Heft 5/2000
September
2000

Giordanos Auftrag

Ein Gespräch mit Erwin Riess

Erwin Riess hat mit Giordanos Auftrag seinen ersten Roman vorgelegt. Context XXI sprach mit dem Autor über den Text, die Situation der Linken in Österreich und die Möglichkeit von Gesellschaftskritik in Kriminalromanen.

Die Bilder von Donauschiffen in dieser Ausgabe wurden uns freundlicherweise von © Erwin Riess zur Verfügung gestellt.
Context XXI: Ihr erster Roman Giordanos Auftrag hat die Form eines Krimis. Ermittler ist ein Journalist, der nach Ungarn reist, um einen Kriminalfall aufzuklären. Ist dies das erste Mal, daß Sie für einen erzählenden Text die Form eines Krimis wählten?

Erwin Riess: Es ist mein erster Roman, wobei ich ihn gar nicht so sehr als Kriminalroman sehe, sondern als Fortsetzung der Geschichten, die vorher schon existierten, mit der selben Mannschaft: dem Rollstuhlfahrer Groll und seinem Freund und Kollegen, dem Dozenten. Da gibt es ja eine Reihe von Geschichten, es entstehen auch laufend neue, und die Ungarn-Sache hat sich wie von selbst zu einer vermeintlichen Kriminalgeschichte weiterentwickelt.

Das heißt, das Hauptthema ist wie bei Ihrem ersten Buch Herr Groll erfährt die Welt (Elefantenpress Berlin) der ständige Dialog zwischen Groll und dem Soziologen, unter anderem auch über die Bedingungen, die behinderte Menschen in der Welt vorfinden?

Ja, wobei sich das in der letzten Zeit etwas verändert. Die Behinderungsfrage war früher stärker vorhanden, es war für mich notwendig, die schlechten, aber auch die erfreulichen Seiten von Behinderung zu thematisieren, so zum Beispiel, daß man Herrschaftmechanismen erlebt, die man vorher gar nicht bemerkt hat. Man erfährt einiges über diese Gesellschaft, wenn man in diesem Verfremdungseffekt lebt, vor allem, wenn man vorher auch bewußt als nicht behinderter Mensch gelebt hat. Man hat sozusagen eine zweite Möglichkeit, die Dinge des Lebens zu sehen.

Das hat sich in den letzten Jahren insofern verändert, als das Thema der Behinderung zwar immer vorhanden ist und bisweilen an die Oberfläche kommt, die Geschichten, die erzählt werden,damit aber vordergründig nichts zu tun haben. Im Fall des Romans ist es eine Geschichte, die sehr stark mit dem Behindertenthema zu tun hat. Bei einer eventuellen Fortsetzung wird das nicht mehr so stark sein. Die innerliterarische Geschichte ist etwas, was nicht vom Kriminalroman herkommt, sondern von der Dialogstruktur in der Prosa. Ich habe es einmal zurückverfolgt, das geht auf Don Quijote, die Auseinandersetzung zwischen Sancho Panza und „Don Quijote“, zurück, dann wurde das Dialogische wiederaufgenommen im Tristram Shandy von Laurence Sterne. Diderot wiederum hat auf Sterne mit Jacques, der Fatalist und sein Herr und Rameaus Neffe rekurriert, und Brecht hat in den Flüchtlingsgesprächen auf diese Struktur von Diderot zurückgegriffen. Das sind sozusagen die Vorbilder dieser Zweierstruktur, wo man Welt anhand von zwei Personen, die die Welt brechen, erzählt. Daß das dann auch noch eine Kriminalstruktur angenommen hat, war mir beim Schreiben gar nicht bewußt.

Das heißt, die Kriminalstruktur hat sich aus der Entwicklung der Geschichte ergeben?

Ja, die beiden fahren los nach Ungarn, Groll hat die Aufgabe einen Notruf aus einem ungarischen Behindertenheim zu recherchieren, und auf dem Weg dorthin gibt es jede Menge Umwege und Abenteuer, die die beiden erleben, diese Sache hat dann eine Eigendynamik angenommen.

Beim klassischen Kriminalroman hat man immer einen Polizisten, der etwas aufklärt, man erfährt etwas über die Soziologie der Polizei, wie es bei den italienischen Kriminalschriftstellern der Fall ist, das aber interessiert mich nicht. Mich interessiert nichts weniger als Polizeistrukturen zu bearbeiten. Mich interessieren die Auswirkungen dieser Konstellation auf die Gesellschaft und die Geschichten, die sich zwischen Menschen ereignen. Dies von zwei Personen brechen zu lassen, in ihrer Verrücktheit und Subjektivität, war das Ziel.

Der Kriminalfall, der in der Geschichte behandelt wird, ist eine sehr brutale Geschichte, nämlich die Vermarktung von Behinderten in der Pornoindustrie. Haben Sie Informationen über die Pornoindustrie gesammelt, und liefern diese den realen Hintergrund der Geschichte?

Kurz zusammengefaßt geht es darum: In einem Behindertenheim werden die Heiminsassen zur Erzeugung von sogenannten Snuff-Videos mißbraucht, das sind Videos, in denen Leute vor laufender Kamera mißbraucht oder sogar getötet werden. Ich hätte das nie erfunden, wenn ich nicht in New York in der 42. Straße solche Videos in einer Reihe von Sexshops gesehen hätte, das ist übrigens interessanterweise die Gegend, in der auch die Fernsehanstalten New Yorks sitzen. Dort werden diese Videos relativ offen angeboten und ich habe gesehen, daß im Hintergrund der dargestellten Handlungen, Gebrauchsgegenstände mit ungarischer Aufschrift stehen. Da bin ich hellhörig geworden, da ich Ungarn sehr gut kenne. Ich habe dann versucht, über Freunde in Budapest zu recherchieren und bin draufgekommen, daß Budapest das Pornozentrum Osteuropas ist und daß es einen riesigen Markt für diese Gewalt und Snuff-Videos im Westen gibt. Die Aufnahmeplätze liegen in Nordungarn und der Slowakei. Die Behinderten, sowie die Leute, die dort arbeiten, kommen aus der Sowjetunion, Rumänien oder Polen. Das ist ein sehr einträglicher Geschäftszweig, dessen Produkte fast alle in den Westen gehen. Und all das passiert unter den Augen der Polizei und wird infolge korrupter Strukturen nicht verfolgt. Die Produzenten können sehr frei und sicher agieren.

Es ist wahrscheinlich auch kein Zufall, daß die Videos für den Markt im Westen im Osten hergestellt werden.

Es war erschreckend zu sehen, das ist eine koloniale Ausbeutung, wie sie brutaler und sinnlicher erfahrbar gar nicht sein kann. Aber das ist genau das Schicksal dieser Länder, nachdem sie ihr System aufgegeben haben. Sie haben nie die Chance gehabt, auch nur Zweite Welt zu werden, sie können nur Dritte werden — mit wenigen Ausnahmen, Westungarn, Teile von Polen, aber der Rest ist Dritte Welt und wird das auch bleiben.

Ich möchte noch einmal zurückkommen auf den Dialog zwischen Groll und dem Soziologen, der sich in diesem Buch schon noch sehr stark mit der Situation von Behinderten auseinandersetzt. Groll wird hier auch als Provokateur gezeichnet, der gegen in der Linken übliche und akzeptierte Meinungen (Ökologie, Marktkritik, und so fort) sehr pointiert auftritt, während der Soziologe versucht, diese Angriffe der speziellen Sicht von Behinderten zuzuschreiben und sie wissenschaftlich zu verarbeiten, ohne darauf politisch einzugehen.

Groll ist ein halbgebildeter, aber relativ erfahrener behinderter Mensch, der gelernt hat, mit seiner zusätzlichen Eigenschaft in dieser Gesellschaft zu überleben. Der Dozent ist ein Repräsentant der schönen weichen Wolke der linken Weltsicht, die bei ihm existentiell nicht gefährdet ist, weil er Erbe einer reichen Familie ist, und versucht, die Welt in einer Art und Weise zu erklären, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Dieses Muster ist in Österreich unter vielen Linken sehr verbreitet, soviel Wirklichkeitsverdrängung existiert unter anderen Teilen der Bevölkerung kaum. Und ich nehme mich da selber nicht aus, ich hab’ mich ja auch lange Jahre mit den Klassikern und ihren letztlich mechanistischen und teleologischen Theorien über Gesellschaftsformationen befaßt. Dieses Halbwissen hat einige Zeit Sicherheit vermittelt, und gleichzeitig war es unglaublich hohl. Ich bin aber kein Konvertit, ich stehe zu dem, was ich gelesen und verstanden habe und bin in diesem Sinn auch noch Marxist und ein klassischer Linker. Die Behinderung hat mir aber einiges an positiven Möglichkeiten zusätzlich verschafft. Sie lehrte mich zu sehen, wie in anderen Staaten, zum Beispiel Westeuropas, behinderte Menschen leben und wie ein sehr freier Kapitalismus dennoch bestimmte Möglichkeiten von Integration und das Bestehenlassen von anderen Lebensformen auch noch zuläßt, was aber in Österreich nicht funktioniert. Das führte mich zu einer immer stärkeren Beschäftigung mit der österreichischen Geschichte. Denn offensichtlich ist nicht der Kapitalismus allein das Problem, sondern die Geschichte von Unterdrückung und Gegenaufklärung, die in Österreich bis in die Gegenreformation zurückreicht, das Lustfeindliche, Sinnesfeindliche, der Spaß an der uneigennützigen Gemeinheit, wie Friedrich Heer das nannte. Und von da an habe ich mich mit dem Kapitalismus auch im Sinne einer die Gesellschaft ständig umwälzenden Kraft auseinandergesetzt. Es ist schon erstaunlich, was dieses Gesellschaftsystem bei allem Schrecken immer noch hervorbringt. Und derzeit ist es ja recht spannend zu sehen, in welche Richtung sich die Linke, sofern man überhaupt noch von einer konsistenten Linken sprechen kann, weiterentwickelt. Diese reine, religiös verbrämte Gegenwelt, das war schon ein schöner und toller Entwurf, aber er konnte nicht wirklich erfolgreich sein auf die Dauer. Diese rüde Form des Sozialismus und Kommunismus hängt sehr stark mit dem Krieg zusammen und funktioniert für friedliche Entwicklungsmöglichkeiten ohne Wertgesetz nicht mehr.

Sehen sie zur Zeit Ansätze in der Linken zu einer neuen Form des Protests oder Widerstands gegen den Kapitalismus, oder läßt die Linke ihre Möglichkeiten aus?

Ich habe den Eindruck, daß in Österreich und auch in Deutschland ganze Traditionszusammenhänge von Widerstand gebrochen sind. Die Grünen sind zum Teil das Medium dieses verlustig gegangenen Wissens um kapitalistische Strukturen. Die Gewerkschaften sind auch nicht mehr in der Lage, dieses Wissen weiterzuführen. Das sind sie zum Teil noch in den südlichen Ländern. Eine linke Struktur ist nicht ohne Aktionen und politische Bewegungen, die auf der Straße stattfinden, zu bekommen.

Ich möchte noch einmal zum Thema des Kriminalromans zurückkommen. Glauben Sie, daß es möglich ist, in einem Roman die Strukturen der Kriminalisierung, die sehr eng mit Herrschaft verknüpft sind, aufzugreifen, oder läßt sich das bei der Flut von Medien, die Kriminalität schaffen, nicht mehr aufbrechen?

Das Entscheidende ist, daß man eine Geschichte hat, die von sich aus Weiterungen hat. Man braucht einen Kern, der so stark ist, daß er von sich aus wächst. Die Geschichte muß aufgehen. Dann ist es auch möglich, diese Kriminalisierungsstrukturen mitzuerzählen. Schlecht ist es, wenn man mit einer Vorgabe an die Geschichte herangeht. Die Geschichte von „Giordanos Auftrag“ begann mit der Reise nach Ungarn und stand dann lange still, als ich auf den Kriminalfall mit den Behinderten gestoßen bin, da ich nicht sicher war, ob ich das erzählen kann und will. Erst als ich mich ganz auf die Geschichte eingelassen habe und sie sich quasi von selber weitererzählt hat, konnte der Roman entstehen. Wenn man sich auf dieses Abenteuer nicht einläßt, sollte man nur noch Essays schreiben oder Theaterstücke, was ich auch tue, aber keine erzählende Prosa.

Sie selber haben auch einmal eine Zeitung herausgegeben, der streit, die sie, auch um sich ganz der Literatur zu widmen, aufgegeben haben. Sehen sie in der Literatur eine adäquatere Art sich auszudrücken oder eine bessere Form an die Menschen heranzukommen?

Der zweite Gesichtspunkt spielt überhaupt keine Rolle. Das Schreiben ist für mich einfach zum Lebensmittelpunkt geworden, auch schon in der Zeit, als ich den streit herausgab. Aber man kann sich nur eine Zeit lang Gewalt antun, irgendwann zieht man den Schluß, wenn man schreiben will, muß man so leben, daß man schreiben kann. Ich habe auch meine Brotarbeit im Wirtschaftsministerium aufgegeben, um mich ganz dem Schreiben widmen zu können. Anders wären all die Geschichten, Stücke und Essays der letzten Jahre nicht entstanden. Es war eine Entwicklung, die mit mir zusammenhängt und keine Frage, wie man an Leute herankommt, das interessiert mich in der Literatur eigentlich gar nicht.

Sind ihre nächsten literarischen Projekte wieder Erzählungen?

Ich schreibe weiterhin Groll-Geschichten für die Volksstimme, die Stimme der Minderheiten und andere Zeitungen. In letzter Zeit arbeite ich viel im Genre des politischen und literarischen Essays — meist für Wespennest, demnächst über das neue Buch von Elfriede Jelinek für Literatur-Konkret. Dann zeichnet sich ein Stückprojekt ab, das mit der jüngeren österreichischen Geschichte zu tun hat. Meine letzten Stücke über Grillparzer und Stephen Hawking sind ja erst im April und Mai in Wien und London gelaufen. Parallel dazu beginnen die Vorabeiten für die Verfilmung von Giordanos Auftrag, ein erster Drehbuchentwurf liegt vor, und seit kurzem steht auch der Regisseur, Didi Danquart, (zuletzt: Viehjud Levi) aus Deutschland fest.

Vielleicht gibt es auch eine Fortsetzung des Romans. In der Prosa kann ich auf jeden Fall nur Groll-Geschichten schreiben, mein erzählendes Subjekt ist Herr Groll, und der ist noch lange nicht mit mir fertig. Die Figur ist mir sehr nahe, sie hat viele Züge von mir und ist meine Möglichkeit, Wirklichkeit zu bewältigen.

Danke für das Gespräch.

Über das Buch

Der im Rollstuhl sitzende Journalist, Ungarnkenner und Liebhaber der Donauschifffahrt Groll bekommt von Giordano, dem Herausgeber des „Manhattan Wheeling Courier“ den Auftrag, einem Hilferuf aus einem ungarischen Behindertenheim nachzugehen und einen Artikel darüber zu verfassen. Groll fährt mit seinem Freund, einem Soziologen, nach Ungarn und deckt einen Pornoring, der Behinderte für sadistische Videos mißbraucht, auf und wird um ein Haar selbst Opfer der Verbrecher. Mit Hilfe eines Roma-Mädchens gelingt ihm die Flucht.

  • Erwin Riess. Giordanos Auftrag. Elefantenpress, Berlin 2000, 284 Seiten, Hardcover, öS 280.—
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