FORVM, No. 136
April
1965

Georg Lukács — Kritik und Gratulation

Zu seinem 80. Geburtstag am 13. April 1965

Sir Herbert Read, 72jähriger Altmeister der angelsächsischen Kunstkritik, schrieb den nachstehenden Beitrag für eine demnächst erscheinende Festschrift (herausgegeben von Frank Benseler) zum 80. Geburtstag seines Kollegen Georg Lukács im Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied am Rhein, welcher seit 1962 eine auf zwölf Bände angelegte Lukács-Gesamtausgabe betreut. Wir freuen uns über eine Würdigung von so berufener Seite.

Was Georg Lukács zur Philosophie beigetragen hat, ist so gewaltig und betrifft so verschiedenartige Gebiete des Denkens, daß nur wenige hoffen können, diese Fülle insgesamt aufzunehmen. Für den anderssprachigen Leser besteht die zusätzliche Frustration, daß Übersetzungen schwer erhältlich und, soweit es sie gibt, nicht leicht lesbar sind.

Die Spannweite des Werkes — von „Die Seele und die Formen“, 1911, bis „Die Eigenart des Ästhetischen“, 1964 — ist dermaßen, daß es schwerfiele, einen zweiten zeitgenössischen Autor zu nennen, der ein und dieselbe philosophische Methode mit gleicher Konsequenz auf so viele und vielerlei Gegenstände angewandt hätte.

Die nachfolgenden unzureichenden Anmerkungen beschränken sich auf einen einzigen Aspekt des Werkes, repräsentiert durch die (englische Ausgabe der) „Essays über Realismus“; ich lege sie zum gegebenen Anlaß im Bewußtsein ihres Ungenügens vor.

Ich muß gestehen, daß ich bestimmte Schlußfolgerungen, die Lukács in den obzitierten Essays zieht, für unrichtig halte. Aber dies vermindert auf keine Weise meine allgemeine Sympathie für sein Gesamtwerk, welches den uns beiden gemeinsamen Glauben zur Grundlage hat, daß die Kunst eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins spielt.

Nach meinem Eindruck hat Lukács die originellste Denkleistung in seiner Ästhetik vollbracht.

Lukács war eine der prominentesten Gestalten der ungarischen Revolution, als Erziehungsminister im zweiten, kurzlebigen Kabinett Imre Nagy.

Aber seine Prominenz beruht natürlich nicht darauf, daß er ein ungarischer Politiker war. Thomas Mann nannte ihn den „bedeutendsten Literaturkritiker der Gegenwart“. Obgleich Mann hiebei ohne Zweifel von der Aufmerksamkeit beeinflußt war, die Lukács seinem Werk gewidmet hatte, würde ich, der ich mich zu einigen der von Lukács vorgebrachten Thesen in tiefreichendem Gegensatz weiß, diesem Urteil nicht widersprechen.

Die Bedeutung des Literaturkritikers Lukács wurde mir erstmalig durch den verstorbenen Karl Mannheim nahegebracht, welcher ihn von Ungarn her gut kannte und gleichfalls die marxistische Grundlage ablehnte, auf der Lukács seine Kritik aufbaut.

Schon nach Lektüre auch nur einer einzigen Arbeit dieses Kritikers erkennt — und beneidet — man die ungeheuerliche Überlegenheit eines Polemikers, in dem Dogmatik sich mit Sensibilität verbindet. Die gleiche überwältigende Mischung findet man bei manchen katholischen Autoren, z.B. bei Jacques Maritain.

Dies führt zu der eher elegisch stimmenden Einsicht, daß Sensibilität nicht ausreicht; unsere humanistische oder freiheitlich gesinnte Kritik müßte vielmehr ebenso starke Wurzeln im Glauben haben.

Lukács wurde 1885 in Budapest geboren, als Sohn eines wohlhabenden Bankdirektors; unvermeidlicherweise hatte diese Herkunft das ständige Mißtrauen seiner proletarischen Genossen zur Folge.

Seine Intelligenz war von jener Art, die ans Wunder grenzt. Kaum zwanzigjährig gewann er einen Literaturpreis für die zweibändige Studie „Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“; man versichert mir, daß sie noch heute lesenswert sei.

Zu den Frühwerken, die er in späteren Jahren widerrief, gehörten „Die Theorie des Romans“ und ein Band mit Essays über Autoren wie Hofmannsthal, Stefan George und Rilke.

Ich habe keines dieser Frühwerke gelesen. Überdies muß ich gestehen, daß ich das Deutsch, das Lukács schreibt, seltsam barbarisiert finde; die Syntax seines Denkens ist vermutlich ungarisch, und bei Übertragung in eine andere Sprache wird aus jedem Satz ein Knäuel von Nebensätzen. (Desto mehr Respekt gebührt Dr. Edith Bone, die 1950 eine sehr lesbare englische Übersetzung der „Essays über Realismus“ zustande brachte.)

1918 bekehrte sich Lukács zum Kommunismus; späterhin wurde er Mitglied der Revolutionsregierung unter Béla Kun. Nach dem Sturz des Rätesystems ging er ins Exil und lebte zumeist in Berlin. Als die Nazi ihm diese Zuflucht verleidet hatten, ging er nach Moskau, wo er zwölf fruchtbare Jahre verbrachte.

Gegen Ende des Krieges, nach der Befreiung Ungarns durch die russische Armee, kehrte er sogleich nach Budapest zurück. Seither ist er die führende intellektuelle Kraft innerhalb des ungarischen Kommunismus und übt souveränen Einfluß auf die geistige Entwicklung seines Landes. Er hatte den Lehrstuhl für Ästhetik an der Universität Budapest inne; wenn die Geschichte des Hintergrundes der ungarischen Revolution einst geschrieben wird, dann dürfte sich meine Vermutung bewahrheiten, daß bei Lukács deren geistige Inspiration lag. Er hatte große Anhängerschaft unter den Studenten und war in enger Verbindung mit dem Petöfi-Kreis, welcher den Aufstand einleitete.

Als erste bedeutende Arbeit nach seiner Konversion zum Kommunismus schrieb Lukács „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Das Werk ist ohne Zweifel die kompletteste Darstellung seines philosophischen Standpunktes geblieben.

Das Ziel dieses Werkes wird von Prof. Roy Pascal, in dessen Vorwort zur englischen Ausgabe der „Essays über Realismus“, wie folgt bezeichnet:

... durch Analyse darzutun, welches die wirklich konstituierenden Elemente des Reiches der Ideologie sind, d.h. den Prozeß der literarischen und ideologischen Produktion als Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses zu erweisen; und dadurch die praktische Aufgabe unserer eigenen Zeit aufzuzeigen, die Verwerfung einer Unterdrückergesellschaft und einer steril gewordenen Kultur, den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft und einer neuen Menschheit, in welcher die Spannungen zwischen Mensch und Natur, Kunst und Wissenschaft, subjektiver ‚Freiheit‘ und gesellschaftlicher Notwendigkeit, Theorie und Praxis zu fruchtbaren, die Menschen zu produktiver gemeinsamer Arbeit stimulierenden Beziehungen werden, so daß Kunst und Dichtung die Fähigkeiten und die Lebensfreude der Menschen widerspiegeln und steigern.

Man erkennt den Zungenschlag. Literatur und Literaturkritik mit Zielen, wie sie hier beschrieben werden, liefern den langweiligsten und doktrinärsten Lesestoff seit den Zeiten der Scholastik. Aber Lukács ist anders. Ihn rettet seine natürliche Sensibilität, sein Respekt vor jenen Form- und Stil-Elementen, die von marxistischen Kritikern so oft verächtlich abgelehnt werden. Vor allem aber rettet ihn sein leidenschaftlicher Humanismus, seine Konzentration auf Balzac und Tolstoi, deren zutiefst humanistische Ideale er mit Sympathie darstellt.

All dies führt bei Lukács, wie ich in einer Besprechung der „Essays über Realismus“ sagte, zu einem gewissen Maß von Zwiedenken. Aber wie erfrischend ist es, wenn ein marxistischer Kritiker sich über die „außerordentliche Konkretheit der dichterischen Vision“ bei Tolstoi verbreitet oder, in allgemeinerem Zusammenhang, die Romantik nicht bloß für eine Form bürgerlicher Weltflucht unter anderen solchen Formen hält, sondern für den „Ausdruck einer tiefen und spontanen Revolte gegen den rapide sich ausbreitenden Kapitalismus“.

Was Lukács über Balzac und Tolstoi schrieb, ist vielleicht sein bedeutendster Beitrag zur Literaturkritik, gewiß aber sein lesbarster. Weitere wichtige Werke sind: „Deutsche Literatur während des Imperialismus“ (1945), „Goethe und seine Zeit“ (1946), „Der junge Hegel“ (1948), „Thomas Mann“ (1949).

Lukács ist der bedeutendste Vertreter des marxistischen Standpunktes in der Literaturkritik, der weitaus bedeutendste, den es bisher in aller Welt gegeben hat; die Schärfe seines Intellekts steht außer Frage. Doch wie die meisten marxistischen Kritiker, gleichviel auf welchem Gebiet, beginnt er mit Behauptungen, die bloße Vorspiegelungen sind.

„Der Marxismus“, heißt es in seinen „Essays über Realismus“, „sucht nach den materiellen Ursachen jeder Erscheinung, betrachtet sie im Zusammenhang ihrer historischen Entwicklung, stellt ihr Bewegungsgesetz fest, zeigt ihre Entfaltung von der Wurzel bis zur Blüte, hebt solcherart jede Erscheinung aus bloß emotionellem, irrationalem, mystischem Nebel und bringt sie ins helle Licht des Verstehens.“

Damit wird einem „Marxismus“ zugeschreiben, was nichts weiter ist als die allgemeine Praxis aller Kritik, die Anspruch erhebt, als wissenschaftlich zu gelten; es ließen sich hundert Autoren nennen, von Taine bis Sartre, von Lessing bis Schücking, von Dr. Johnson bis Dr. Leavis, deren Ideal diese selbe wissenschaftliche Methode ist.

Die marxistische Kritik unterscheidet sich von der übrigen Kritik nicht durch ihre wissenschaftliche Methode (die im übrigen darunter leidet, daß in entscheidenden Fragen alle „Objektivität“ abgelehnt wird). Das Unterscheidungsmerkmal der marxistischen Kritik ist vielmehr eine Reihe von aprioristischen Annahmen, z.B. daß Realismus die höchste Form der Kunst sei.

Realismus wird von Lukács als „adäquate Darstellung der gesamten menschlichen Persönlichkeit“ definiert. Als „zentrale, kennzeichnende Kategorie“ des Realismus gilt ihm „der Typus, eine eigentümliche Synthese, welche das Allgemeine und das Besondere sowohl von Charakteren wie auch von Situationen auf organische Weise in sich vereinigt“.

Wort und Begriff „Typus“ sind charakteristisch für Lukács oder vielleicht für die marxistische Literaturkritik schlechthin. „Was einen Typus ausmacht“, erläutert Lukács, „ist nicht seine Durchschnittsqualität noch auch seine individuelle Existenz, wie tief sie auch angelegt sein mag; was einen Typus ausmacht, ist, daß in ihm alle menschlich und gesellschaftlich wesentlichen Bestimmungselemente vorhanden sind, und zwar auf dem höchsten Niveau der Entwicklung, in der letzten Entfaltung der in ihnen verborgenen Möglichkeiten, in der äußersten Darstellung ihrer Gegensätze, solcherart die Gipfel und Grenzen der Menschen eines Zeitalters konkretisierend.“

Alles, was nicht solcher Realismus ist, bedeutet demgegenüber „die Zerstörung der Vollständigkeit der menschlichen Persönlichkeit, der objektiven Typik der Menschen und Situationen durch einen exzessiven Kult der momentanen Stimmung“.

Man muß mit dieser Idee des Realismus und dem Jargon, in dem sie dargeboten wird, ins reine kommen, bevor man die Essays über Balzac, Stendhal, Zola, Tolstoi und Gorki liest — andernfalls würde vieles, was Prof. Lukács zu sagen hat, als willkürlicher Unsinn erscheinen. In einem kurzen Aufsatz, wie es der hier vorliegende ist, läßt sich nur darauf hinweisen, daß diese Auffassung von Kunst tatsächlich bloße Willkür ist.

Gleichermaßen möglich ist eine Kunstauffassung, die man hieratisch oder antihumanistisch nennen könnte wie sie von T. E. Hulme am Beispiel der byzantinischen Kunst entwickelt wurde. [*]

Gleichermaßen möglich ist eine „rhetorische“ Auffassung der Literatur, wonach diese als Spiel zur Entfaltung der Fertigkeit und Sensibilität der ausübenden Künstler zu gelten hätte.

Ferner ist eine pragmatische oder pluralistische Kunstauffassung möglich, wonach ein Gedicht, ein Roman, ein Gemälde, eine Sonate, sobald sie einigen Leuten Vergnügen bereiten, keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.

Aber alle diese Kunsttheorien werden von Lukács, soweit er sie in sein Bewußtsein dringen läßt, sogleich als bourgeois, reaktionär, faschistisch abgetan. Hiebei scheint für ihn das einfache sinnliche Vergnügen an Schönheit die schlimmste aller Sünden zu sein. Worauf es in der Kunst ankomme, sei vielmehr „eine glühende Liebe zum Volk, ein tiefer Haß gegen die Feinde des Volkes und gegen die eigenen Fehler des Volkes (!), die unerbittliche Enthüllung von Wahrheit und Realität, zusammen mit unerschütterlichem Glauben an den Weg der Menschheit und des eigenen Volkes in eine bessere Zukunft“.

Auf solche Weise liebend und hassend, macht sich Lukács an die Analyse der von ihm erwählten Autoren. Am interessantesten sind seine Essays über Balzac und Tolstoi. Ohne Zweifel hat Lukács neue Züge dieser großen Romanciers aufgedeckt und gewisse Sachverhalte klargestellt, welche deren fortdauernde Anziehungskraft verstehen lassen. Aber zu guter Letzt wird der bürgerliche Leser sein größtes Vergnügen vermutlich doch darin finden, dem Schauspiel des Zwiedenkens zu folgen, das ihm von Lukács geboten wird.

Lukács ist zu ehrlich und zu sensibel, als daß er die Größe Balzacs und Tolstois in Frage ziehen könnte; sie sind für ihn die unvergleichlich größten Künstler ihrer Zeit. Aber peinlicherweise war Balzac ein reaktionärer Royalist und Tolstoi ein utopischer Anarchist. Zwiedenken liefert den Ausweg — nicht ohne Mühe, aber das liegt in der Natur solchen Denkens. Die Anschauungen zum Beispiel, die Tolstoi mit Leidenschaft vertrat und die, für ihn, seinem Werk und seinem Leben insgesamt zugrunde lagen, werden bei Lukács zu „historisch notwendigen Illusionen“.

Es muß, nach Lukács, zugegeben werden, daß „ein großer Künstler unsterbliche Meisterwerke auf der Basis einer völlig falschen Philosophie schafft“.

Lukács räumt des weiteren sogar ein, daß solches „Schwimmen gegen den Strom“ ein notwendiges Element in der Entwicklung Tolstois zu literarischer Größe war. Tolstois bürgerlicher Freiheitsbegriff sei wesentlich für seine „spezifische Art der Konzentration“.

Freilich muß das Zwiedenken daraufhin eine weitere Wendung vollbringen. Denn es ist ja nicht vorgesehen, daß dergleichen Freiheit dem Schriftsteller auch im marxistischen Paradies gewährt sei. Daher wird anderseits Gorki für seinen perfekten Konformismus gelobt; Lukács verleiht diesem ziemlich langweiligen Autor — der zugegebenermaßen ein respektgebietender „kämpferischer Humanist“ war — den Mantel Tolstois. Ein trauriges Schauspiel.

Von einigen wenigen Ausflüchten abgesehen, läßt sich eben die Integrität der dogmatischen Literaturkritik nur aufrechterhalten, solange sie ihre Themen in der Vergangenheit findet. Vor den Erfordernissen zeitgenössischer Tyrannei dankt sie ab.

Denn sie muß „konkret“ — d.h. um jeden Preis — zeigen, daß „die Widersprüche der bürgerlichen Kunst in der sozialistischen Praxis überwunden werden können“.

[*Vgl. „Speculations“, London 1924. Hulme (1883-1917), obgleich Autor eines einzigen, nachgelassenen Werkes, hatte beträchtlichen Einfluß auf die englische Kunstkritik.

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