FORVM, No. 215/I/II
November
1971

Gesellschaftliches Apriori

Der hier veröffentlichte Essay Alfred Sohn-Rethels ist ein komprimierter Auszug aus seinem Buch „Warenform und Denkform“, das in der Europäischen Verlagsanstalt Frankfurt erscheinen wird. Das Hauptstück dieses Bandes ist ein Exposé, das von Sohn-Rethel auf Anregung Adornos 1937 für das Institut für Sozialforschung geschrieben und von Walter Benjamin begutachtet wurde; die Marginalien Benjamins werden im Buch mitabgedruckt. [8]

A. S.-R., 1899 Paris, stand in den zwanziger Jahren in Verbindung mit Bloch, Benjamin, Kracauer, Adorno. Mit Adorno diskutierte er Frühfassungen seiner neuen Ideen und legte sie Benjamin zur Überprüfung vor (vgl. [7]). Zu Beginn der dreißiger Jahre erhielt S.-R. eine Anstellung als wissenschaftlicher Assistent beim „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“, der eine Zeit lang „alle nennenswerten Konzerne und Gruppen des deutschen Finanzkapitals umfaßte“. [5] Dadurch hatte er Gelegenheit, in den im gleichen Büro hergestellten „Deutschen Führerbriefen“, einer Privatkorrespondenz des Finanzkapitals, den anonymen Artikel [1] zu schreiben. Durch diese scheinbar zu Gunsten der Hochfinanz verfaßte Analyse, in der die Nationalsozialisten und die Sozialdemokraten gleichermaßen als Bundesgenossen, „Grenzgänger“ des Kapitals figurieren, lieferte S.-R. der kommunistischen Wahlkampagne zum 6. Nov. 1932 Propagandamaterial. 1936 emigrierte S.-R. nach England, wo er seither lebt. Mit langen Unterbrechungen, die der Lebensunterhalt erforderte, arbeitete S.-R. seine Ideen bis zur Veröffentlichung des Hauptwerkes [6] aus. Bis dahin veröffentlichte er nur [2], [3], [4]. Zur Zeit arbeitet S.-R. an einem Buch über die Marxsche Warenanalyse.

(Vgl. den nachfolgenden Aufsatz von Michael Springer.)

Daß die menschlichen Denkformen vom gesellschaftlichen Sein bestimmt werden und geschichtliche Entwicklungsprodukte sind, ist eine der Grundlehren des Marxismus. Soweit die Denkformen sich auf das Verständnis gesellschaftlicher Beziehungen richten, stößt diese Lehre auf keinen großen Widerstand. Sie beansprucht jedoch Wahrheit auch für solche Denkformen, die der Erkenntnis der Naturobjekte dienen, und hier steht die marxistische These in scharfem Gegensatz zu allen anderen Auffassungen. Die meisten Anschauungen gehen dahin, daß wir von den Naturerscheinungen unmittelbar Apperzeption besitzen, und in bezug auf die sinnliche Wahrnehmung, oder sagen wir, auf den Anteil unserer Sinnesorgane an der Bildung unserer Apperzeption kann das zugegeben werden, denn diese Organe haben wir mit den Tieren weitgehend gemein. Aber der gesamte begriffliche Anteil an der Auffassung von der Objektwelt ist geschichtliches Entwicklungsprodukt und gesellschaftlichen Ursprungs (tatsächlich erweist sich bei näherem Zusehen auch der sinnliche Anteil von dem begrifflichen nicht wirklich ablösbar). Unsere Begriffe gehören nicht zu den Dingen, sind nicht Eigenschaften von ihnen, die auf uns überspringen oder die wir von ihnen ablesen. Der begriffliche Apparat, den wir auf die Dinge anwenden, gehört vielmehr zu uns, freilich „zu uns“ in einem gesellschaftlichen und historischen Sinne verstanden, nicht individuell und nicht von Natur.

Die Schwierigkeit, auf die diese Auffassung in bezug auf unsere reinen Objektbegriffe stößt, rührt zum Teil daher, daß diese Objektbegriffe mit der bewußten Ausschaltung der Gesellschaft aus unserem Denken verknüpft sind; also sozusagen übrig bleiben, wenn vom Gesellschaftlichen völlig abstrahiert wird.

Den meisten Denkern, besonders den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, ist diese Tatsache das Argument dafür, daß in der naturwissenschaftlichen Begriffsform der menschliche Verstand sich dartut, wie er eigentlich und von Ursprung aus ist: ein Standpunkt, der typisch ist für eine soziale Klasse, die sich für ihre Herrschaft auf die Scheidung der Kopfarbeit von der Handarbeit verlassen muß. Die moderne mathematische oder „theoretische“ Naturwissenschaft ist in der Tat reine Kopfarbeit, Kopfarbeit in Reinkultur sozusagen. Die Philosophen der Bourgeoisie haben sich darum immer erneut daran begeistert, darzulegen, daß diese Erkenntnisart unmittelbar möglich sei, auf Grund der Natur des menschlichen Geistes, für immer und ewig. Ob diese Möglichkeit in materialistischer oder in idealistischer Weise konstruiert wird, so nämlich, daß die Objektformen von den Dingen in den menschlichen Geist übergehen oder primär im Menschengeist wurzeln, ist der Hauptthese gegenüber von sekundärer Bedeutung, obwohl es zutrifft, daß sich auf Grund der zweitgenannten, von Kant in der Kritik der reinen Vernunft begründeten Version ein schärferes Bild von den Postulaten der bürgerlichen Klassenherrschaft entwickeln läßt.

Der Marxismus ist die erste Philosophie, die dem Gedanken Raum geben kann, daß die Möglichkeit der theoretischen Naturerkenntnis nicht ein primäres Vermögen des menschlichen Geistes darstellt, sondern vielmehr ein kompliziert vermitteltes Produkt bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen ist und aus den Wurzeln gewisser Formen von Klassenherrschaft hervorgeht.

Die aprioristische Interpretation der Erkenntnis in der Philosophie Kants tritt geschichtlich auf zu dem Zeitpunkt, als der Konkurrenzmechanismus der kapitalistischen Produktionsweise seine Ausformung zu einem in sich zusammenhängenden, scheinbar selbsttätigen System gewinnt, also nicht mehr nur intermittierend funktioniert und angewiesen auf staatliche Nachhilfe. Mit dieser Gewinnung seiner ökonomischen Autonomie erfolgt auch die äußere, politische Emanzipation des Bürgertums, deren ideologischer Begründung die Kantsche Philosophie dient.

Die kapitalistische Gesellschaft ist von anderen, gleichfalls auf Warenaustausch beruhenden Gesellschaftsformen dadurch verschieden, daß in ihr der Warenaustausch nicht bloß nötig ist, um die Produkte aus den Händen der Produzenten in die der Konsumenten zu bringen, vielmehr darüber hinaus die Bedingung bildet, daß auch schon die Produktion irgendeines Gebrauchsgegenstandes zustande kommt. Denn während früher die Menschen nur als Konsumenten von den Produkten getrennt waren, die sie brauchten, sind sie hier sogar als Produzenten von den Mitteln getrennt, um überhaupt ein Produkt zu produzieren. Im Kapitalismus hängt also die Möglichkeit der Produktion selbst davon ab, daß über den Marktweg ihre Grundfaktoren, also menschliche Arbeitskraft, sachliche Produktionsmittel, Rohstoffe und Boden, als Waren zusammenkommen und die Produktion sich nach Warengesetzen zu vollziehen mag. Warenform und Tauschgesetz der Waren, d.h. Form und Gesetz der Verdinglichung, werden im Kapitalismus zum Apriori der Produktion, daher zum konstitutiven Grundgesetz für den Bestand der Gesellschaft, die in ein Chaos der formlosen Mannigfaltigkeit zerfällt, wenn (in den Krisen) der Austauschzusammenhang der Waren nicht mehr funktioniert.

Eine nicht absetzbare Ware ist gleich einem subjektiven Sinneseindruck und im gesellschaftlichen Sinne kein Ding mehr. Findet der Ladenhüter wieder Käufer, so fliegt dem Sinnenschein mit einemmal objektiv realer Gebrauchswert und der längst abgeschriebenen Arbeit aktuelle gesellschaftliche Wertgeltung zu. Ein Ding ist nicht, was produziert, sondern erst, was getauscht wird. Seine Dingkonstitution ist funktional.

Es ist also wirklich eine „kopernikanische Wendung“, die sich von der einfachen Warenproduktion bis zur fertigen Ausbildung der kapitalistischen Produktionsweise für den Bestand der Gesellschaft vollzieht. In der einfachen Warenproduktion ist die Besitzverteilung der Produkte eine Funktion der an sich geschehenden, nämlich unabhängig vom Warentausch möglichen Produktion, daher auch des gegebenen Daseins der Waren. Im Kapitalismus dagegen ist umgekehrt die Produktion und das Dasein der Waren eine Funktion der vorgegebenen Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln.

Der Warentausch ist Reflexionsform der Ausbeutung. Welches in seiner jeweiligen geschichtlichen Ausdehnung sein wirklicher Inhalt ist, hängt von den Ausbeutungsverhältnissen ab, die ihm zugrundeliegen oder die er in sich aufgehoben enthält oder die er seinerseits bewirkt. Nicht vom Warentausch, sondern von der Ausbeutung ist deshalb primär auszugehen.

Der geschichtliche Ursprung der Verdinglichung ist die Ausbeutung. Nicht als Ware, sondern als Objekt direkter, einseitiger Aneignung ist das Arbeitsprodukt originär Ding.

Die geschichtlich ersten identisch existierenden Dinge sind — das Beispiel grundsätzlich verstanden — die in den Steuerspeichern der Pharaonen lagernden Produkte der ägyptischen Untertanen gewesen. Die dingliche Identität des Aneignungsobjekts im Ausbeutungsverhältnis besagt nichts andres, als daß das angeeignete, von den Ausgebeuteten hergestellte Produkt dasselbe ist wie das von den Ausbeutern konsumierte Gebrauchsobjekt. Es wird als Ding durch die Aneignung identisch vom Produzenten auf den Konsumenten übertragen. Die Aneignung ist der Produktion so fremd, daß sie nur von der Sorge beherrscht ist, daß ihr das Ding nicht verdirbt oder verlorengeht. Die dingliche Identität des Aneignungsobjekts ist das antithetische Gegenteil zur Identität der Individuen in einem naturwüchsigen Gemeinwesen, die den Inhalt hat, daß, vermittelt durch die Verteilungsordnung von Arbeit und Verzehr im Stamm, das produzierende Individuum dasselbe ist wie das konsumierende. Die Verdinglichung ist die Wirkung der durch die Ausbeutung geschehenden Zerspaltung der menschlichen Identität von Produzenten- und Konsumentenschaft.

Die Identifizierung und Verdinglichung der Arbeitsprodukte wird vollzogen durch die Aneignungspraxis der Ausbeutung, wie (auf der gegenteiligen Grundlage) die individuelle Identität naturwüchsiger Stammesglieder durch die Verteilungspraxis des Stamms.

Die Relationen der Identität sind die Aneignungsrelationen der Ausbeutung. Sie wandeln sich mit den Aneignungsmethoden der letzteren. Wenn, auf späterer Stufe, der ausgebeutete Arbeiter als Sklave getauscht wird und als Ware in den Besitz seines Ausbeuters kommt, erfährt die Identität eine Reflexion und erhält eigene empirische Verkörperung als Mittel der Aneignung im Geld. Weil die Arbeit selbst sich im Sklaven verdinglicht hat, muß die Produktion als Dingzusammenhang konstruiert werden, damit sie innerhalb dieses Aneignungssystems der Ausbeutung überhaupt stattfinden kann.

Die Aneignungsrelationen der Ausbeutung sind Relationen der klassenmäßigen Vergesellschaftung der ausbeutenden Konsumenten und der ausgebeuteten Produzenten miteinander. Denn die Aneignungsrelationen der Ausbeutung sind nur Relationen der Identität, weil sie Relationen der dinglichen Verbindung der auf getrennte Pole auseinandergelegten Produktion und Konsumtion sind. Das bedeutet, daß die Relationen der Identität a priori Relationen der gesellschaftlichen Verbindung der Ausbeutungsklassen nach dem Gesetz des lebensnotwendigen Zusammenhangs von Produktion und Konsumtion sind.

Dieser, im naturwüchsigen Gemeinwesen praktische Zusammenhang wandelt sich durch die Ausbeutung in eine den Menschen gegenüber fremde, außermenschliche, als „Natur“ über ihr Dasein waltende Kausalität, die Kausalität des Wertgesetzes. Wieviel Arbeit die von ihnen konsumierten Artikel zu ihrer Herstellung erfordern, hat für die Ausbeutung an ihrer Konsumtion kein Maß mehr, weil sie diese Konsumobjekte nicht durch Arbeit, sondern durch einen etablierten gesellschaftliichen Mechanismus der Aneignung gewinnen. Ebenso hat aus dem umgekehrten Grunde für die Ausgebeuteten kein Maß mehr, wieviel Konsumtion ihre Arbeit ihnen vermittelt. Die Produktion kann hier gar nicht mehr nach Maßgabe der Konsumtion, die Konsumtion nicht mehr nach Maßgabe der Produktion geschehen.

An die Stelle des Maßes treten Geldverhältnisse, also Aneignungsverhältnisse, durch die allein Produktion und Konsumtion auf blindwirkende Weise noch vermittelt sind. Aus Gründen und zum Behufe dieser Kausalität wächst den Arbeitsprodukten die enigmatische Wertgeltung zu. Auf Grundlage der Ausbeutung können Produktion und Konsumtion, wenn überhaupt, so nur noch nach der ratio der Aneignung organisiert werden; und dies ist ihre Organisation unter dem Gesichtspunkt des Wertes und nach den Regeln der Identität, der Dingform und des Daseins.

Die Praxis der Aneignung (einseitige oder reziproke) ist nicht die Praxis der Produktion — sie ist ihr Gegenteil. In der Vergesellschaftung nach den Gesetzen der Aneignung kommt die in ihnen postulierte Gleichung von Produktion und Konsumtion niemals zur Verwirklichung. Der Gegensatz ist auf dem Boden der Ausbeutung unaufhebbar, weil ihn die Ausbeutung selbst erzeugt, und dies in jedem Augenblick und durch jede Aneignungsmethode. Es ist diese Dialektik des konstitutiven Mißlingens der Vergesellschaftung der Ausbeutung, welche diese von einem System der Aneignung zum nächsten forttreibt, weil diese Systeme sich selbst die Probleme erzeugen, zu deren Lösung sie sich wandeln, und so in immer erneuerten Reflexionen auf ihre Voraussetzungen die Ausbeutung zuletzt bis zur vollen Identifikation mit der Produktion selbst — d.h. bis zum Kapitalismus — auskonkretisieren müssen.

Wenn man den ausbeutungsfreien Zusammenhang der Menschen in der arbeitsteiligen Verwandtschaftsgruppe die „naturwüchsige“ Gesellschaft nennt, so verdient die klassenmäßige Verflechtung aus der Ursache der Ausbeutung den Namen der „synthetischen“ Gesellschaft. Die dingliche Vergesellschaftung ist der chemischen Synthese darin analog, daß sie, im Unterschied zu der (wie Marx sagt) „von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs noch nicht losgerissenen“ naturwüchsigen Gesellschaft, ganz und gar Menschenwerk ist. Sie ist bloßes Resultat der Ausbeutung, menschlicher Handlung also, die sich nicht, wie Arbeit und Verzehr, auf physische Lebensnotwendigkeiten, sondern auf ein Verhältnis zwischen Menschen, wenn auch im Hinblick auf deren Arbeit und Verzehr, bezieht.

Durch die Einspannung der produktiven und konsumtiven Beschäftigung in die Ausbeutungsbeziehung zwischen Mensch und Mensch erst beginnt für die Menschen die Abhebung ihres „menschlichen“ Wesens von ihren physischen Lebensnotwendigkeiten als bloßer „Natur“; und beginnt umgekehrt diese Lebensbedingtheit durch Produktion und Konsumtion als blinde Naturkausalität ihr Menschsein im Gegensinn zu ihrem Handeln zu beherrschen. Der Unterschied zwischen dieser synthetischen Vergesellschaftung und der chemischen Synthese ist der, daß diese von ihrem Urheber gewollt und planmäßig herbeigeführt ist, die klassenmäßige Daseinsverflechtung der Menschen dagegen von den Ausbeutern ungewollt und bewußtlos geschieht. Das wesenhaft Menschliche, das sich ausformt, ist also gerade das vom Menschen unbeherrschbare, ihm selbst entfremdete Sein des Menschen. Die Synthesis ist dem Chemiker bewußt, in der Vergesellschaftung hingegen blind. Das aber ist kein Zufall. Weder die Synthesis der Chemie oder einer andren Wissenschaft noch auch der transzendentalphilosophische Allgemeinbegriff der Synthesis, wie ihn Kant verwendet, wäre geschichtlich möglich geworden, wenn nicht schon die dingliche Vergesellschaftung im inneren Sinn dieses Begriffs „synthetisch“ wäre.

Die Anwendung des Begriffs der Synthesis auf die Konstitution der klassenmäßigen Vergesellschaftung ist ein wirksames strategisches Mittel, um den Idealismus mit seinen eignen Waffen zu schlagen. Denn so läßt sich zur Erklärung eines und desselben Phänomens — der experimentellen Methode der Naturwissenschaften einerseits, der idealistischen Unterstellung einer transzendentalen Synthesis, getragen von der Autonomie des Subjekts andrerseits — die Behauptung entgegenstellen, daß, wenn schon von „Synthesis“ die Rede sein soll, es nur eine gibt, die wirklich nachweisbar ist und die (aus menschlicher Urheberschaft hervorgehend) alle begriffliche Erkenntnis und Wissenschaft erst möglich gemacht hat — die klassenmäßige Vergesellschaftung der Menschen durch die Ausbeutung.

Diese ist „synthetisch“ nach denselben Maßstäben beurteilt, die der Apriorismus seinem Begriff der Synthesis zugrundelegt, nämlich eine Verbindung nach Relationen der Identität, und sie ist die ursprüngliche Art solcher Verbindung, weil die Identität als Formcharakter von Dasein und Ding aus dem Ausbeutungsverhältnis geschichtlich erst entspringt. Die konstitutive Synthesis, auf die alle theoretische Erkenntnis logisch sowohl wie genetisch zurückgeht, ist die Verdinglichung und dingliche Vergesellschaftung, die durch die Ausbeutung bewirkt ist. In dem Nachweis dieses Satzes faßt sich die kritische Liquidierung des Idealismus zusammen, im Sinne der Liquidierung der Antinomien, in die ihre eigne ratio die Menschen durch den Fetischismus der Verdinglichung verstrickt.

Es ist ein vulgärmaterialistischer Irrtum, daß die genetische Erklärung einer Denkweise aus dem gesellschaftlichen Sein dieser Denkweise den Geltungswert abspreche und den Wahrheitsbegriff zu den übrigen Fetischen der Klassenherrschaft verweise. Nicht gegen den Geltungscharakter des Denkens und den Wahrheitsbegriff der ratio, sondern allein gegen die Fetischisierung beider, ihre Dogmatisierung zur zeitlosen Geltung und zur absoluten Wahrheit, richtet sich die Kritik der materialistischen Dialektik — und zwar deshalb, weil diese Dogmatisierung der ratio gegen die ratio selbst verstößt und falsches Denken ist.

Der rationale Standpunkt des Denkens ist ebensowenig der, welcher die Geltung gegen die Genesis, wie der, der die Genesis gegen die Geltung verabsolutiert, sondern er ist der, der die Antinomie von Genesis und Geltung überwindet.

Die Überwindung geschieht auf dem methodologischen Standpunkt, von dem aus das rationale Denken als gesellschaftlich notwendig bedingtes Denken erklärbar ist, so, daß seine gesellschaftliche Bedingtheit sich als der Grund seines Geltens erweist. Denn damit wird die Genesis als das Maß des Geltens und alle Geltung und Wahrheit des Denkens als geschichtlich bedingt erwiesen.

Gerade für diese Aufgabenstellung erscheint uns aber der Begriff der Synthesis von methodologischem Interesse. Er ist von Kant formuliert worden, um das Zustandekommen der Erkenntnis als geltender Erkenntnis zu erfragen, freilich in der idealistischen Absicht, die Synthesis der Erkenntnisbildung als innergeistige Synthesis a priori hinzustellen — oder, was dasselbe ist, ihre Deduzierbarkeit nach bloßen Begriffen (nicht als raumzeitliches Problem) zu erweisen. Indem der Materialismus aber die idealistische Apriorität der Synthesis bestreitet, stellt er erst die Aufgabe ihrer reellen geschichtlichen Erforschung. Diese Erforschung faßt sich für den Materialisten in der Analyse und Ergründung der Verdinglichung zusammen, statt wie für den Idealisten in der Selbstanalyse der „Erkenntnis“.

Die Verdinglichung hat zur Wurzel die Ausbeutung. In ihr haben Identität, Dingform und Dasein ihren geschichtlichen, menschlichen und praktischen Ursprung. Zugleich sind sie die Negationsformen dieses Ursprungs: die Identität ist die Negation ihres praktischen, die Dinglichkeit ist die Negation ihres menschlichen, das Dasein die Negation seines geschichtlichen Ursprungs. In dieser Negierung ihres Ursprungs sind sie die Verbindungsformen der klassenmäßigen Vergesellschaftung der Menschen im Verhältnis der ausbeutenden Konsumenten und der ausgebeuteten Produzenten. Andrerseits hat durch diese Verbindungsformen oder durch ihre dingliche Vermittlung die klassenmäßige Vergesellschaftung einen synthetischen Formcharakter.

Die Erklärung der geschichtlichen Genesis der rationalen Erkenntnis liegt hienach in der Frage, wie es zur logischen Reflexion der gesellschaftlichen Synthesis kommt oder zur Entstehung der Subjektivität.

Wir verstehen den Begriff der Subjektivität im Sinne der Erkenntnistheorie. Der Gedanke des Erkenntnissubjekts setzt eine Art der Selbstreflexion voraus, in der das Individuum „sich“ als denkendes Wesen von seinem Leib und allem Stofflichen im Raume unterscheidet und sich durch die Zeit, unabhängig von physisch-räumlicher Veränderung, denen seines Leibes sowohl wie andrer Dinge, als identisch und immer dasselbe denkt.

Ob das Wesen des „Ich“ als eine immaterielle Substanz oder als bloßer Funktionsträger des Denkens vorgestellt wird, spielt für die Allgemeinheit, in der unsere Untersuchung sich hält, keine Rolle; es sei nur bemerkt, daß dies mit der ökonomischen Ablösbarkeit der Geldfunktion vom Geldmaterial zusammenhängt. Terminologisch sei dieses vom Leib als denkendes Wesen sich unterscheidende Ich das „theoretische Subjekt“ genannt. Unsre Erklärung für seine geschichtliche Entstehung ist, daß das theoretische Subjekt aus der Identifizierung des Menschen mit dem Gelde hervorgeht. Das theoretische Subjekt ist der Geldbesitzer.

Das Geld ist, wie Marx sagt, die „allgemeine Ware“, weil es das gesellschaftlich gültige Aneignungsmittel aller Waren ist. Das Geld verhält sich zu den einzelnen Waren, die es kauft, wie im direkten Ausbeutungsverhältnis die Handlung des Aneigners zu den Aneignungsobjekten. In der Formverdoppelung des Ausbeutungsreichtums in Warenform und Geldform stellt die Polarität des Ausbeutungsverhältnisses sich verdinglicht als Verhältnis der Waren untereinander her, indem eine von ihnen, das Geld, zum ausschließlichen Repräsentanten des Wertes wird, den alle Produkte der ausgebeuteten Produzenten enthalten, der sich jedoch erst durch den Akt der Aneignung realisiert, durch den er in die Hände des Ausbeuters kommt. Das Geld ist die Reflexionsform der Aneignung und erfordert aus diesem Grunde zu seinem Gebrauch die Identifikation des Besitzers mit ihm. Dieser Besitzer ist in der Antike, wie der christliche Kapitalbesitzer im Abendland, nur der Ausbeuter; denn das Geld ist in der Antike das funktionale Instrument der Ausbeutung, das Aneignungsmittel von Sklaven. Unsere Behauptung ist, daß diese Identifizierung des Geldbesitzers mit der Geldfunktion aus den alleinigen Gründen dessen, was das Geld wesentlich ist, der Ursprungsakt der theoretischen Subjektivität im Sinne Kants ist.

Das Geld ist die dialektische Reflexionsform und der dingliche Funktionsträger der Aneignung in ihrer abstrakten Allgemeinheit. Dem Geld ist nicht anzusehen, wer sich seiner als Aneignungsmittel bedient hat, noch was mit ihm angeeignet worden ist. Wie es alle Waren kaufen kann, kann es alle Hände wechseln und betätigt gerade darin seine Identität. Im Geld sind alle Waren austauschbar und am Geld alle seine Besitzer auswechselbar. Außerdem sind, auf dem Gegenpol der Geldbesitzer, die ausgebeuteten Produzenten der geldwerten Waren sowohl untereinander auswechselbar wie zwischen den Geldbesitzern austauschbar — die menschliche Arbeit wird zur Ware und erhält einen Preis.

Indem der Geldbesitzer sich mit der Funktion seines Geldes identifiziert, identifiziert er sich folglich mit allen andren möglichen Geldbesitzern. Diese Identifizierung des Geldbesitzers als einfaches und gemeinsames, daher eben allgemeines Subjekt der verdinglichten und funktionalisierten Aneignungshandlung des Geldes bezieht sich auf die Identität der Geldfunktion in allen Geldstücken und des Geldes in jeder Hand, sie betrifft das Geld, sofern seine Geltung an die identische Einheit der Geldfunktion überhaupt gebunden ist.

Die Identität aller Subjekte in der einförmigen und allgemeinen Subjektivität der Kantschen Transzendentalphilosophie bezieht sich auf die bloße Geltung der Geldfunktion, etwas ganz Immaterielles.

Wie sieht nun die Philosophie vom Standpunkt des zum Geldbesitzer verdinglichten Ausbeuters aus?

Sie ist die Theorie eines „Subjekts überhaupt“, dem im Felde seiner Erkenntnis kein andres Subjekt begegnet, weil es selbst — dank des Geldes — die Geltungsidentität aller möglichen Subjekte ist. Aber von der Seite ihrer Wahrnehmungsbestandteile und der Aktrealität des Denkens ist sie im Gegenteil die Theorie des isolierten Individuums — sein Leib wird ihm zum Fremdheitsgrund gegenüber allen andren Individuen.

Die Theorie des transzendentalen Subjekts ist die bloße Theorie der Arbeit, deren Praxis sich als theoretisch konstruierte Technik darstellt; aber das Denkobjekt dieser Theorie ist nicht die Arbeit, sondern die Materie, zu der die Arbeit sich in den Waren verdinglicht hat, und das von der Materie bestimmte Dasein der Dinge. Die Arbeit hat sich dem Ausbeuter, sobald er Subjekt ist, zur „Natur“ entfremdet, die den Gegensatz zum „Menschlichen“ bildet; denn seine Beziehung zur Produktion der Waren ist nur noch durch den gesellschaftlichen Austauschprozeß der Waren und dessen funktionale Ordnung vermittelt. Um die Arbeit als Produktion von Warenwert zu organisieren, muß er den ganzen Funktionszusammenhang dieser Vermittlung reproduzieren, und zwar insofern dieser nach der Einheitsfunktion des Geldes eben ein synthetischer, in sich geschlossener Zusammenhang der Verdinglichung ist. Diese gedankliche, auf der Identifizierung des Ausbeuters mit der Geldfunktion beruhende, daher dem Prinzip der Einheit des Denkens folgende Reproduktion des in sich geschlossenen Verdinglichungszusammenhanges der Ausbeutung bezieht sich auf die Produktion oder ist gültige „Erkenntnis“, soweit sie ihn als materiellen Daseinszusammenhang der Dinge nach seinen inneren Gründen, d.h. rational, reproduziert. Die rationale Naturerkenntnis wäre demnach die Reproduktion des in sich geschlossenen Verdinglichungszusammenhanges der Produktion nach den gesellschaftlichen, durchs Geld funktionalisierten Gesetzen der Aneignung.

Die logische Formbestimmtheit dieser Erkenntnis, ihre „kategoriale Struktur“, ist der in „Logik“ übersetzte synthetische Warenaustauschzusammenhang der Gesellschaft, soweit er nach seinen Funktionen, also nach den Funktionen der Aneignung, die Produktion der Waren auslösen soll. Die „Übersetzung“ des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs der Produktion in die philosophische Logik erfolgt kraft der Identifizierung des Ausbeuters mit der Geldfunktion — also in der Genesis der Subjektivität selbst.

Die logischen Kategorien der theoretischen Naturerkenntnis lassen sich durch ausreichend genaue ökonomische AnaIyse des jeweiligen gesellschaftlichen Funktionszusammenhanges der Warenproduktion deduzieren.

Der Materialismus liquidiert daher die idealistische Erkenntnistheorie durch seine Verdinglichungsanalyse und widerlegt Kants Behauptung einer transzendentalen Synthesis durch den Nachweis der Ableitbarkeit der transzendentalen Kategorien aus dem gesellschaftlichen Sein, statt aus dem Bewußtsein. Die konstitutive Synthesis ist der gesellschaftliche Verdinglichungsprozeß der Ausbeutung in Gestalt des durch die Ausbeutung verursachten dinglichen Vergesellschaftungsprozesses der Menschen. Der Systemzusammenhang des rationalen Denkens ist der reflektierte Systemzusammenhang der Verdinglichung, sobald dieser mit der Entstehung der Geldreform des Warenwertes zum in sich geschlossenen Vermittlungszusammenhang der Warenproduktion, d.h. der Ausbeutung durch bloßen Austausch, geworden ist.

Die Selbstidentifizierung des Menschen als „Subjekt“, die Entdeckung des autonomen Menschen, kommt zustande als Vermenschlichung des Verdinglichten. Das Glied, in dem die Verdinglichung sich schließt, bewirkt die Identifizierung des Menschen mit sich selbst und seine Selbstbestimmung als menschliches Subjekt. Dieses Subjektsein ist der Mensch selbst, aber in den Formcharakteren der Verdinglichung, der idealistischen Identität als Einheit seiner selbst im Denken, der Dingform seines Leibes und des Daseins als selbständiger individueller Person. Es ist dadurch die undurchsichtig gewordene Verdeckung seines eignen Ursprungs und geschichtlichen Seins. Das Siegel dieses konstitutiven Verdeckungsverhältnisses, das sie ist, ist der Wahrheitsbegriff der transzendentalen Subjektivität. Der Wahrheitsbegriff ist nur dem rationalen Denken eigen, das ganz im Sinne Kants auf die Gründe seiner selbst und die Ursachen des Objekts reflektiert. Der Wahrheitsbegriff ist der Begriff des idealistisch in sich selbst begründeten und metaphysisch mit dem Sein identischen Grundes.

Das Licht der ratio geht auf mit der Verdunkelung des eignen Seins für den Menschen. Die ratio entsteht als das gesellschaftlich unentbehrliche Mittel, die Produktion nach den Bedingungen der vollendeten Entfremdung zu organisieren. Aus den Bedingungen ihrer Genesis erklärt sich die dialektische Natur der theoretischen ratio. Einerseits ist sie, als Resultat der Entfremdung des menschlichen Seins, bloß das Mittel, das Fremde, Verdinglichte zur Sache des Menschen zu machen. Andrerseits hat sie diesen rationalen Gehalt auf dem gegebenen Boden der Ausbeutung, nämlich als Mittel, innerhalb des verdinglichten und funktionalisierten Aneignungszusammenhangs die Produktion zu ermöglichen. Was sie in dieser Funktion ermöglicht, ist jedoch insoweit nur eben die Ausbeutung.

Das Geld, das die Menschen synthetisch zur Gesellschaft verbindet, konstituiert aber auch ihr genaues Gegenteil: die Individualität des Menschen, die isolierte Person, die Einzelheit des Ich für sein Dasein (!) und die bloße Geltungsidentität aller Subjekte für sein Denken. Der Geltungszusammenhang dieser Subjekte aber konstituiert für eben diese Subjekte die pure Objektivität der Dinge als „Natur“. Der gesellschaftliche Daseinszusammenhang der Menschen selbst nach den Identitätsrelationen der Aneignung setzt sich im Kopf der Menschen um in den objektiv gedachten Gesetzeszusammenhang der Dinge als Natur; die Gesellschaft, in der alle Menschen existieren müssen, um zu leben, wird zur Vorstellung der einen, synthetisch verbundenen „Welt“, in der alle Dinge zusammengehören müssen, um zu existieren. Das rationale Ich steht in seinem Denken als alleiniges Subjekt der „Welt“ gegenüber, um die Welt in Übereinstimmung mit dem vulgären Grundsatz zu denken, daß ein Stück Brot, das einer ißt, den anderen nicht satt macht. Dieses Denken ist aber gültig, weil notwendig innerhalb einer Gesellschaft, in der alle Menschen sich nach ihrem gegenseitig privativen Ichstandpunkt zueinander verhalten müssen, um zu ihrem Brot zu kommen.

Die theoretische ratio ist ihrer Genesis nach die logische Reflexion der gesellschaftlichen Synthesis. Dies ist die Synthesis der Ausbeutung nach den Identitätsrelationen der Aneignung; sie ist überdies in sich widerspruchsvoll und führt mit fortschreitender Konkretisierung zur wachsenden Gegensätzlichkeit von Aneignung und Produktion — damit zur ökonomischen Anarchie. Die Ausbeutungssynthesis ist somit, gemessen am lebensnotwendigen Zusammenhang von Produktion und Konsumtion, eine falsche Synthesis. Die echte Synthesis des gesellschaftliichen Zusammenhangs kann nur die menschlich praktische Kooperation in der sozialistischen Gesellschaft der Zukunft sein.

[8Warenform und Denkform, Aufsätze. Ffm 1971 (Eur. Verl. Anst.; enthält u.a. [3].

[7Materialistische Erkenntniskritik und Vergesellschaftung der Arbeit, Berlin 1971 (Merve; enthält u.a. eine erweiterte Fassung von [4].

[5Wiederabdruck von [1] und Kommentar, in: Kursbuch 21, September 1970.

[1Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus, in: Deutsche Führerbriefe, September 1932.

[6Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Ffm 1970 (Suhrkamp).

[2„Necessary False Consciousness“, in: Modern Quarterly, Vol. 3, No. 1, (Winter 1947/48).

[3Warenform und Denkform, Versuch über die gesellschaftliche Genesis des „reinen Verstandes“, Wiss. Ztschr. Humb.-Univ., Ges.-Sprachwiss. R. X. (1961).

[4„Historical Materialist Theory of Knowledge“, in: Marxism Today, April 1965.

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