FORVM, No. 90
Juni
1961

Karl Kraus und die Schauspieler

Für uns, deren Jugend in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg fiel und die wir damals tausend geistigen und ungeistigen, literarischen und politischen Einflüssen, Verwirrungen und Versuchungen ausgesetzt waren, bedeutete die „Fackel“ des Karl Kraus ein wegweisendes Licht. Für uns stand es fest, daß das große, zeitliche Nein des Polemikers und Satirikers (der bekanntlich „nur niederreißen“ konnte) einzig und allein deshalb gesprochen wurde, um zum größeren, aufbauenden, ewigen Ja zu führen, das allem Wahren, Guten und Schönen galt. Und wenn es eines Beweises dafür überhaupt noch bedurft hätte, so ist er uns wohl nirgends so evident geworden wie in der reinen, fast kindlichen Liebe, mit der Karl Kraus der Welt des Theaters zugetan war.

Mit welcher Treue — sie ging manchmal bis zur Ungerechtigkeit gegen die Vorstellungsprobleme der Gegenwart — bewahrte er das Andenken an jene großen Burgschauspieler, die seiner Jugend die entscheidenden Theatererlebnisse und -erschütterungen beschert hatten! Wie sehr war und blieb er selbst — die von ihm gesprochenen Grammophonaufnahmen lehren es — jenem großen, alten, heute fremd anmutenden Stil verhaftet! Wie leicht vermochte sich der sonst so Unbestechliche in der Beurteilung junger Schauspielerinnen, vom Eros des Theaters hingerissen, zu täuschen!

Wer das Glück hatte, seine Offenbach-Vorträge mitzuerleben, wird niemals die Süße und Zärtlichkeit vergessen, mit der die Arie der Metella oder der Brief der Perichole aufklangen. Es war ein Vortrag, der zwischen musikalischem Sprechen und zart angedeutetem Singen lag und den Zuhörenden ins Herz traf. Kraus war gewiß kein Schauspieler. Und doch konnte ihn manch einer „vom Fach“ um die Innerlichkeit und Beseeltheit seiner leisen Wirkungen beneiden.

Freilich: er mußte allein auf dem Podium sein. Für die unverwechselbare Eigenart seines Vortrags, die mit dem eigentlichen Metier wenig zu tun hatte, gab es keine Partnerschaft. Ich erinnere mich einer Aufführung des Shakespeare’schen „Timon“ im Berliner Rundfunk. Kraus selbst sprach den Timon. Und wir Schauspieler, die ihn umstanden und seine Partner sein sollten, konnten zu seiner Gestaltungsart — sie hatte, vom professionellen Theaterstandpunkt aus betrachtet, etwas von der Leidenschaftlichkeit eines genialen Laien — keine Brücke schlagen. Er selbst spürte das nicht. Er war glücklich. Er war in seinem Element. Aber ich glaube nicht, daß jene Funkaufführung zu einem einheitlichen Ganzen wurde. Nein: Kraus wirkte nur allein. Sein Theater kannte als Ensemble, als Liebhaber und Liebhaberin, als Helden-, Charakter- und Väterspieler, als Charge und komische Alte, als Chor und Solisten nur ihn. Nur in dieser umfassenden Personalunion kam es zum Blühen.

Ich hatte, 26 Jahre alt, in der von politischem Skandal umwitterten Uraufführung der „Unüberwindlichen“ an der Berliner Volksbühne den Arkus zu spielen, jene Figur, in der Kraus sich selbst in seinem Kampf gegen Bekessy und den Wiener Polizeipräsidenten Schober dargestellt hat. Ich war natürlich aufs tiefste befangen, als Karl Kraus, das verehrte Original meiner Rolle, selbst zur Hauptprobe erschien. Nach der Probe kam er zu mir und ermunterte mich: „Haben Sie doch keine Hemmungen! Machen Sie mich ruhig nach, so, wie ich mich gebärde. Sie wissen doch ...!“ Und dann deutete er mir lächelnd eine der für ihn typischen, weit ausladenden Gesten mit den beschwörenden Händen an, wie man sie von den großen, leidenschaftlichen Augenblicken seiner Vorträge her kannte.

Und wie geduldig konnte der Unduldsame sein! Wir probierten im Berliner „Theater am Schiffbauerdamm“ für eine Matinee „Die letzte Nacht“, den Epilog zu den „Letzten Tagen der Menschheit“. Wie es in jener hektischen Zeit üblich war, erstreckten sich die Hauptproben bis weit über Mitternacht, was sich schon deshalb nicht vermeiden ließ, weil viele der Schauspieler, die von den verschiedenen Berliner Bühnen für dieses schwierige Unternehmen zusammenengagiert wurden, erst nach ihren Vorstellungen zur Probe kommen konnten. Noch klappte nichts. Die szenische Technik in ihrer phantastischen Vielfalt schien fast unlösbare Schwierigkeiten zu bieten. Alles lief und schrie durcheinander, Bühnenarbeiter, Beleuchter, Mitwirkende. Szenenfetzen wechselten mit technischen Versuchen. Während alldem saß Karl Kraus stumm und ergeben, mit hochgeklapptem Kragen, im Parkett. Erst gegen 4 Uhr früh, als einer der Schauspieler — nicht ganz unbegreiflicherweise alkoholisiert — auf die Bühne wankte und in grotesk entstellender Verdrehung seines Textes lallte:

Laßt Bomben erschallen, laßt Bomben erschallen: Hosiannah ist auf den Ölberg gefallen.

— erst da erhob sich Kraus: „Das genügt für heute. Schluß der Probe!“ Und der graue Berliner Morgen verschlang den ganzen Spuk.

Karl Kraus war es, der uns jungen Schauspielern Augen und Ohren für die unsern Beruf zerstörenden Gefahren der Zeit geöffnet hat. Diese Gefahren sind noch immer und in noch verstärktem Maß die gleichen wie damals. Noch immer wollen viele Schauspieler und Regisseure nicht wahrhaben, daß ihr höchster Ehrgeiz der Dienst am Dichter zu sein hat. Noch immer wird der Name des Dichters, ohne den der Schauspieler ja gar nicht wäre, gerne kleiner gedruckt als der seines reproduktiven Protagonisten, werden klassische Werke zu banaler Aktualisierung mißbraucht, versuchen Schauspieler allzu oft Kraft durch Krampf, Geist durch Intellekt, Seele durch Sentimentalität, Leidenschaft durch Nervosität, dichterische Sprache durch Alltagskonversation und Kunst durch Mache zu ersetzen. Noch immer wissen viele nicht, daß einem einzigen Shakespeare’schen Vers darstellerisch wesentlich schwerer gerecht zu werden ist als einer ganzen Szene Bernard Shaws. Noch immer verwechselt man gerne Pech mit Tragik, Klamauk mit Humor, kalte technische Bühnen-Mätzchen mit dem ewigen geistig-erotischen Zauber des Theaters.

Karl Kraus hat uns gelehrt, echt von unecht zu unterscheiden. Er war es, der uns jenen altmodischen Begriff nahegebracht hat, zu dem auch heute noch, ja heute erst recht, fast revolutionärer Mut gehört: den Begriff unbedingter Hingabe an den Dichter.

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