MOZ, Nummer 56
Oktober
1990
Computerwelt:

Ich bin mein Hummer

Schein oder Sein? Eindrücke von der ars electronica ’90: „Der Moment der Erkenntnis der Sinnlosigkeit allen Seins und allen Strebens ist der Moment, den Fernseher einzuschalten.“

Bemannter Flugsimulator
Bild: Ars Electronica, Katalog

„Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen ... Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchungen wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt“ (W. Sombart).

Diese Prognose — gestellt vor ca. 90 Jahren — ist scheint’s nicht eingetroffen: betrachtete man den selbstzufriedenen, fast selbstgefälligen Ausdruck der vortragenden Wissenschaftler und Technomanager auf der ars — zumeist männlich, weiß, amerikanisch -, so war dieser als glücklich zu bezeichnen. Nicht nur in der Art der Darstellungen, sondern auch im positivistischen Zugang zum Dargestellten: die Im-materie der Computerwelt als die „schöne neue Welt“ von (heute) morgen. Was uns Glück verheißt, ist der Geist aus der Maschine.

Die „fernen Zeiten mit unvorstellbaren Fortschritten“ sind so ferne nicht mehr. Jedenfalls wurde dem zahlreichen Publikum der Symposien die Möglichkeit eines paradiesischen Seins offeriert, um nicht, jenseits einer simplen Maschinenstürmerei, zu sagen suggeriert. Ein Sein, das nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Denn alle Wünsche sind machbar, Frau Nachbar! Sie benötigen lediglich einen Cyberspacehandschuh und einen Helm, und schon können Sie sich schwupps in jede beliebige Realität einklinken, die Ihnen alle nur erdenklichen Bedürnisse befriedet.

„Wie es Euch gefällt!“ Was zu Shakespeares Zeiten noch offensichtliche Kostümierung war und im Verwechslungsspiel köstliche Affekte zwischenmenschlicher Begegnungen hervorzauberte, wird in der sogenannte „virtuellen“ (= möglichen) Welt zum Schein meines eigenen Seins. Als simuliertes Double kann ich zu dem werden, was ich schon immer sein wollte: ein Hummer zum Beispiel. Warum gerade diese Identifikation mit dem Schalentier nolens volens mindestens zehnmalige Erwähnung fand, läßt Tiefgründiges im Geschmack der Selbstverzehrungsphantasie von gegenwärtigen neutechnologischen Spezialisten erahnen. Vielleicht produziert der Sprung in irreale Wirklichkeiten regressive Sehnsüchte nach prähistorischen Evolutionsstufen. Kleists Frage, ob ein Tänzer jemals die Leichtigkeit, Grazie und Anmut einer Marionette erreichen könne, woraus er die These erschloß, daß der Mensch nur durch ein unendliches oder durch gar kein Bewußtsein ein Bewußtsein zu „wahrer Schönheit“ finden könne und dadurch in der Lage sei, das Paradies von neuem zu betreten, scheint sich positiv zu erfüllen: Frau/man braucht nur in den Bildschirm einzutreten, und schon eröffnet sich ein imaginäres Schlaraffenland. Ob die Hungrigen dieser Welt auch gesättigt werden würden in jener anderen? Daß das Wort, das Zeichen, Fleisch werden könne, ist christlicher Traum. Und daß der Geist nicht von dieser Welt sei, wußte schon Jesus und läßt die Verwurzelung der Logik der Computerfachmänner in unserer Religionsgeschichte als Heilsgeschichte offenbar werden. Jenseits ihres eigenen Selbstverständnisses, welches strikt und erkenntnistheoretisch obsolet zwischen Science und Metaphysik trennt und vergißt, daß sie selber alles daran setzen, alles Metaphysische zu materialisieren. Es wird so getan, als gäbe es eine reine Objektivität, die man nur vom Baum der Erkenntnis zu pflücken bräuchte — mit Hilfe von künstlicher Intelligenz: man schiebe sich eine Diskette in den Kopf, verbinde technische Hardware mit Biohardware, desgleichen programmierte Software mit der Biomasse Software (Gehirn), und einem entsubjektivierten, d.h. von allen menschlichen Leidenschaften befreiten Denken und Wissen wird Tür und Tor geöffnet: der Mensch als Biorobot. Oder wie es ein Referent formulierte: „Es ist zu spät für uns. Wir werden erst wieder da sein, wenn Roboter die erste ars robotica gestalten.“

Eine Welt ist nicht genug

Was also hatte — jenseits bloß polemischer Notizen — die (noch) realexistierende ars electronica vornehmlich auf wissenschaftlichem Gebiet zu bieten? Die ‚typ‘ische überproportionale männliche Vortragsbesetzung (23:3) repräsentierte diese Technik und ihr Wissen als solcherart dominierte und prädeterminierte. Was man als Laie abstrakt befürchtete, erfüllte sich schlechterdings: der möglicherweise repräsentative Querschnitt durch die als solche behauptete Wissenschaft der Zukunft — Motto: „Eine Welt ist nicht genug“ — erschöpfte sich überwiegend in einer erschöpfenden Präsentation eines Spezialistenwissens über künstliche Intelligenz, künstliche Welten und künstliche Wirklichkeitssimulation einerseits, in einer pädagogisierenden didaktischen Aufbereitung andererseits (die für Spezialisten eher langweilig und für das Publikum eher langatmig gewesen sein muß). Und zeigte zum dritten einen generellen Mangel an einer politisch-soziologischen Reflexion und Hinterfragung der materiellen und geistesgeschichtlichen Produkt/ionsbedingungen. Der amerikanische Weg des positiven Denkens, welcher auf einer Akkumulation von Wissen beruht — garniert mit der bloßen Feststellung, daß dies alles ja gesellschaftliche und philosophisch interessante. Fragen aufwerfen würde —, kreierte im Brucknerhaus seine Selbstfeier. Wissen statt Denken, Antworten statt Fragen — vielleicht sind die neuen Wissenschaftler bereits die Hypermaten (= Steigerung von Automaten), die zu entwikkeln sie vorgeben.

Der im wörtlichen Sinn zu verstehenden Ent-täuschung konnten aber auch interessante Aspekte abgewonnen werden. Wenn schon kein Durchblick, dann wenigstens ein Einblick in die Geographie, Topologie einer Wissenschaft, die sich ihr Terrain selbst erschafft. Natürlich nur für gute Zwecke, wie oft genug betont wurde: Die Herstellung der „virtual reality“ erleichtert die Planung und Diagnose beispielsweise von Krankheiten, von Verkehrsführung und Stadtplanung, Flugsimulation und Unfallvermeidung, militärischen Manövern im (nicht: am) Bildschirm; sie erleichtert das Dasein von Behinderten, indem sie diesen ermöglicht, sich simulativ „normal“ zu bewegen. Kranke und ’Normale’ könnten gemeinsam in die artifizielle Welt eintreten und dort gemeinsam spielen. Überhaupt wurde der Begriff eines universellen neuen Gemeinschaftssinns nicht nur einmal propagiert. Die Flucht nach vorne in eine reine Welt der sauberen Brüderschaft? Der nie erwähnte Haken jedoch bleibt und ist die Vorprogrammierung der jeweiligen künstlichen Räume, die wir dann tanzend betreten dürfen.

Vielleicht ‚entschlüpft‘ diese Art von (noch spielerischem) Machbarkeitstraum und Inszenierung einer dreidimensionalen Einbildungskraft in/per se männlichem Willen: Virilität als Software transformiert sich im Virtuellen. Aber zwei V’s ergeben noch kein double V des Wir, das als Wunschmaschine und Werkstatt des Geistes verallgemeinerbar wäre.

Alles ist in Fluß

Einige Spots (Fragestellungen, Thesen, Anekdoten) aus der Over-headprojektion, die möglicherweise unsere gesamten Kultur- und Denkprozesse fundamental verändern könnten; zumindest wurde dies als Science fiction im buchstäblichen Sinn angedeutet. Roboter können unsere Sprache ebenso wenig sprechen, wie wir nicht die Sprache Gottes sprechen können (d.h. das war die Sonntagspredigt).

Das Neue an der Erforschung der künstlichen Intelligenz ist der Konnektionismus. Basis: Wissen kann sich selbst organisieren (versus Programmierung und serielles Denken). Das Gehirn ist eine Netzwerkarchitektur und kann in Ansätzen bereits auf Computer übertragen werden. Organisiert sich die Biomaschine Mensch analog einer motor-activity?

Wie gestaltet sich die Beziehung von biologischen, mechanischen, physikalischen Konstanten zu mathematischen Funktionen? Welche Repräsentationsschemata (Abbildungsfunktionen) sind für uns eigentlich hinreichend gegeben — denn: Genügt die menschliche Sprache allein nicht mehr zur Bewältigung der Realität?

Computer können nicht denken; aber lernen — das heißt?

Der Computer bietet Zugang zu Informationen, ist aber nicht die Information selber. Seit 5 Millionen Jahren sind wir fertig — auf Grund eines Unfalls. Durch einen Chip im Kopf könnten wir die Knoten im Gehirn erweitern und die 13 Milliarden Hirnzellen und die 400 Netzsysteme endlich nützen. Ist der Mensch eine Art Biomaschine?

Die Naturwissenschaften sind nicht gut für die Gesellschaftswissenschaften, und umgekehrt hindert die Sozialethik die Naturwissenschaftsforschung am Fortschritt. Sind die Vorstellung von Seele und Geist erniedrigende Gedanken?

Die virtuelle Wirklichkeit fördert die Kommunikation. Die symbolische Kommunikation reicht nicht mehr aus, um uns vermitteln zu können; wir brauchen die postsymbolische Kommunikation. Sie fördert die Interaktion mit anderen und mit sich selbst. Die virtuelle Welt ist rein und sauber. Und das tollste ist die Rückkehr aus der Scheinwelt: man ist sensibler geworden für das Diesseits.

Kinder fühlen sich in der virtuellen Welt sehr wohl. Sie waren einfach an einem anderen Ort. Das spricht für sich selbst.

Wir müssen nur unsere Gehirnscripts entziffern, um dann die Realität wie nach einem Drehbuch inszenieren zu können. Ist unser Kopf wie das Universum, unser Körper wie die Erde?

Jeden Tag könnte ich meine Identität wechseln. Man kann (zu sich) selbst ein Roboter werden. Man kann erfahren, wie es war, ein Dinosaurier zu sein. Man kann sich zu seiner eigenen Mutter simulieren. Man kann aber auch den Punkt erreichen, an dem man mit niemandem mehr kommunizieren will. Ist das die dynamische Qualität eines kulturellen Entwicklungssprungs?

Alles in allem: alles ist im Fluß.

Festzuhalten bleibt: die marxistische Utopie des Überflüssigwerdens der Menschen durch die Maschinen scheint in Form der Naturwissenschaftler und Jungmanager aus dem Silicon Valley tendenziell seine Realisierung gefunden zu haben. Nicht mehr nur Prothesen haben wir uns da geschaffen, sondern möglicherweise die Auslöschung unseres Daund Soseins. Doch solange der erkenntnistheoretische Zusammenhang der Dialektik der Subjekt-Objektbeziehung — wie in Linz — nicht miteinbedacht wird, besteht die „Hoffnung“, daß sich unsere Unzulänglichkeiten im sozialen Organisieren und im Organisieren von Gedanken immer einen Streich spielen werden. Abgesehen davon, daß Wissen auch immer etwas mit Gewissen zu tun hat, lassen sich Erkenntnisse und ihre Ziele und Zwecke jeweils rekursiv zurückführen auf gesellschaftliche Prozesse, in die auch jeder Forscher eingebunden ist und sich insofern seiner eigenen (kollektiv bedingten) Subjektivität nicht entziehen kann. Dies wurde auf der ars — man kann fast sagen ‚Gott sei Dank‘ — nicht reflektiert.

Alles ist im Fluß. Heißt das nicht auch, daß sich alles ändert, weil alles so bleibt, wie es ist?

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