FORVM, No. 176-177
August
1968

Lahme Sozialdemokratie

„Selbst wenn uns ein Erdbeben verschlänge“, sagte Eduard Goldstücker noch vor wenigen Wochen, „würde unser Experiment für die ganze demokratische Linke seine Bedeutung behalten.“

Indessen ist das Erdbeben gekommen. Allenthalben atmen die Kalten Krieger auf. Was noch nie vereinigt war — Demokratie und Sozialismus —, soll auch weiterhin getrennt bleiben. Die Welt, vordem so kompliziert und voll mit unerhörten Möglichkeiten, erscheint auf einmal wieder sehr einfach, im wahrsten Sinne des Wortes schrecklich einfach: geteilt zwischen zwei Supermächten, deren eine in Vietnam mit Napalmbomben die Demokratie verteidigt, während die andere in der Tschechoslowakei mit Panzern den Sozialismus rettet.

Hat Goldstücker trotzdem recht?

Die russischen Panzer in Prag haben die ganze Linke alarmiert. In der Empörung über die Okkupation und in der Verbundenheit mit den Okkupierten waren sich mit einem Mal viele einig, die es vorher nicht waren: Liberale und Radikale, ein großer Teil der Sozialdemokraten und auch der Kommunisten.

Für die Kommunisten hatte die sowjetische Intervention in der CSSR die gleiche Bedeutung wie für die bürgerlichen Demokraten im Westen die amerikanische Intervention in Vietnam. Es war die Stunde der Wahrheit. So wie heute kein Mensch mehr glaubwürdig für die Demokratie eintreten und gleichzeitig den Vietnamkrieg verteidigen kann, so wird sich in Zukunft wohl auch niemand mit dem Anspruch auf Ehrlichkeit einen Marxisten nennen können, der den Überfall auf die Tschechoslowakei nicht ohne alle Beschönigungen als Verbrechen bezeichnet.

Es ist durchaus möglich, daß sich die kommunistische Bewegung von diesem Schlag nicht so bald, wenn überhaupt, erholen wird. Aber mit dem monolithischen Kommunismus hat durch die Ereignisse von Prag auch der pauschale Antikommunismus seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Noch vor einigen Jahren war es möglich, Stalin und Togliatti in einen Topf zu werfen, mit dem sowjetischen Diktaturregime jede linke Bestrebung anderswo zu diskretieren. Es war möglich, weil die Kommunisten selbst sich immer wieder auf die Sowjetunion berufen haben. Das ist jetzt vorbei. Viele westliche kommunistische Parteien haben das sowjetische Vorgehen verurteilt. Vor allem aber haben die Ereignisse selbst klargemacht, daß das Prager Experiment nicht eine etwas liberalisierte Variante des Moskauer Regimes war, sondern etwas grundsätzlich anderes. Der Eroberer und der Eroberte können nicht beide dasselbe gewollt haben. Prag und Moskau sind zwei Programme, zwischen denen es keine Gemeinsamkeit geben kann.

Manche Sozialdemokraten haben aus der gewaltsamen Zerstörung des tschechoslowakischen Modells eine späte Rechtfertigung ihres eigenen Weges herausgelesen. Jene Tschechoslowaken, die es ehrlich meinten, seien eben „im Herzen Sozialdemokraten“ gewesen, schrieb die „Arbeiter-Zeitung“, und für anständige Kommunisten gebe es nun nur noch den Canossagang zurück zur Sozialdemokratie. Mut und Phantasie haben die etablierten sozialdemokratischen Parteien nach 1945 nicht immer ausgezeichnet, auch nicht Bescheidenheit. Goldstücker und Co. als Schüler der SPÖ? So einfach ist die Sache nicht. Die Prager Reformer haben ihre Aufgabe nicht in einer Rückkehr zur Sozialdemokratie gesehen, sondern in einem demokratischen Sozialismus, der über sie hinausgeht.

Die ganze Linke ...

In Wahrheit hat der Prager Frühling auf die ganze Linke faszinierend gewirkt. Die etablierten Parteien aber, Kommunisten wie Sozialdemokraten, machen schon längst nicht mehr die ganze Linke aus. Spätestens der christlich-marxistische Dialog hat an den Tag gebracht, daß die bedeutendsten marxistischen Gesprächspartner mit keiner der traditionellen Linksparteien verbunden sind.

Etwas ähnliches hat sich bei der Studentenbewegung gezeigt. Die jüngste, aktivste und interessanteste Vorhut der Linken operiert in fast allen Ländern Europas außerhalb der etablierten Parteien und kritisiert diese Parteien als Teil des kapitalistischen Establishment. Daß sich die Parteien mit den Studenten nicht verständigen können, gehört zu ihren größten Schwächen.

Die Studentenbewegung hat das Prager Modell sehr spät entdeckt, eigentlich erst knapp vor seinem Untergang. In dem vielbeschworenen Lernprozeß der politisierten Studenten hat es eine sehr geringe Rolle gespielt, bei den Radikalen stieß es sogar auf dezidierte Ablehnung. Die Neue Linke, abgestoßen von der bürgerlichen Demokratie im Westen, konnte mit der Renaissance des Parlamentarismus in der Tschechoslowakei nichts anfangen.

Für die Studentenbewegung hießen die Vorbilder nicht Dubček und Šik, sondern Che und Mao. Mit Marcuse war sie davon überzeugt, in den Industriestaaten sei die Arbeiterklasse für entscheidende Veränderungen nicht zu haben.

Dieser Glaube hat bei den Maiunruhen in Frankreich die erste Erschütterung erlebt: Millionen traten in den Generalstreik, nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für Selbstverwaltung im Betrieb und Änderung des gesellschaftlichen Systems. Es war der größte politische Streik in der Geschichte des Landes. Die Studenten hatten die Bewegung ausgelöst, die ganze Arbeiterschaft war mitgegangen.

Was in der Tschechoslowakei geschehen ist, hat die Legende von der politischen Apathie der breiten Massen vollends widerlegt. Nach der Invasion ging ein ganzes Volk in die außerparlamentarische Opposition. Ohne Führung, ohne Apparat, fast ohne Organisation führten 14 Millionen Tschechoslowaken einen politischen Kampf, in dem die Neue Linke staunend Elemente ihrer eigenen Strategie wiedererkennen konnte.

Die Tschechoslowaken haben das Go-in und das Sit-in zur Meisterschaft entwickelt. Sie übten die Besetzung ihrer Betriebe und Redaktionen (bis diese ihrerseits von Soldaten besetzt wurden), sie führten Vorschriften ad absurdum, sie weigerten sich, die Spielregeln der Okkupanten mitzumachen. Sie entlarvten die Lügen der Obrigkeit, kaum, daß sie ausgesprochen waren. Sie etablierten im Nu eine perfekt funktionierende Gegenöffentlichkeit. Sie frustrierten ihre Bedrücker durch gewaltlosen Widerstand. Sie pflegten, was im Westen zum Markenzeichen der studentischen Linken geworden ist: die öffentliche Massendiskussion auf Straßen und Plätzen, die den Gegner aufklären und überzeugen soll. Viele Taktiken, die speziell bei der deutschen Studentenbewegung oft exzentrisch wirkten, wurden in der Tschechoslowakei mit überwältigendem Effekt angewendet, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Intellektuellen einer Sprache bedienten, die zum Unterschied vom bundesdeutschen Soziologenchinesisch für jedermann verständlich war.

Parlamentspräsident Smrkovsky sagte zu Beginn des Prager Frühlings, die tschechoslowakischen Reformer wollten nun endlich einlösen, was Kommunismus wie Sozialdemokratie bisher schuldig geblieben seien: die gleichzeitige Verwirklichung von Demokratie und Sozialismus. „Wenn es gelingt“, sagte er, „wird das für die ganze Arbeiterbewegung interessant sein.“ Sowjetische Panzer haben das Gelingen verhindert. Wie bedeutsam schon der Versuch war, ist erst an seiner Niederlage erkennbar geworden.

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