuschung an. Daß es unter solchen Umständen in der ganzen westlichen Welt immer wieder zur Herrschaft konservativer und reaktionärer Regierungen kommt und in Deutschland die Jahre von 1933 bis 1945 so stoisch hingenommen wurden, ist kaum verwunderlich. Sind wir doch von Haus aus viel mehr an das Walten autoritärer als demokratischer Verhältnisse gewöhnt. Wer davon überzeugt ist, daß die ökonomischen Dinge nur florieren, wenn man die Herrschaft der Wirtschafts- und Betriebsführer etabliert, wird sich auch leicht von der Notwendigkeit politischen Führertums autoritärer Prägung überzeugen lassen.

Der Liberalismus ist ein Materialismus

Fassen wir den falschen gedanklichen Ansatz mit der zwangsläufigen historischen Ausprägung des Liberalismus zusammen, so ergibt sich die Feststellung, daß die liberale Erwerbsgesellschaft eine durch und durch materialistische Konstruktion ist. Allerdings ist dieser Materialismus ein doppelgesichtiges Phänomen. Er bedeutet nicht nur Verrohung und immer weiter um sich greifende kulturelle Armseligkeit, sondern weist auch auf den sich ständig hebenden materiellen Lebensstandard breiter Volksschichten hin. Das heißt, daß es dem Kapitalismus — was Marx nicht voraussah — gelungen ist, die drohende Klippe der proletarischen Revolution zu umschiffen. Einerseits brauchte er für seine ins Ungeheuerliche anschwellende Produktion von Konsumgütern immer neue Abnehmerschichten, zum andern mußte er die Bedürfnisse, die er unaufhörlich weckte, nun auch bis zu einem gewissen Grad befriedigen. Die materiell-zivilisatorischen Erfolge der industriellen, freiwirtschaftlichen Entwicklung leugnen zu wollen, wäre ebenso töricht, wie dem Kapitalismus aus diesen Erfolgen einen Lorbeerkranz der Humanität zu winden. Da sein Sieg über Hunger und Elend nicht sozialen Impulsen, sondern merkantilen Zwangsläufigkeiten entspringt, schlägt die materielle Armut in der saturierten liberal-kapitalistischen Gesellschaft in geistig-seelische Armseligkeit um.

Das Dilemma des bürgerlichen Intellektuellen

Die soziale Situation des durchschnittlichen westlichen Intellektuellen und der an der Konsumgüter-Produktion nicht beteiligten bürgerlichen Intelligenz zeigt die genaue Umkehrung des Proletariats zur verkleinbürgerlichenden Industrie-Arbeiterschaft. Die Angehörigen der bürgerlichen Intelligenz sinken ständig zum Existenzminimum ab, ohne daß sie dabei jedoch ihre kulturell-geistigen Ansprüche aufgeben. Nicht mehr die Arbeiter gehen auf die Straße, sondern (wie kürzlich in Wien) Hochschullehrer, Schriftsteller und Schauspieler. Es erweist sich also, daß die sich ursprünglich im proletarischen Schicksal äußernde Selbstentfremdung des Menschen nun — auf eine höhere Ebene transponiert — in der Situation der kulturellen Berufe virulent wird. Die bürgerliche Intelligenz wächst in jene Rolle hinein, in der sich einst die Industriearbeiterschaft befand, sie wird zu jener Klasse, in der das Dilemma der liberalen Erwerbsgesellschaft seine volle Ausprägung erfährt. Während die Alten, Kranken und Erwerbslosen einfach nur unter die Räder kommen und durch wohldosierte Wohltätigkeit vor der kollektiven Verzweiflung bewahrt werden, wächst in der bürgerlichen Intelligenz die Diskrepanz zwischen den geistigen, menschlichen, sozialen und zivilisatorischen Ansprüchen und den materiellen Möglichkeiten, sie zu befriedigen, zu einer immer größeren Spannung an.

Wird diese Spannung schmerzhaft genug sein, um das liberale Bürgertum endlich vom Mythos des Liberalismus zu befreien? Wird sie lange genug anhalten? Oder wird sie eines Tages durch die Stupidisierung auch dieser Schichten nachlassen und damit ihrer Funktion, Stachel zur politischen Selbstbesinnung zu sein, beraubt werden?

Erst Bindung, dann Freiheit

Alles politische Planen und Handeln ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel. Was geschieht, wenn man sich der Planung in einer fundamentalen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens enthält, zeigt uns die Entwicklung der liberalistischen Gesellschaft; und was geschieht, wenn man die Planung zum letzten Sinn menschlichen Daseins macht, zeigt uns die Entwicklung des stalinistischen Über-Staates. Das Unbehagen des Kulturmenschen an der Politik hat seinen guten Grund: er wünscht von den Aufgaben, die ihm seine individuelle seelisch-geistige Existenz stellt, nicht durch lästige administrative Pflichten abgelenkt zu werden.

Aber die Dispensierung von den gesellschaftlichen Pflichten und Aufgaben, die uns gestellt sind, kann erst erfolgen, wenn wir diese administrativen Aufgaben wenigstens annähernd gelöst haben. Das Soziale und Politische ist dem Geistigen und Kulturellen immer untergeordnet, es geht ihm jedoch ontologisch und historisch voraus. Daher ist auch jener oberflächliche Schluß, daß der Liberalismus etwas Edles und Idealistisches und der Sozialismus etwas Gemeines und Materialistisches sei, eine grobe Täuschung. Die Freiheit selbst gibt niemals ein politisches Programm ab; sie ist vielmehr die Frucht, in deren Genuß zu kommen wir uns auf Grund und nach Erfüllung eines politischen Programms (dessen Inhalt immer nur Systeme der Kontrolle, Planung und Bindung sein können) erhoffen. Politik ist Sondierung und Kultivierung des sozialen Terrains, auf dem sich dann kulturelles und geistiges Leben in Freiheit entfalten soll. Erst die völlige Objektivierung und Rationalisierung dessen, was objektivierbar und rationalisierbar ist, wird den wahren Subjektivismus und Individualismus möglich machen.

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