Grundrisse, Nummer 33
März
2010
Kemper, Erich und Heike Weinbach, Kuhn, Gabriel:

Klassismus oder Klassenkampf?

Kemper, Erich und Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung. Unrast-Verlag, Münster 2009. 188 Seiten, 13,- €. ISBN: 978-3-89771-467-0
Kuhn, Gabriel: Mit geballter Faust in der Tasche. Klassenkonflikte in der Linken – Debatten aus Schweden. Syndikat A, Moers 2009. 40 Seiten, 2,50 €.

Ein Gespenst geht um in der Linken: Das Gespenst des ‚Klassismus’. Der Begriff des ‚Klassismus’ ist synonym zu Rassismus und Sexismus gebildet worden und hat seinen Ursprung in den US-amerikanischen Debatten schwarzer und feministischer Zusammenhänge. Er ist auch im hiesigen Raum mit der Begrifflichkeit einer ‚triple oder multiple opression’ verknüpft. In Deutschland wurde die Debatte um Rassismus, Geschlechter- und Klassenverhältnisse in den frühen 1990er Jahren massiv inspiriert von dem Diskussionstext „Drei zu eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus“. [1]

Marx oder Bourdieu?

Die AutorInnen dieses Textes wollten damals den „Hauptwiderspruch“ Klassenkampf entlarven und auf andere gravierende Unterdrückungsverhältnisse aufmerksam machen. Die Konzentration auf die negative Unterdrückung stellt dabei die ambivalente Problematik des Ansatzes dar. Die Klasse wird nicht mehr bestimmt aufgrund ihrer Zusammensetzung oder der ihr ökonomisch und gesellschaftlich zugedachten Aufgabe, sondern rein passiv durch einen entmächtigenden Opferstatus. Ambivalent ist das, weil diese Unterdrückungsperspektive selbstverständlich stimmt. Aber sie wird mit dem Begriff ‚Klassismus’ überwiegend kulturell verstanden. Das ist ein negativer Effekt des Klassenbegriffs, wie ihn Pierre Bourdieu geprägt hat: Die Kritik des Klassismus konzentriert sich auf die theoretischen Klassen, die in den berühmten Schaubildern Bourdieus festgehalten sind und in keiner Weise auf die materiellen Klassen, d.h. auf jene, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer Arbeitskraft.

Selbstverständlich hat auch dieser Klassenbegriff seine Schwächen, basierend auf seiner Formalität: Die Marxsche Klasse zeigt nur eine Struktur auf, nicht die individuelle Zusammensetzung der realen Klasse. An der ‚Klassismus’-Debatte ist jedoch die rein kulturelle Ausprägung zu kritisieren, die über die Bourdieusche Intention noch hinaus geht: Eine vermeintliche ‚ArbeiterInnenklasse’ wird kulturell wie ökonomisch ausgebeutet. In der Logik der Klassismuskritik wird den ArbeiterInnen keine kulturelle Identität oder ein Stigma auf den Leib geschrieben, weil sie arbeiten, sondern die Zugehörigkeit zur ArbeiterInnenklasse ist eine kulturelle Identität, aufgrund derer sie erst zur Arbeit gezwungen werden, indem ihnen keine andere Tätigkeit zugetraut wird und z.B. eine entsprechend darüber hinaus gehende Bildung verweigert wird. Der Klassenbegriff wird von den Marxschen Füßen auf den Bourdieuschen Kopf gestellt. Aber: „Die Lohnarbeit ist keine von außen aufgezwungene Erscheinung, sondern das gesellschaftliche Verhältnis, das unsere Gesellschaft strukturiert“. [2] Oder einfacher: ArbeiterInnen sind nicht ArbeiterInnen, weil sie „Big Brother“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ schauen und auch nicht, weil sie Hauptschulabschluss statt Doktortitel haben, sondern weil sie arbeiten (müssen).

Kultur und Herkunft

Diesen Grundirrtum der Klassismuskritik möchte ich an zwei Beispielen aus der Einführung Kempers und Weinbachs deutlich machen. Zum einen ist dies die Verwechslung von „ArbeiterInnenkultur“ und „ArbeiterInnenbewegungskultur“ – konsequent sprechen die AutorInnen auch von einer „ArbeiterInnenkulturbewegung“ (Kemper/Weinbach S. 58). Selbst wenn die AutorInnen in einem Absatz auch eine ‚Unterschichtsbewegung’ (Kemper/Weinbach S. 62) benennen, so ist doch zu betonen, dass es sich bei den Bewegungen selbst zu ihren Hochzeiten immer noch um eine Minderheit – die dazu im Wesentlichen nur aus den Facharbeitern mit einem entsprechenden Berufsethos bestand – der gesamten ArbeiterInnenklasse handelte. SPD, KPD und ADGB beriefen sich zur Hochzeit der politischen ArbeiterInnenbewegung auf den Facharbeiter, ebenso wie ihre radikaleren Pendants FAUD, KAPD und AAUD. [3] Kemper und Weinbach zählen die Erfolge dieser ‚ArbeiterInnenkulturbewegung’ auf, die von einer Radfahrbewegung über öffentliche Bibliotheken bis zur Kunst reichen sollen (Kemper/Weinbach S. 61). Aufgrund einer solchen Erwartungshaltung kam „Drei zu Eins“ zu dem Schluss, die ArbeiterInnenklasse habe bei der Verhinderung des Nationalsozialismus versagt. Diese Erwartungshaltung ist klassistisch. Wer so argumentiert, stellt übertriebene Ansprüche und muss letztendlich enttäuscht werden. [4]

Das zweite Missverständnis, das der Begriff des ‚Klassismus’ impliziert, ist die mangelnde Unterscheidung zwischen „Klassenherkunft“ und „Klassenzugehörigkeit“. Kemper und Weinbach nennen diese beiden grundverschiedenen Kategorisierungen manchmal synonym (Kemper/Weinbach S. 31). „Arbeiterkinder“ gehören nach dieser kulturalistischen Definition zur „Arbeiterklasse“. Die AutorInnen zitieren ein persönliches Gespräch mit einer Vertreterin der „working class and poverty class academics“, nach der diese durch den Wortbeitrag einer Akademikerin zur Intervention getrieben wurde: „Gehören wir nicht alle zu unterschiedlichen Zeiten zu unterschiedlichen Klassen. Ich hab mir auch schon mal ausgesucht, ArbeiterInnenklasse zu sein. Ich war Kellnerin“ (Kemper/Weinbach S. 45). Die Empörung über dieses Zitat ist berechtigt. Die schwedischen Herausgeber von „Mit geballter Faust in der Tasche“ betonen: „[...] es liegt ein großer Unterschied zwischen einer Erfahrung, die du sammeln willst, und der Notwendigkeit, sich mit solchen Jobs den Lebensunterhalt zu verdienen“. Hätte die zitierte Studentin sich ihren Job als Kellnerin nicht ausgesucht, um sich z. B. am Wochenende zu amüsieren oder ein eigenes Auto zu unterhalten, sondern wäre er für die Aufrechterhaltung der Lebenserhaltung notwendig gewesen, so hätte sie mit Fug und Recht davon gesprochen, Bestandteil der ArbeiterInnenklasse zu sein – unabhängig vom Klassenstatus ihrer Eltern und unabhängig davon, ob sie außerdem noch studiert (hat) oder nicht.

Was sowohl die AutorInnen von „Die Faust in der Tasche“ wie auch Kemper und Weinbach zurecht kritisieren, ist weniger die Diskriminierung aufgrund der Klassenzugehörigkeit als vielmehr eine – auch innerhalb der Klasse relevante – Diskriminierung aufgrund von Schichtzugehörigkeit und sozialem Milieu, auch und gerade innerhalb linker Bewegungen. Die englische Sprache, aus der der Begriff ‚classism’ übernommen wurde, unterscheidet nur unzulänglich zwischen Klasse und Schicht. Das betrifft weniger die Konfliktförmigkeit des Kapitalverhältnisses als vielmehr die Bedingungen der Klassenzusammensetzung und –fragmentierung innerhalb der ArbeiterInnenklasse. [5]

Individuelle Flucht oder Dekonstruktion?

Während Andreas Kemper und Heike Weinbach sich in ihrer Einführung in den Klassismus auf die institutionelle, rechtliche und gesamtgesellschaftliche Diskriminierung der unteren Schichten und Milieus konzentrieren, haben die schwedischen AutorInnen von „Mit geballter Faust in der Tasche“ ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen in linken Zusammenhängen zusammen getragen. Was die schwedischen AutorInnen über sich selber berichten, ist dabei häufig dem sehr ähnlich, was Kemper und Weinbach aus den amerikanischen Debatten, aus denen der Begriff des „Klassismus“ entstanden ist, referieren. Die schwedischen ArbeiterInnenkinder sind sichtbar wütend auf die Linke.

Der ‚Klassimus’-Debatte ist es insofern zumindest mit zu verdanken, dass Klasse in der Linken wieder thematisiert wird. Der Aspekt einer tätigen ArbeiterInnenklasse, die sich aktiv nicht nur gegen ökonomische Ausbeutung sondern auch gegen Klassifizierung wehrt oder zumindest wehren kann, fehlt hier aber leider. Die ArbeiterInnenklasse erscheint als rein kulturelle Kategorie, die allein durch Zuschreibungen – also diskursiv – entsteht und auch so dekonstruiert werden könnte. Selbstverständlich ist sie das auch, aber die kulturelle Klassenkonstruktion scheint mir doch eher Folge des materiellen Kapitalverhältnisses. [6] Dekonstruktion von Klasse im Kapitalismus wird immer eine Neukontruktion zur Folge haben. Dekonstruiert werden können allein die kulturellen Zuschreibungen: Das ArbeiterInnen eigentlich faul seien oder zumindest zu bequem für eine Karriere, ungebildet seien etc. Die Klasse selber wird bleiben, solange es Kapitalismus gibt. Und so lange es sie gibt, werden ihr auch nach jeder Dekonstruktion neue Eigenschaften kollektiv zugeschrieben, sie wird kulturell neu konstruiert: Sei es, dass sie besonders rückständig sei oder sei es, dass sie besonders revolutionär gesonnen sei.

Beides ist Klassismus. Wer aber vom Klassismus reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen: Ist es denn wirklich verwunderlich, dass in einem dichotomen Klassensystem ArbeiterInnen so reproduziert werden, dass sie – und möglichst auch ihre Kinder – ArbeiterInnen bleiben? Von der Schule und Hochschule, von der Regierung oder der EU zu verlangen (vgl. Kemper/Weinbach: S.111; S.114), dass sie klassenspezifische Diskriminierung zugibt, untersucht und verändert, heißt, von diesen Institutionen die Abschaffung des Kapitalismus zu fordern. Oder aber es läuft darauf hinaus, zu fordern, dass jedeR ArbeiterIn die gleiche (Markt-)Chance erhält, auch KapitalistIn zu werden. Vom Tellerwäscher zum Millionär, das ist die Vision zumindest einiger Klassismus-AnalytikerInnen. Die Internet-Community arbeiterkind.de etwa ist so geprägt. Für sich, so die sozialliberale Version, soll jedeR seine ArbeiterInnenidentität abwerfen können: ‚Schnell raus aus der Klasse!’ lautet die Devise. Das kennen viele noch von ihren Eltern als ‚Ihr sollt es doch mal besser haben’. Mit Dekonstruktion hat das allerdings gar nichts zu tun. Die Identität ArbeiterInnenklasse zu dekonstruieren, kann nur die Abschaffung des Kapitalismus bedeuten.

[1Strobl, Ingrid, Klaus Viehmann und GenossInnen, autonome l.u.p.u.s.-Gruppe: Drei zu Eins. Metropolen(gedanken) und Revolution?. Verlag ID-Archiv, Berlin 1993

[2Dauvé, Gilles und Karl Nesic 2003: Lieben die ArbeiterInnen die Arbeit? Beilage zum Wildcat-Zirkular Nr. 65, Februar 2003. S.39.

[3Die globale Ausnahme war die US-amerikanischen IWW, die Industrial Workers of the World, die stark bei ungelernten Wanderarbeitern („Hobos“) und als einzige US-amerikanische Gewerkschaft auch bei MigrantInnen verwurzelt war.

[4Genau diese Enttäuschung hat Lenin z.B. denken lassen, die Arbeiterklasse sei allein nicht zu einem politischen Bewusstsein fähig, sondern allein zu einem „trade-unionistischen“. Die Enttäuschung Lenins über die russische Arbeiterklasse und Viehmanns Frust über das ‚Scheitern’ der Arbeiterbewegung entspringen übertriebenen Erwartungshaltungen, die allesamt auf der letztendlich Marxschen Idee der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt beruhen. Das bedeutet nun nicht, dass man diese Marxsche Idee auf den Müllhaufen der Geschichte befördern sollte, sondern liegt an einer Fehlinterpretation dieser Idee: Kulturell und politisch hat die Arbeiterklasse niemandem was voraus (hinkt aber auch nicht allgemein hinterher), aber sie hat einen bestimmten Status im Kapitalismus, der spezifische Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

[5Vgl. zum operaistischen Begriff der Klassenzusammensetzung: Wright, Steve: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin/Hamburg 2005. Zur Klassenformation: Diettrich, Ben: Klassenfragmentierung im Postfordismus. Geschlechtarbeitrassismusmarginalisierung. Münster 1999 sowie Ders.: Klassenfragmentierung und –formierung. Die jetzigen Aufgaben. In van der Linden, Marcel und Karl Heinz Roth: Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Berlin/Hamburg 2009. S.495 – 526.

[6Es ist sicherlich fraglich, ob die Konstruktionen Geschlecht und Nation im Gegensatz dazu rein kulturell seien. Unzweifelhaft erfüllen sie eine klassenspalterische Funktion im Kapitalismus und werden somit zumindest teilweise auch ökonomisch hergestellt und genutzt. Der wesentliche Unterschied ist aber m.E., dass Geschlecht und Nation für die kapitalistische Ökonomie durch beliebige andere Konstruktionen ersetzbar wären, während die Klasse unabdingbarer Bestandteil dieser Ökonomie ist.

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