Heft 3-4/2005
Juni
2005

La paz que mata

Carl Einstein aus der Asche

Schweissfuß klagt gegen Pfurz in trüber Nacht! ...

... heißt ein Romanfragment von Carl Einstein aus dem Jahre 1930. In diesem beschreibt er wohl deutlich, was ihm seine Person und ein Gerede über diese bedeutet: „ICH der banalste Kollektivplatz, in Präservativ gewickelt.“ (1993, S.32) Er wollte nicht zu jenen Intellektuellen gehören, die dank einer show-business Vision des Individuums den so genannten „Eliten“ ihre Ruhe und Überheblichkeit ermöglichen. Er wollte eher zu jenen gehören, die es schaffen zu verwirklichen, daß Kunst aufhört als Grenzziehung zwischen Bildung und Armut dienen zu können. Deswegen die von ihm abverlangte Anonymität der KünstlerInnen, die keine Zulieferindustrie für eine gut situierte Minderheit mehr bedienen, sondern Vorbild für eine befreite Menschheit sein sollen. „Die Frage der Kunst ist identisch mit der Frage nach der menschlichen Freiheit, nicht mehr und nicht weniger.“ (Einstein, 1993, S.182) Man vergaß den Denker und Menschen Carl Einstein in Folge tatsächlich, aber nicht, weil sich die von ihm ersehnte Befreiung durchgesetzt hätte. Er wurde vergessen, genauso wie er ermordet wurde. Deshalb im folgenden Porträt ein wenig Erinnerung an diesen vor 120 Jahren geborenen Anti-Romancier und Kunsthistoriker.

Der Dilettant der Wunder

1899 — Carl Einstein ist gerade 14, da bringt sich sein Vater Daniel um. Jener wird als tief religiöser Mann beschrieben, Lehrer und Rabbiner in Karlsruhe. Diese private Tragödie, war sie nicht eine Ankündigung für jene alles erfassende, die in den nächsten Jahrzehnten folgen sollte? Und was schützt einen vor einer solchen Tragödie? Konventionen vielleicht? Eine bürgerliche Existenz? Nichts dergleichen hat Daniel Einstein gerettet. Daraus zog der 14jährige wohl seine Konsequenzen, hält man sich seinen weiteren Werdegang vor Augen. Mit Platos Höhlengleichnis im Kopf bricht er seine Schulausbildung ab und in ein sehr eigenwilliges Studium auf.

Carl Einstein zieht nach einem Ausflug durch Paris nach Berlin und versucht sich in der Philosophie. Doch nicht nur Georg Simmel soll ihn als Lehrer prägen, sondern auch der Kunsthistoriker und Definitionsfinder für das Barock: Heinrich Wölfflin. Und dann gibt es da die Bohème, in die sich der junge Einstein stürzt, wie ein Fisch ins Wasser. Sein erster Anti-Roman — oder wie auch immer dieser Wahnwitz zu nennen ist, entsteht 1905: Bebuquin. Der Dilettant der Wunder. „Bebuquin, der Wille zur Dummheit verlangt Entsagung, und man bekommt ihn nur durch sorgfältiges Zuendedenken. Wenn man sieht, dass unsere Gedanken in sich zusammenfallen, wie die Flügel eines geschossenen Wildhuhns; Gedanken, nein, sie sind keine Zwecke für sich, sie sind wert als Bewegung; aber können Gedanken bewegen; o, sie fixieren, sie nageln zu sehr fest, sie konservieren selbst den Revolutionär. Bilder sind Taten der Augen, und mit einem Bilde ist nicht alles gesagt, aber ein Gedanke täuscht stets vor, er habe die ganze Kette erschöpft, und lähmt.“ (2000, S.36) Das Denk-Epos Bebuquin ist übrigens André Gide gewidmet.

Es sind die Bilder, die bewegen können und Einsteins Frankophilie, die ihn oft und immer wieder nach Paris treiben. Und wenn schon die Metapher des Fisches evoziert wurde, dann kann von Paris als Laichplatz gesprochen werden. Denn Carl Einstein findet dank eines Freundes, dem Galeristen Henry Kahnweiler - auch so ein Deutscher in Paris - die Bilder, die er sucht. Und ihre Maler heißen Pablo Picasso und Georges Braque. Er befreundet sich mit diesen und noch vielen anderen KünstlerInnen und wird zu einem ihrer intellektuellen Antreiber. Somit ist in diesen Jahren Einstein nebst Revolutionär in diversen deutschsprachigen Zeitschriften (in Die Aktion oder in den von ihm gegründeten Neuen Blättern), einer der Definitionsgeber des Kubismus. Kubismus ist primitiv und primitiv heißt für Carl Einstein: vom Kapitalismus befreit. „Gegenüber dem menschlichen und wirtschaftlichen Elend muß man fragen: Was kann die Kunst noch leisten, die von unentschiedenen Kleinbürgern für Besitzende gefertigt wird [...] Diese Kunst verabreicht dem Bürger die Fiktion ästhetisierender Revolte, die jeden Wunsch nach Änderung harmlos“seelisch„abreagieren läßt.“ (1993, S.82)

Knapp nach Beginn des Ersten Weltkriegs erscheint Einsteins richtungweisendes Buch Die Negerplastik. „Ich betrachte afrikanische Kunst kaum unter dem Aspekt des heutigen Kunstbetriebes; nicht um Anregungen erlauernden Unproduktiven einen Dreh (neuen Formenschatz) zu starten, vielmehr aus dem Wunsch, daß kunstgeschichtliches Untersuchen afrikanischer Plastik und Malerei beginne.“ (1993, S.84) Somit war Einstein wohl einer der ersten, der versucht hat, Sinnstiftendes an einer europäischen Kunst, dank einer intellektuellen Reise ins Unbekannte und als Minderwertig eingestufte, zu finden. Und minderwertig war im allgemeinen Bewußtsein die afrikanische, aber auch ozeanische Kunst. Jahre später — ab 1930 — sollte Einsteins Freund und Dichter Michel Leiris diese Arbeit fortsetzen, genauso wie die ganze moderne Ethnologie rund um die Société des Africanistes. Die Negerplastik war somit nicht nur fixer Bestandteil der Bibliothek eines Picassos, Fernand Légers oder Ernst Ludwig Kirchners, sondern auch der Startschuß zur Zerlegung der eurozentristischen Sicht auf die Welt.

Das große Massaker Nr. 1

Den Ersten Weltkrieg überlebt Carl Einstein traumatisiert als Soldat in Belgien. Dort schließt er Freundschaft mit Gottfried Benn. Diese Freundschaft dauerte dann einige Jahre, wird jedoch beendet, als Benn zum Nazi wird. Die diffusen Wege von Intellektuellen ... Einsteins Weg war nicht diffus und viele Jahre später — 1951 — wird man von Benn, der die Nazizeit erfolgreich überlebt haben wird, lesen können: „An Einstein denke ich oft und lese in seinen Büchern, der hatte was los, der war weit an der Spitze.“

Als das Kaiserreich zusammenbricht, ist Carl Einstein in Brüssel Mitglied eines kurzlebigen Soldatenrates. Die Revolution dauert eine Woche. Zurück in Berlin gründet Einstein mit George Grosz die Zeitschrift Der blutige Ernst. Doch was entgegenstellen den Massakern an den SpartakistInnen, an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht? Was tun, wenn die ersehnte Revolution überall nur so lange dauert, wie es Munition gibt oder Blut vergossen werden kann? Dadaismus betreiben? Schreiben und zu Kiepenheuer gehen?

Das nächste Jahrzehnt in Deutschland hält Einstein nur dank seiner Arbeit und einiger Reisen aus. Er wird wegen Blasphemie verklagt und zwar dank seines 1921 geschrieben Theaterstückes Die schlimme Botschaft. 1925 bringt er für den Kiepenheuer-Verlag den Europa-Almanach heraus, der sich dem damals nicht minderen Anspruch stellt, der Avantgarde von Moskau bis Paris ein Forum zu bieten. 1926 schließlich verfasst Einstein nach seiner Negerplastik das zweite, für die Kunstwelt zentrale Buch, welches ihm internationale Anerkennung bringen wird: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, als Band 16. der Propyläen-Kunstgeschichte. In diesem Band wird das erste Mal in der Kunstgeschichte systematisch die Moderne porträtiert. Doch schon ganz früh fasst Carl Einstein, vieles ahnend, den Einfluss seiner Arbeit in einem Brief an Toni Wolfskehl zusammen: „[...] und eine Litteratur — wie ich sie machte — ist von vornherein verloren, da sie gegen den Leser und die übliche Litteratur geschrieben ist. Das geht nur zu machen — wenn man dekorativ arbeitet wie Kandinsky und mit Occultistentruc. [...] Vorläufig schreibe ich Zeug — das die Leute als Kg etwas erstaunen wird. Die Negerplastik hätte ohne die Bilderchen keine Sau gelesen, und kapiert haben sie nur ein paar Leute in Frankreich.“ (1991, S.48) Und dorthin, genauer gesagt, nach Paris, verschlägt es dann 1928 Einstein endgültig. Da kann wieder geatmet werden, ohne überall Stahlhelme oder braune Uniformen und andere Grosz Modelle als Menschen herumlaufen zu sehen.

Toni

In Paris setzt Einstein seine Arbeit als schreibender Revolutionär und Kunstdefinierer fort. Er arbeitet neben Georges Bataille und Michel Leiris an der Zeitschrift Documents mit. Diese entwickelt sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens zum markantesten Zeugnis Moderner Kunst. Neben unzähligen Aktivitäten organisiert er 1933 auch die erste große Werkschau von Georges Braque in der Kunsthalle Basel.

Doch nicht nur in der Literatur und in der Kunst hinterlässt Einstein Spuren, auch der Film bekommt seinen Stempel ab. Schon soll er bei der Verfilmung der Dreigroschenoper von Wilhelm Papst mitgewirkt haben, was jedoch nicht mehr nachweisbar ist. In Paris lernt er den Sohn des Malers Auguste Renoir, den bald nicht minder berühmten Jean kennen. Gemeinsam schreiben sie das Drehbuch für einen Film, der vielleicht nicht zu den bekanntesten Renoirs zählt, für die Filmgeschichte jedoch den Auftakt zum Neorealismus bedeutet hat: Toni, die Geschichte eines italienischen Gastarbeiters in Frankreich. Der Film entsteht 1935 und als Regieassistent versucht sich das erste Mal der 17jährige Luchino Visconti.

Trotzdem Carl Einstein behaupten könnte, einen gewissen Erfolg zu verbuchen, plagt ihn die Tatsache, dass all seine Mühen nichts an dem sich deutlich ankündigenden Grauen verändern kann: „Zusammengenommen besteht die lächerliche Rolle der Intellektuellen darin, dass sie die Tatsache nur stützen aber nicht schaffen können.“ (1993, S.164) Und es gibt vor allem weit und breit keine zu stützende Revolution. Jene einzige, die es gegeben hat, wurde von Stalin zerstört. Es ist eine Welt, in der sich „die Maschinegewehre [...] über die Gedichte und die Gemälde lustig [machen].“ (1993, S. 162) Zu dieser Verbitterung kommt hinzu, dass sich auch in Paris Antisemiten bemerkbar machen und zwar nicht nur in den einschlägigen Kreisen, sondern auch unter den Produzenten des Films Toni.

Doch dann putschen in Spanien die Generäle gegen ihre Republik. Für Carl Einstein, genauso wie für viele andere deutsche Revolutionäre, ist es, als hätten sie nach den Katastrophen von 1919 und 1933 eine dritte Chance bekommen. Der erfolgreiche Pariser Kunsthistoriker und Drehbuchautor lässt 1936 alles liegen und stehen, verabschiedet sich nicht von den FreundInnen und geht mit Lyda Guevrekian, welche er vier Jahre zuvor geheiratet hat, nach Barcelona, wo er dann auch bis 1939 bleibt. Lyda Guevrekian war zuvor mit dem Wiener Architekt Hans Adolf Vetter verheiratet gewesen, der in Wien Ende der 20er Jahre Gemeindebauten und ein Haus in der Werkbundsiedlung entworfen hat. Hans Adolf Vetter wird 1938 schließlich über London in die USA fliehen. Lyda Guevrekians Bruder Gabriel war ebenfalls Architekt und hat neben dem einzigen kubistischen Garten, der jemals erreichtet wurde und zwar an der Côte d′Azure, ebenfalls ein Gebäude in der Wiener Werkbundsiedlung und von den USA bis Iran noch viele andere Bauten entworfen. Übrigens kann man sich die beiden Gebäude in der Werkbundsiedlung in der Veitingergasse 71 bis 117 im Wiener 13. Bezirk heute noch anschauen, neben Gebäuden von Margarete Schütte Lihotzky, Josef Hoffmann, Clemens Holzmeister, Adolf Loos, Richard Neutra und Hans Adolf Vetters Lehrer Oskar Strnad und vielen anderen.

Das große Massaker Nr. 2

Warum haben Sie das Buch mit dem Gewehr getauscht? Warum sind Sie nach Spanien gekommen, um unsere Sache zu verteidigen?

Das ist die einzige nützliche Sache, die es zur Zeit gibt. Und weil ich die Monotonie eines faschistischen Europa nicht aushalten will.

(1993, S.164)

Da er immer schon eher zu den Anarchisten gezählt worden war, sei es im Soldatenrat in Brüssel oder anhand seiner Sympathie für die Avantgardistische Kunst, empfiehlt ihn ein Freund bei Durruti und seiner Kolonne. Doch kann Carl Einstein nur kurz mit Durruti zusammen arbeiten, da er bald dessen Grabrede halten muss: „Unsere Kolonne erfuhr den Tod Durrutis in der Nacht. Es wurde wenig geredet. [...] Durruti, dieser außergewöhnlich sachliche Mann, sprach nie von sich, von seiner Person. Er hatte das vorgeschichtliche Wort“ich„aus der Grammatik verbannt.“ (1991, S. 83) 1938 versucht er noch einen Film über diese letzte Revolution zu realisieren. Die Fragmente dieser Arbeit gelten als verschollen. Gleichzeitig initiiert er in Zusammenarbeit mit dem „Kollektiv professioneller Forschung“ eine Volksuniversität in Barcelona, in der vorwiegend Forschung gegen Totalitarismus betrieben werden soll.

Einige Monate später findet sich das Ehepaar Einstein in französischen Internierungslagern wieder: er in Argelès und sie in Juillac. Nach dieser ersten Inhaftierung kommen sie wieder frei. Für Einstein ist es eine kurze Freiheit. Auch weiss er, was ihn wohl bald erwarten wird: „Man wird mich internieren, und französische Gendarmen werden uns bewachen. Eines schönen Tages werden es SS-Leute sein. Aber das will ich nicht. Je me foutrai à l’eau. Ich werde mich ins Wasser werfen!“ (1991, S. 11) Während sich die Mitglieder der Société des Africanistes um Lyda Guevrekian-Einstein kümmern können, wird Carl als feindlicher Ausländer wieder interniert, wahrscheinlich im Lager Bassens bei Bordeaux. In den Wirren des verlorenen Krieges gegen die Nazis, kommt er noch einmal frei. Doch was ist das für eine Freiheit? Rundum ist Europa monoton faschistisch. Der erste Selbstmordversuch misslingt, der zweite nicht. Am 7. Juli 1940 wird Carl Einsteins Leiche aus der Gave de Pau geholt. Er hatte sich zwei Tage zuvor in den Fluss gestürzt. „Man reiche mir einen anderen Kosmos, oder ich krepiere.“

  • Einstein, Carl. Bebuquin. Stuttgart, 2000.
  • Einstein, Carl. Sterben des Komis Meyer. Prosa und Schriften. Hg. Von Rolf-Peter Baacke. München, 1993.
  • Siebenhaar, Klaus (Hg.) Carl Einstein. Prophet der Avantgarde. Berlin, 1991.
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