MOZ, Nummer 57
November
1990
Ex-DDR

Klein Utopia im ‚wilden Osten‘?

Ein Gespräch mit HausbesetzerInnen aus Ostberlin.

Utopie bedeutet wörtlich: Nicht-Ort. Also ein Ort, den es noch nicht gibt, den man sich aber in der Zukunft wünscht. In klassischer politischer Manier wird dann eine Strategie erarbeitet, ein Weg, der zum ausgedachten Ziel einer befreiten Gesellschaft führen soll. In der autonomen Besetzerinnenszene fällt diese Mittel-Zweckrelation in eins. In dem Augenblick, in dem ein nichtbewohnter (und oft genug unter „normalen“ Umständen auch nicht mehr bewohnbarer) Raum für sich genommen wird, beginnt er schon: der Traum vom kollektiven Wohnsinn, vom Selbstbestimmungsrecht der Lebensform (und oft genug auch der Liebesform). Nachdem die sogenannten „Chaoten“ von der westdeutschen Presse als Randalierer verurteilt wurden — Zusammenhang mit der Hafenstraße in Hamburg und angesichts von Kontakten zur RAF —, ist hier ausnahmsweise einmal ein Blick von innen gefragt.

Die Fakten im östlichen Teil von Berlin: 25.000 Wohnungen stehen leer. Und sind größtenteils sanierungsbedürftig. 50.000 Leute suchen Wohnungen. Innerhalb des letzten Jahres sind ca. 115 Häuser von Ost- und WestberlinerInnen besetzt worden. Und es leben dort ungefähr 3.000 Menschen. Im September 1989 begannen Ostberliner Autonome am Prenzlauerberg (das Kreuzberg des Ostens), das erste Haus aus realem Wohnungsmangel für sich in Anspruch zu nehmen. Drei Monate später erging in Szenezeitschriften der Aufruf: „Wir kommen den Spekulanten zuvor!“ Diese Behauptung — zu der Zeit zwar noch nicht aktuell — setzte die Westberliner Szene in Bewegung. Es begann die erste realexistierende Wiedervereinigung — jedoch einer anderen Art.

Kreuzberg sprengte die Mauern und die Leute zogen ins ungelobte Land: auf Grund verfehlter Wohnbaupolitik in Ost (Leere) und West (Mangel) und politisch motiviert unter der Devise: „Und wir lassen uns doch nicht zum Aufgeben zwingen“. Und sie befanden sich plötzlich in einem gesetzesfreien Vakuum. Da es in der DDR keinen Hausfriedensbruchtatbestand gegeben hat, wurden die BesetzerInnen qua Magistratsbeschluß legitimiert. Der „Volkseigene Betrieb — Kommunale Wohnungsverwaltung“ (VEB-KWV) gab sich zwar schnell das bürgerliche Gesellschaftsrecht, hatte aber nur Sanierungsgelder im „Gegenwert einer Dachrinne“ pro Haus zur Verfügung, sodaß bei dem offensichtlichen Wohnbedarf dessen ökonomische Ursache auch nicht durch schnelle Gesetze hätte verdeckt werden können. So entstand jene historisch skurrile Situation, daß die Exekutive (VOPO) nicht eingriff, man autonome BesetzerInnen beim gemütlichen Plausch mit dem Bezirksbürgermeister antreffen konnte und die AnrainerInnen gar die BesetzerInnen mit Sachspenden unterstützen. Das alles ereignete sich in der Phase der Manie „der Runden Tische“. Nach und nach jedoch, je mehr Westluft zu säuseln begann, wurde diese Idylle brüchig. Die BürgerInnen, aufgeschreckt durch mediale Pressevermutungen, hatten zunehmend Probleme mit ungewohnten Straßenbildern. Die Staatsfahnen, die man doch gerade glücklich losgeworden war, hingen nun gegenüber an den Fenstern; Transparente mit Spontisprüchen an den Fassaden; Sofas standen auf der Straße, kleine ungehobelte Geschäfte und Lokale entstanden, und überhaupt: es war alles plötzlich so bunt hier. Nachdem der Ex-VEB erkannte, daß die neuen Bewohner im Grunde genommen freiwillige und kostenlose Sanierungsarbeiten leisteten, verfiel er auf die Idee der Kopierung der sogenannten Berliner Linie: Sanierungsunterstützungen anbieten, Verträge schließen, Mitsprache einfordern und nach 10 Jahren die Leute vor die Tür setzen. Erste Häusergruppen fingen an zu verhandeln, eine Radikalisierung im Sinne eines festeren Zusammenhalts begann. Ein BesetzerInnenrat konstituierte sich, wo Entscheidungen gemeinsam getroffen wurden und werden. Eine zweite Radikalisierung begann mit der Besetzung eines Hauses seitens der Neofaschisten mitten in Ostberlin, das sich inzwischen zur gesamtdeutschen Zentrale (mit führenden Köpfen aus dem Westen und aus Österreich) entwickelt hat. Seitdem herrschen dort vorbürgerkriegsähnliche Zustände. Wenn Berlin immer schon ein Ort von Verdichtungen war, so wohl (hoffentlich nicht) auch hier. Tägliche Übergriffe gegen AusländerInnen, nächtliche Überfälle und Angriffe auf die besetzten Häuser, erpresserische Entführungen sind keine Seltenheit mehr.

Besetztes Haus in der Mainzer Straße

Als ein Teil der BesetzerInnen ein Sicherheitsangebot von der Volkspolizei ablehnte und ihre Verteidigung selbst in die Hand nahm — Strategie der ‚offensiven Gegenwehr‘ —, stand die Presse endgültig Kopf: Für den Osten, der nationalsozialistische „Elemente“ immer bloß kriminalisiert, aber nie politisiert hatte, und für den Westen mit seinen Verleugnungsmechanismen, war die Verweigerung stellvertretender Exekutivmacht und die Strategie der Selbstverteidigung obsolet, weil dadurch nicht nur die Differenz von Links- und Rechtsradikalität offensichtlich wurde, sondern auch die Radikalisierung des Rechtsextremisus nicht mehr verdeckt werden konnte. Eine der Kehr- und Nachtschattenseiten der Wiedervereinigungseuphorie amalgamiert sich hier zum „point of no return“. Die Verharmlosung des Problems als „Jugendbandenkrieg“ unterschlägt das (noch) stellvertretende Hinhalten autonomer Köpfe für eine sich abzeichnende Tendenz überschwappender spätkapitalistischer Gesellschaften. Das Problem ist auch damit nicht geköpft, wenn die nunmehr westdeutsche Exekutivhoheit in altbewährter Manier die Häuser — wie zu befürchten ist — nach den Wahlen im Dezember räumt, wobei die Einschätzungen divergieren. Denn ob ein neues Deutschland es sich leisten kann, 3.000 Menschen — und täglich werden es mehr — zu Obdachlosen zu machen, ist politisch zweifelhaft, aber ökonomisch mehr als möglich. Der historisch ironische Treppenwitz, daß die Autonomen vor Ort das Rätesystem konkretisieren wollen — bei allen Schwierigkeiten mit westlicher Arroganz und östlicher anarchischer Staatsgläubigkeit —, soll dort eine Sprache finden, wo er einst angetreten war, sich zu verwirklichen. Die Konkretion des Privaten als des Politischen — hier hat sie ihre Utopie gefunden. Wie lange noch?