FORVM, No. 297/298
September
1978

Im Atomdunkel

Zur Volksabstimmung über das Kernkraftwerk Zwentendorf

Zum erstenmal wird ein Volk direkt über ein Kernkraftwerk abstimmen: in ganz Österreich am 5. November 1978 über die Ingangsetzung des bereits fertiggebauten Atomkraftwerks Zwentendorf an der Donau, 40 km vor Wien. Ein führender Sozialdemokrat macht sich Sorgen, daß seine Partei nicht zur Atompartei entarte: Paul Blau, jahrelang Chefredakteur des SPÖ-Zentralorgans Arbeiter-Zeitung, jetzt Leiter des von Gewerkschaft und Arbeiterkammer betriebenen Instituts für Gesellschaftpolitik.

Wissen wird immer Unwissen beherrschen. Und ein Volk, das sich selbst regieren will, muß sich mit der Macht wappnen, die das Wissen verleiht. Eine Volksregierung ohne Information des Volkes oder ohne die Mittel, sie zu erlangen, ist bloß das Vorspiel einer Farce oder einer Tragödie.

James Madison, US-Präsident 1809-1817

In kleinsten Mengen schädlich

Alles, was in Österreich Rang und Namen hat, ist für die Atomenergie und selbstverständlich auch für die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf („Gemeinschaftskernkraftwerk Tullnerfeld“ heißt es offiziell): die Regierung, die Spitzen von Gewerkschaft und Industrie, die Führungsgremien der Wirtschafts-, Arbeiter- und Ingenieurkammern, ja sogar der Präsident der Ärztekammer; der Parteivorstand der SPÖ, im Grunde auch die Leitung der ÖVP, die bloß aus taktischen Gründen gschamig tut, und selbst in der FPÖ-Spitze gibt’s neben echten Atomgegnern auch solche, die auf ein paar zusätzliche Stimmen hoffen, die man als Anti-Atompartei kassieren könnte, ohne Gefahr zu laufen, je wirklich Uran-Kastanien aus dem Reaktor holen zu müssen.

Trotz dieser imponierenden Einheitsfront bin ich — nach 21 Jahren der Beschäftigung mit der Materie und eben aus diesem Grunde —- gegen die Atomindustrie und somit auch gegen Zwentendorf. [1] Meine Überzeugung von Unsinn und Gefahr der Atomkraftwerke wurde durch jüngste Forschungsergebnisse und durch zahlreiche technische, wirtschaftliche und politische Entwicklungen und Begebenheiten noch vertieft.

So ist mittlerweile zweifelsfrei erwiesen, daß niedrige radioaktive Strahlendosen bedeutend gefährlicher sind als bisher angenommen. Die sogenannte „Hanford-Studie“ von Alice Stewart und die nach neunjähriger Forschung veröffentlichten Ergebnisse von Rosalie Bertell [2] sprechen eine klare Sprache: die Erkrankungen an Leukämie und Krebs und der allgemeine Verlust an Lebens- und Widerstandskraft sind bei Menschen, die solchen „erlaubten“ Strahlendosen ausgesetzt waren, um ein Vielfaches höher, als ursprünglich erwartet worden war.

Die Störungen bei Atomkraftwerken durch technisches und menschliches Versagen häufen sich zusehends. Allein in der Bundesrepublik Deutschland gab es im Juni dieses Jahres innerhalb von zehn Tagen drei ernste Pannen, von denen eine — die von Brunsbüttel — zur Katastrophe hätte werden können. Die Vertuschungs- und Verniedlichungstaktik der Betriebsleitungen und Behörden schlägt Purzelbäume. Zwentendorf, auf einer Erdbebenlinie gebaut, wind- und stromaufwärts vor den Toren Wiens, könnte uns eine radioaktive Suppe einbrocken, die von der ganzen Bevölkerung ausgelöffelt werden müßte.

Totgeboren im Wüstensand

Die Europäische Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (ECE) hat heuer gemeinsam mit der Internationalen Atomenergie-Organisation ein Dokument veröffentlicht, in dem erklärt wird, daß „das Problem der langfristigen Lagerung (Endlagerung) hoch radioaktiver Abfälle noch keine Lösung gefunden hat, die von wirtschaftlichen, politischen, technischen und Umweltstandpunkten aus eindeutig befriedigend erscheint.“ [3]

Die von der Atomlobby verbreitete und in Österreich von Ministern, Parlamentariern und wirtschaftlichen Spitzenfunktionären bereitwillig nachgeplapperte Behauptung des Gegenteils wird durch Wiederholung nicht richtiger. Selbst die schönsten Journalistenberichte von Gesellschaftsreisen zu den französischen Atomanlagen von Marcoule und La Hague ändern wenig an den Tatsachen und noch weniger an dem Text des Vertrags unserer Zwentendorfer Atombastler mit der französischen Gesellschaft Cogema, in dem sie von letzterer gründlich eingeseift wurden.

Der österreichisch-persisch-ägyptische Lagerzirkus hätte Herzmanovsky-Orlando gewiß zu lesenswerten Schnurren inspiriert. Bundeskanzler Kreisky hat auch schon vorsorglich die möglicherweise zu hohen Kosten als Entschuldigung parat, wenn sich das Ägyptenabkommen als „totgeborenes Kind, das sich im Wüstensand verlaufen hat“, erweisen sollte (um ein Lieblingssprücherl des Nationalbank-Generaldirektors Kienzl zu variieren). [4] Auch die Prophezeiung von Robert Jungk, daß der Weg zum Atomstaat der Weg zum Polizeistaat sei, hat in der Wirklichkeit schon mehrfach Bestätigung erfahren: amerikanische und englische Atomanlagen und -transporte (von französischen ganz zu schweigen) werden unter bewaffneten Schutz gestellt und das Personal streng überwacht. In der demokratischen Schweiz müssen die Angestellten der Atomkraftwerke genau über ihre Zeitverwendung — auch privat! — Buch führen. In der Bundesrepublik reist der führende Atomfachmann Klaus Traube, dessen staatsbürgerliches Recht auf Privatheit von den Behörden durch Abhören seines Telefons grob — und ungesühnt — verletzt wurde, als Betroffener und Wissender durch die Lande, weil man überall von ihm, dem Eingeweihten, wissen will, wie man sich die Atomdiktatur, deren Vorgeschmack er bereits kostete, ersparen kann. [5]

Atomstrom ist nicht billiger

Schließlich ist auch noch die Mär vom billigen Atomstrom geplatzt: Die Kalkulationen der Betreiber erweisen sich als Milchmädchenrechnungen. Über der westlichen Atomindustrie schwebt infolge Preiserhöhungen, Auftragsrückgängen, Bauzeitverlängerungen, strengeren Sicherheitsauflagen und des Widerstands von Bürgern und Gerichten der Pleitegeier. Der wilde Konkurrenzkampf um Auslandsmärkte, der auch vor Lieferungen in Krisengebiete und Diktaturen nicht zurückschreckt, läßt die letzten Reste moralischen Kredits schwinden. [6] Das Wort des schwedischen Physikers und Nobelpreisträgers Hannes Alfven, die Atomindustrie sei der siamesische Zwilling der Atomrüstung, wird zu ihrem schlimmsten und leider berechtigten Kainszeichen.

Ein Echo von alledem ist über unsere Grenzen und zum Teil in unsere Köpfe gedrungen, aber man muß doch annehmen, daß die Mehrheit der Österreicher nach den relativ guten Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ihrem Establishment auch auf dem Atompfad folgt. Noch dazu steht der mit vielen Schilling-Millionen angekurbelten Atompropagandawalze der Offiziellen nur der missionarische Eifer und die Zivilcourage des Häufleins der aufrechten Ökologen und Anhänger des „sanften Weges“ in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber. (Den rechts- und linksradikalen „Narrenrand“ dürfen wir als eher hinderlich vergessen.) Kein Wunder also, daß viele fast verzagen wollten, als der Bundeskanzler plötzlich eine Kehrtwendung machte. Eben noch hatte er die von den Jugendorganisationen der eigenen Partei vorgeschlagene Atom-Volksabstimmung mit dem Hinweis auf die Schwierigkeit der damit verbundenen Fragen abgelehnt, jetzt präsentierte er sie als die beste Entscheidungsmethode.

Jeder vierte wählt gegen Atompartei

Manche Wahrheiten haben in der Politik offenbar ein noch kürzeres Leben als anderswo. Bruno Kreisky tat von seinem Standpunkt aus vorher und nachher das Richtige. Vorher — das heißt vor der Festlegung der ÖVP auf Nein-Kurs — konnte er hoffen, eine solide parlamentarische Mehrheit für Zwentendorf zu finden. Da wäre es töricht gewesen, das komplizierte, vom Verlauf internationaler Diskussionen und Ereignisse beeinflußte Thema den Stürmen und Unwägbarkeiten einer Volksabstimmung auszusetzen. Schließlich hatte man schon mit der „Aufklärungskampagne Kernenergie“ der Bundesregierung seine bitteren Erfahrungen gemacht: Was als Alibi-Aktion gedacht war, endete als kostspieliger Rohrkrepierer. Hatten vorher nur wenige Hähnchen in Österreich gegen Atomkraftwerke gekräht, waren es jetzt viel mehr — und lauter waren sie auch geworden.

Zudem erwies sich der aus Gruppenberichten und Diskussionen gefilterte Regierungsbericht als einseitig manipuliertes Machwerk, das insbesondere ausländische Experten, die auf Einladung der Regierung an den Diskussionen teilgenommen hatten, erschütterte. [7] Trotzdem enthielt er immer noch Bedingungen (zum Beispiel die örtliche Festlegung des Endlagers für hoch radioaktive Abfälle), die bis zum vorgesehenen Abstimmungstermin unerfüllbar waren.

Die ÖVP wollte die Chance nützen und der Regierungspartei den schwarzen Atompeter zuschieben. Auch ihr dürfte ein Umfrageergebnis vom Oktober 1977 bekannt gewesen sein, wonach für 22 Prozent der Befragten „eine Partei, die für die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf stimmt“, nicht wählbar wäre. Sogar von den SPÖ-Anhängern erklärten sich 11 Prozent in diesem Sinn, und 10 Prozent wußten es (noch) nicht. Die folgende Tabelle zeigt mit aller Klarheit die politische Sprengkraft, die das Thema im vergangenen Herbst besaß. Wird sie im Wahljahr 1979 geringer sein?

Frage: Ist für Sie eine Partei wählbar, die für die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf stimmt?
Antwort:
Ja 61%
Nein 22%
Weiß nicht 17%

Von den Männern antworteten 66 Prozent mit Ja, von den Frauen 56 Prozent. Von den Landwirten antworteten nur 41 Prozent mit Ja, von den Facharbeitern hingegen 75 Prozent.

Die Aufgliederung nach dem politischen Standort der Befragten zeigt folgendes Bild (Angaben in Prozent der Befragten):

 FPÖ-Anh.KPÖ-Anh.ÖVP-Anh.SPÖ-Anh.Nicht-engagierte
Ja 56 43 41 79 53
Nein 26 50 37 11 23
Weiß nicht 18 7 21 10 24

Siegt Höhlen-SPÖ über Höhlen-ÖVP?

Der Bundeskanzler schaltete schnell: Statt der ÖVP den Gefallen zu tun und mit der eigenen knappen Mehrheit das explosive Paket allein zu schultern, erklärte er in einem Fernsehinterview das österreichische Volk für atomentscheidungsreif. Die Menschen hätten sich interessiert und wüßten, worum es ginge, meinte er, und er zweifle nicht an einer starken Mehrheit für das Atomkraftwerk. Die Volksabstimmung war beschlossene Sache, und die Oppositionsparteien müßten wenigstens im Prinzip dafür sein, wollten sie nicht als Feinde der direkten Demokratie in Mißkredit geraten.

Die Überlegung ist von bestechender Einfachheit: Gibt es diese Mehrheit, dann kann das vereinigte österreichische Patriarchat der Institutionen seine schon längst gefaßten Absichten nun „in Vollziehung des Volkswillens“ verwirklichen. Der SPÖ-Vorstand hat halt schon immer gewußt, was die Leute wollen, und Taus & Konsorten sind blamiert. Gibt es wider Erwarten keine Mehrheit, hat man gegenüber der internationalen Atomlobby ein tadelloses Alibi, und selbst Anton Benya wird vom Bundeskanzler und von der SPÖ keinen politischen Selbstmord erwarten. Erfüllen sich später die düsteren Visionen der Energiewirtschaft, die auch Minister Staribacher quälen, sinken wir tatsächlich ins Höhlenmenschendasein bei Kienspanbeleuchtung und karger Rohkost zurück, war auch dies Volkeswille: „Es ist besser, mit den Massen zu irren, als gegen sie recht zu behalten“, sagte schon Viktor Adler. Man leidet dann in bester sozialistischer Tradition, und da lange Jahre der Satz gegolten hat, die Sozialisten seien die Besseren für die schlechteren Zeiten, könnte man sogar hoffen, daß auch die Höhlen-SPÖ die Höhlen-ÖVP auf die Oppositionssteinbänke verweisen wird.

Doch überlassen wir dieses Holzhammer-Argument der damit seit Jahren operierenden Atomlobby und kehren wir zur Wirklichkeit zurück. Sie ist ernst genug. Zweifellos leidet die Bevölkerung an einem Informationsdefizit, ja noch schlimmer: Seit Jahren wird ihr mit allen Mitteln moderner Propaganda eingeredet, Atomenergie sei die billigste, sauberste und ungefährlichste, auf sie zu verzichten wäre wirtschaftliche und politische Dummheit und außerdem unmöglich, es sei denn ... siehe „Höhlenmensch“.

So betrachtet ist das zitierte Umfrageergebnis erstaunlich. Man hätte doch eine viel geringere Zahl von Zweiflern an der Weisheit der offiziellen Energiepolitik erwartet. Trotzdem, die Aussichten für die Atomgegner erscheinen auf den ersten Blick trübe.

Dennoch glaube ich, daß diese Volksabstimmung auch für die Atomgegner ihre positiven Seiten hat, und ich glaube ferner, daß es für die SPÖ auf mittlere und längere Sicht weitaus besser wäre, wenn in dieser Abstimmung gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks entschieden würde.

Endlich nein sagen können

Zunächst zur Abstimmung an sich: Es ist das erste Mal in der Geschichte der Zweiten Republik, daß die Bevölkerung in einer lebenswichtigen Sachfrage unmittelbar entscheiden darf. Ein solcher Akt der direkten Demokratie ist zugleich Erziehung zur Verantwortung jedes einzelnen für das öffentliche Wohl.

Wie oft hören wir, wenn wir uns für dies oder jenes einsetzen und unsere Mitbürger zum Mittun auffordern: „Was willst du? Die da oben machen ja doch, was sie wollen. Unsereiner hat nichts zu reden, höchstens einmal in vier Jahren dürfen wir für sie stimmen, und damit basta!“ Dieses Alibi der Resignation wird mit einem Schlag genommen. Jetzt hat jeder was zu reden, und die da oben werden das tun, was die Mehrheit für richtig findet.

Zugleich ergibt sich für die Atomgegner die Pflicht, die zweitwichtigste Wurzel des Desinteresses „derer da unten“ zu bekämpfen: das Bewußtsein des eigenen Unwissens. „Davon versteh ich nichts“, tönt’s einem häufig entgegen, wenn man zur öffentlichen Stellungnahme auffordert. Die Entmündigung des Staatsbürgers in der zentralisierten, hierarchischen Industriegesellschaft ist weit fortgeschritten, die Defacto-Diktatur der Technokraten und Bürokraten kann ihre Blößen nur mehr höchst notdürftig mit dem fadenscheinigen Mäntelchen der Formaldemokratie bedecken. Wer tiefer in die Materie eindringen will, lese E. F. Schumacher, Ivan Illich, Erich Fromm, Carl Améry, André Gorz und andere, nicht zuletzt den oben erwähnten Klaus Traube.

Die Atomgegner stehen vor der Aufgabe, ihren Standpunkt, mit guten Gründen untermauert, im Gespräch von Mensch zu Mensch zu erklären. Da sie weder über Millionenbeträge noch über bürokratische Apparate verfügen und da es höchst zweifelhaft ist, ob ihnen Presse und Rundfunk Raum und Zeit gewähren können (oder dürfen), bleibt ihnen im wesentlichen nur der persönliche Kontakt, der im Schneeballsystem sehr wohl viele Menschen erfassen kann, und zwar nachhaltiger, als dies Hochglanzprospekte, Postwurfsendungen, Zeitungsinserate und sogar Fernsehspots vermögen.

Die Diskussion mit Befürwortern der Atomenergie und mit Gleichgültigen zwingt die Atomgegner, die Haltbarkeit ihrer eigenen Argumente immer wieder zu überprüfen, eigene Informationslücken zu füllen, den richtigen Ton zu finden, kurz, einen Selbsterziehungsprozeß zu durchlaufen, der durchaus persönlichkeitsbildend und im besten Sinn des Wortes politisierend wirkt.

Jene unter uns, die sich seit Jahren mit der gesellschaftspolitischen Seite der Megatechnologien, nach dem deutschen Sozialdemokraten Freimut Duve, mit „neuen Kriegsindustrien“ [8] befassen, wissen ja, daß die Atomindustrie nur die Spitze des Eisbergs lebensbedrohender Gebilde ist, die im Körper der Industriegesellschaft wuchern. Wie immer die Volksabstimmung ausgehen mag, ob Zwentendorf in Betrieb geht oder nicht, wir brauchen dringend Menschen, die von der Notwendigkeit einer Kurskorrektur unserer Selbstmordwirtschaft überzeugt sind und den Boden einer öffentlichen Meinung bereiten, die es den Politikern erst möglich macht, Überholtes aufzugeben und neuen Zielen zuzustreben.

Haben wir so der Volksabstimmung an sich gute Seiten abgewonnen, soll noch versucht werden, vom Standpunkt eines sozialistischen Atomgegners zwei „Szenarios“ für die SPÖ zu entwickeln.

Heute für AKW — Rechnung zahlt SPÖ

Erste Annahme: Es wird mit beträchtlicher Mehrheit für die Inbetriebnahme entschieden. Freudengeschrei im Atomklub, Freudengeschrei im Parteivorstand. Doch ist damit auch nur eine einzige der offenen Fragen gelöst? Wie steht’s mit der Wiederaufbereitung in La Hague? (Die Anlage ist noch gar nicht gebaut.) Was kostet sie? Wird sie funktionieren? Was ist mit dem vermutlich notwendigen Kompaktlager in Zwentendorf? Was kostet es? Wie schaut es mit den ausständigen amtlichen Bewilligungen aus? Geben die Amerikaner überhaupt die Zustimmung zu unserer Absicht, den hoch radioaktiven Abfall nach Ägypten zu schicken, selbst wenn Sadat bereit ist? Und was kostet das?

Haben wir ein Entsorgungskonzept für die weitaus größeren Mengen schwach und mittel radioaktiver Abfälle? Und was kostet das? Die Schweiz hat immer noch keines, obwohl sie drei Atomkraftwerke in Betrieb hat und drei weitere bis 1982 in Betrieb setzen will. [9]

Das dicke wirtschaftliche Ende folgt etwas später: Der Strompreis für Zwentendorf wurde auf der Basis kalkuliert, daß sich die festen Kosten für Wiederaufbereitung und Endlagerung auf die drei ursprünglich geplanten Atomkraftwerke (Zwentendorf, Stein-St. Pantaleon und eines an der Drau) aufteilen. Bleibt es bei Zwentendorf allein — wofür zur Zeit SPÖ-Parlamentsklubobmann Fischer plädiert —, verdreifacht sich dieser Kostenanteil. Ferner war angenommen worden, daß Zwentendorf mindestens 6.000 Stunden im Jahr läuft. Nach den westdeutschen Erfahrungen mit dem gleichen Reaktortyp ist dies eine außerordentlich optimistische Annahme. Schlußfolgerung: Es wird aus technischen, organisatorischen und politischen Gründen noch geraume Zeit dauern, bis das Werk in Betrieb gehen kann.

Erweist sich der Abschluß eines Endlagervertrags mit dem Ausland zunächst als unmöglich, muß weiter nach einem inländischen Lagerplatz gesucht werden (was mehr oder minder heimlich derzeit auch geschieht). Das bedeutet zusätzlich politische Unruhe. Läuft das Werk endlich an, beginnen die Kinderkrankheiten (siehe Bundesrepublik, wo zur Zeit acht Atomkraftwerke stilliegen). Zudem kündigt sich bei unserem Nachbarn — als Folge des Unfalls in Brunsbüttel — an, daß man dem Siedewasserreaktor (also dem Zwentendorfer Typ) seiner Verletzlichkeit und Gefährlichkeit wegen überhaupt das Licht ausblasen will.

Nun hat sich die SPÖ leider selbst in die Rolle der „Atompartei“ gedrängt und würde als solche — trotz der Legitimation durch die Volksabstimmung — von der Bevölkerung für alle vorherzusehenden Schwierigkeiten und für die Kostenexplosion verantwortlich gemacht werden. Je mehr Propaganda jetzt betrieben wird, desto härter würde die Partei durch die Realitäten Lügen gestraft werden. Zu hoffen, daß die politischen Gegner im Wahlkampf 1979 die Situation nicht nützen, wäre kindliche Einfalt.

Der SPÖ gingen nicht nur die Stimmen der prinzipiellen Atomgegner verloren — erinnern wir uns: es waren im Oktober 1977 immerhin elf Prozent der eigenen Anhänger —, sondern auch aller jener kaum durch alte Loyalität gebundenen Wechselwähler, die ihr den Zwentendorfer Schildbürgerstreich ankreiden. Dies und die Belastung der Regierungspartei mit der voraussichtlichen weiteren Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage in den westlichen Industrieländern (man lese den letzten OECD-Bericht) würde die SPÖ die absolute Mehrheit kosten, selbst wenn sich die ÖVP bis dahin nicht von ihrer Führungsschwäche erholen sollte.

Lebt lieber von Wind und Sonne!

Nun zur zweiten Annahme: Die Volksabstimmung ergibt eine wenn auch noch so knappe Mehrheit gegen die Inbetriebnahme. Ich halte es in einem solchen Fall für ausgeschlossen, daß sich eine Regierung über ein solches Votum hinwegsetzt. Gewiß, es gäbe ein lautes Wehgeschrei der Atomlobby, und hie und da würde vielleicht sogar der Aufstand geprobt werden. Aber dann müßte man den Tatsachen ins Auge sehen — und würde entdecken, daß sie gar nicht so schlimm sind.

Erstens wäre man die Mühlsteine der Wiederaufbereitungs- und Lagerkosten los, und die dafür benötigten Milliarden wären frei. Sofort könnte ernsthaft an die Umrüstung Zwentendorfs in ein konventionelles Kraftwerk geschritten und ein Teil des atomaren Inventars vielleicht sogar verkauft werden. Weitaus bedeutsamer wäre jedoch der wiederhergestellte Bürger- und vor allem Bauernfriede dort, wo die Leute jetzt befürchten, das Atomkraftwerk selbst oder ein Abfallager könnte ihre Existenz direkt und indirekt (über wirtschaftliche Folgen) gefährden.

Mit dem Verzicht auf Atomenergie wäre auch der Hemmschuh beseitigt, der heute allen Bemühungen um effizienten Energieeinsatz und um die Entwicklung von Alternativenergien entgegengesetzt wird. Die Regierung und die Energiewirtschaft würden nicht mehr unter dem Zwang stehen, beweisen zu müssen, daß wir ohne Atomstrom nicht leben können — im Gegenteil. Es gibt heute schon eine erstaunliche Fülle schöpferischer — theoretischer und praktischer — Arbeiten auf diesem Gebiet: Holz- und Strohstudien, Biomethananlagen und -projekte, Sonnen- und Windenergiegeräte und so weiter. Niemand müßte mehr behaupten, daß dies alles Mist oder frühestens für das nächste Jahrhundert von Bedeutung sei.

Kurz, dem Alternativdenken wäre auf dem Gebiet der Energiepolitik endlich das Tor aufgetan, vor dem heute die Atomlobby so unerbittlich und voll Angst um die investierten Milliarden Wache steht. Ist dieses Tor einmal offen, würde auch in anderen Bereichen der frische Wind neuer Ideen zu wehen beginnen. Es gibt sie ja! Man denke nur an die von jungen Menschen gestaltete Ausstellung „Umdenken — Umschwenken“, die im Vorjahr nach ihrem Schweizer Debüt — und hierzulande um vieles verbessert — auch in Österreich zu sehen war.

Daß alle diese neuen Wege viel arbeits- und hirnintensiver und viel billiger sind als die in drei Jahrzehnten ausgetretenen Trampelpfade der Großtechnologie, daß sie der Mitbestimmung und Mitbeteiligung viel zugänglicher sind, dürfte Sozialisten nicht schrecken.

Und die SPÖ? Sie könnte zunächst das ungeschmälerte Verdienst für sich in Anspruch nehmen, diesen wichtigen Akt der direkten Demokratie initiiert und durchgesetzt zu haben. Sie liefert den Beweis ihres unerschütterlichen Demokratieverständnisses und ihrer geistigen Beweglichkeit, indem sie sich dem Volksentscheid nicht nur beugt, sondern die neue Ausgangslage zum Wohl der Allgemeinheit klug zu nützen versteht.

Damit aber wird sie den schlechten Geruch der Atompartei los, der ihr in den Nasen gar nicht weniger Mitbürger anhaftet.

Angesichts einer solchen Perspektive dürfte der verletzte Stolz jener, die sich als Einpeitscher für das Atomkraftwerk betätigt haben, keine allzu bedeutende Rolle spielen. Vielleicht kommen einige von ihnen im Hinblick auf die jetzt schon sichtbare Atompleite im Westen sogar zur besseren Einsicht und wieder aus dem Schmollwinkel heraus, in den sie sich im ersten Schmerz der Niederlage zurückgezogen haben.

Atomgegnerschaft und Sozialismus sind nicht nur vereinbar. Sie entspricht ihm — geht man den Dingen auf den Grund — viel mehr als die Anbetung der lebensfeindlichen Megatechnologien vor den Altären einer in West und Ost außer Kontrolle geratenen Industriegesellschaft.

2. August 1978

[1Siehe den Artikel des Verfassers: Alternativen zur Kernkraft, NF August/September 1977

[2Dr. Alice Stewart/Dr. Thomas Mancuso: Studie „The Hanford Nuclear Workers“; Dr. Rosalie Bertell: „Tri-State Leukemia Survey“

[3ECE-Dokument ENV/R. 43/Add. 2, 12. Jänner 1978

[4Die Perser hatten 7½ Milliarden Schilling verlangt und sich vorbehalten, den Mist eventuell doch zurückzuschicken. Die Ägypter haben noch keine Beträge genannt, weil sie noch nicht wissen, wo so ein Lager zu errichten wäre.

[5Siehe Klaus Traubes Buch: „Müssen wir umschalten? Von den politischen Grenzen der Technik“, Rowohlt-Verlag, Hamburg April 1978

[6Die BRD ist durch ihr gigantisches Atomgeschäft mit Brasilien ins Sperrfeuer der Kritik geraten. Sie will Brasilien mit Anlagen des gesamten Atombrennstoffkreislaufs ausrüsten, aus dem dann jederzeit Atomsprengstoff produziert werden kann.

[7Allerdings ist der Endbericht von Justice Parker über die Windscale Hearings (es ging um die Errichtung einer großen Wiederaufbereitungsanlage an der englischen Westküste) eine noch viel skandalösere Irreführung des britischen Parlaments: Die zahlreichen Bedenken selbst weltberühmter Wissenschafter wurden einfach unterschlagen.

[8Freimut Duve: „Strukturelle Arbeitslosigkeit und die Zukunftsindustrien“, in: Mitteilungen des Instituts für Gesellschaftspolitik, Wien, Heft 22, Die Arbeit in der Wachstumskrise

[9Das Eidgenössische Institut für Reaktorforschung hat bisher lediglich ein „Leitbild zu einem Schweizerischen Entsorgungskonzept“ vorgelegt, in dem es abschließend heißt: „Die Verfasser dieses ‚Leitbildes‘ hoffen, daß mit dem vorgeschlagenen Vorgehen die nukleare Entsorgung der Schweiz zielstrebig eine Lösung finden wird“ (Dezember 1977)

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