Streifzüge, Jahrgang 2020
November
2020

Gehirn-Lock-Down und Geschäfte mit der Angst

Warum die Daten, mit denen die Corona-Debatte geführt wird, wenig über die „Pandemie“, aber Einiges über den öffentlichen Diskurs sagen!

Es geht hier nicht darum, die Statistik zu den gesundheitlichen Folgen des Corona-Virenbefalls in Ordnung zu bringen. Das wird eine Aufgabe für zukünftige Historiker werden, wenn sich die Propagandanebel im „Krieg gegen das Virus“ gelichtet und die „verschlossenen Archive“ geöffnet haben. Wir wollen uns hier auch nicht auf die Beschäftigungstherapie der Regierung einlassen, die diese Zahlspielrereien für alle Seiten in der Corona-Debatte inklusive der Kritiker der Regierungslinie darstellen. Aber Schlaglichter auf das um den 14.11.2020 veröffentlichte offizielle Zahlenmaterial und seine Aussagekraft mögen nützlich für die Suche nach der offiziellen Begründung des neuerlichen Lockdowns — und ernüchternd über den Zustand der öffentlichen Debattenkultur in der spätmodernen Krisengesellschaft generell — sein.

A. Das Wenige, das auch nicht viel sagt

Das Konkreteste, das aus der Datensuppe ableitbar ist, auch wenn es selten in relativen Zahlen ausgedrückt wird, dürften zwei Maßzahlen sein:

I. Mit der Infektionsrate in die Katastrophe oder zur Herdenimmunität?

Von den getesteten Personen sind zwischen 7 und 8% mit CoV2 infiziert (trotz unterschiedlicher absoluter Zahlen kommen beide, das Gesundheitsministerium und die AGES am 14.11.2020 auf eine Infektionsrate von 7,6%).

  1. Das ist die solideste aber auch eine recht begrenzte Aussage, da wir nichts darüber erfahren, wie dieses Sample zustande kommt, sprich nach welchen Wahrscheinlichkeiten jemand in den Kreis der Getesteten gelangt. Über die Repräsentativität dieser Zahl lässt sich daher kaum etwas aussagen, außer was sich aus ihrem Umfang ableiten lässt:
    • Dank der seit dem Sommer ausgebrochenen Testungswut nähert sich die Zahl der Getesteten rasant ca. einem Drittel der Wohnbevölkerung (14.11.2020: 2642553 laut BMSGPK, 2607733 laut AGES) und ist daher ziemlich groß. Bekanntlich sind 100% absolut repräsentativ.
    • Untersuchungen auf Basis des Mirkrozensus arbeiten etwa nur mit 22500 Haushalten um repräsentative Ergebnisse zu erzielen.
      Der große Unterschied ist freilich, dass letztere von den Statistikern systematisch als Stichprobe gezogen, und im Hinblick auf die bekannte Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung nach regionaler Verteilung und sozialen Merkmalen gewichtet werden können. Das „Sample“ der CoV2-Infizierten entsteht quasi zufällig im Zuge der Tätigkeit des Gesundheitswesens, und stellt sich so als unbekannter Auschnitt aus einer unbekannten Gesamtheit dar.
  2. Auswahl bzw. Kenntnis der Zusammensetzung des Samples ist eine grundlegende Voraussetzung, um in der Statistik Schlüsse ziehen zu können. Unbekannte Auswahlkriterien können starke Verzerrungen gegenüber dem nicht bekannten Durchschnitt der Gesamtpopulation beinhalten.
    • Sicher werden zuerst Menschen mit Symptomen getestet werden, aber die Symptomwahrnehmung von Patienten ist ein weites Feld in der Medizin, die vom Hypochonder, der beim ersten Kratzen im Hals Alarm schreit, bis zu jenen reicht, die sich Krankheit einfach nicht leisten können, und daher einen solchen Schritt so lange wie möglich hinauszögern werden.
    • Institutionell wird die Nähe zu medizinischen Einrichtungen eine Rolle spielen. Wer sowieso in ständiger Behandlung ist, insbesondere im stationären Bereich, wird mit oder ohne spezifischen Symptomen wohl eher in den Genuss einer Testung kommen. Eine hohe Todesrate von CoV2-Infizierten, die sich ohnehin nicht abzeichnet (siehe A., II.) könnte daher die Folge davon sein, dass sterbenskranke Menschen eben häufiger getestet werden. Die Statistik benennt nicht unbedingt die Richtung einer möglichen Wirkung zwischen zwei ähnlich verteilten Faktoren, wenn es sie denn gibt und das Verteilungsmuster nicht nur zufällig ist. Ob aus AB folgt oder umgekehrt ist eine Frage kausaler Logik, in dem Fall medizinischer Forschung, nicht der Statistik.
      Kurz, ob die Getesteten eher zu den CoV2-Befall-Exponierten gehören und mehr Infektionen als der Durchschnitt aufweisen oder umgekehrt, oder was die Daten sonst an Realitäten abbilden mögen, kann daher niemand sagen, solange die Zusammensetzung des Samples nicht genauer bekannt ist und nach demographischen, sozialen und regionalen Faktoren ausgewertet wurde.
  3. Die dafür nötigen Daten zu den Infektionsfällen dürften auch verwaltungsintern nicht erhoben werden und aufbereitet zur Verfügung stehen, da ansonsten das Bildungsministerium nicht die Statistik Austria mit einer Erhebung der „Dunkelziffer“ der CoV2-Infizierten beauftragen hätte müssen — es sei denn, es handelte sich um einen Alleingang des Bildungsministers, der ja in einem früheren Leben ein quantitativ forschender Sozialwissenschafter war. Es lohnt sich die Presseaussendung der Statistik Austria vom 11.11.2020 zu Ziel und Design dieser Erhebung, deren Testphase letzte Woche über die Bühne ging, ein wenig zu zitieren, um zu ermessen mit welchem Datenschrott bis jetzt in der Öffentlichkeit herumgefuhrwerkt wurde: „Wie hoch ist zum aktuellen Zeitpunkt die wahrscheinliche Anzahl an Infizierten zusätzlich zu den bereits gemeldeten Erkrankten (Dunkelziffer), und wie viele davon sind symptomfrei? Wie groß ist der Anteil an Menschen in der österreichischen Bevölkerung, die Antikörper gegen SARSCoV-2 haben? Um das zu ermitteln, bedarf es einer Erhebung bei einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung [Hervorhebung P.O.]. Von den in einem wissenschaftlichen Verfahren per Zufall aus dem Zentralen Melderegister ausgewählten Personen ab 16 Jahren haben rund 2.500 ihre Teilnahme an den Tests zugesagt.“ Von 2500 repräsentativ ausgewählten Probanden erhoffen sich die Statistiker also verläßlichere Aussagen, als aus den zufällig durchwegs von Behörden zusammengestoppelten Daten der gut zweieinhalb Millionen Gestesten. Auch sonst illustriert der kurze Ausschnitt eines blossen Pressetexts klar, was einem in der öffentlichen Zahlendebatte so schmerzlich fehlt: Klare Fragestellungen und deren logisch nachvollziehbare Operationalisierung. Vor allem ist da kein Gefasel von Clustern und den zufälligen verwaltungsinternen Infektionszahlen von heute, gestern, vorgestern, usw., aus denen dann die Antworten auf Fragen abgeleitet werden, die nie präzise formuliert wurden.
  4. Zusammenfassend heißt dies für die Aussagekraft der mehr oder weniger auf zufälliger Basis vorliegenden Daten in etwa Folgendes:
    a) Die diversen zeitlichen Schwankungen von Monats- und Tageswerten sind praktisch nicht interpretierbar, weil wir weder deren Zusammensetzung noch deren Dynamik kennen. So ist auch die Interpretation des seit dem Sommer ansteigenden Anteils der positiven Testungen als Ausbreitung der Seuche schlicht Unfug. Wir erfahren nur von mehr Infektionen, und die Faktoren, die darauf Einfluss haben, beinhalten einfach zu viele Unbekannte, um verläßlich auf den Verbreitungsprozess des Virus zu schließen. Ob im Vergleich zur vorangegangenen Periode mehr Infektionen stattfinden, kann daraus nicht abgeleitet werden, weil wir ja nur wissen, was uns damals bekannt geworden ist. Eine Interpretation von Flussgrößen ist daher Sterndeuterei, weil diese mehr den Prozess der Informationssammlung als die Umtriebe des Virus abbilden dürften (siehe auch C., 1., 3.).
    b) Ob die gegenwärtige Infektionsrate aller Getesteten etwas über eine solche bei der Gesamtbevölkerung aussagt, hängt davon ab, ob die Auswahl der Gestesten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung systematisch zugunsten oder -ungunsten der Infizierten und Kranken verzerrt ist. Ersteres ist schon deshalb wahrscheinlich, weil natürlich Menschen mit Krankheitssymptomen zuerst getestet werden. Freilich kann eine unsystematische Testungswut dies durch die schiere Masse auch wieder ausgleichen. Eine Repräsentativität dieser Bestandsgröße ist bei der großen Grundgesamtheit jedenfalls wahrscheinlicher als bei irgendwelchen mehr oder weniger zufällig über den Zeitraum verteilten Detaildaten. Letztlich kann eine solche Einschätzung nur auf Basis von Vergleichsdaten einer repräsentativen Erhebung erfolgen.
  5. Was würde nun eine Infektionsrate in der Höhe von 7-8% bedeuten, wenn sie sich bestätigen sollte? Für sich genommen gar nichts, wenn sie nicht mit anderen Daten kombiniert und die Fragestellung, für deren Beantwortung sie verwendet werden soll, definiert wird. Im gegenwärtigen Diskursklima wird jedes Steigen eines Wertes als gefährlich eingestuft, jedes Prozent gilt als zuviel, jeder Infizierte sei ein potentieller Überträger. So einfach ist es aber nicht:
    • Trotz einer gewissen Steigerung in den letzten Monaten bleibt die Reproduktionsrate des Corona-Virus recht gering, und liegt laut AGES-Daten vom 13.11.2020 bei 1,21 (ORF1, 14.11.2020). Bei Masern liegt sie erfahrungsgemäß zwischen 12 und 18. Das heißt, bei 7,6% Masernbefall könnte man jedenfalls mit mehr Berechtigung von einem bevorstehenden explosionssartigen Wachstum der Seuche sprechen. Die Perspektive, dass nun rasch gehandelt werden muss, weil das Infektionsgeschehen ansonsten nicht mehr in den Griff zu bekommen ist, lässt sich auf Basis dieser Daten jedenfalls nicht belegen.
    • Natürlich ist die zentrale Frage die, nach den gesundheitlichen Wirkungen einer Infektion. Denn eine sich rasch verbreitende Infektion, die nur bei 10% der Betroffenen Krankheitssymptome auslöst, ist sicherlich weniger gefährlich als eine, die sich langsamer verbreitet, aber bei 90% der Fälle den Tod nach sich zieht. Der Vergleich wäre einen Rechenübung. Die für die Beantwortung dieser Frage notwendigen Daten werden aber im Öffentlichen Diskurs geradezu systematisch ausgespart, um nicht zu sagen vorenthalten. Wer „nur“ infiziert und wer tatsächlich mit einschlägigen Symptomen erkrankt ist, wissen wir nicht (siehe B). Wenn wir wüssten, wieviele der Infizierten ärztliche Hilfe, z.B. die eines Krankenhauses benötigt haben, wäre dies natürlich auch ein Anhaltspunkt. Das geht aus den veröffentlichten Daten aber ebenfalls nicht hervor. Zwar wird die jeweilige Krankenhausbettenbelegung (normal und intensiv) tagesaktuell als Bestandsgröße publiziert, die Zahlen für Infizierte (inklusive der Unterscheidung in „aktive Fälle“ und „Genesene“) aber als seit Anfang der Pandemie kumulierter Wert, also eine Flussgröße. D.h., man lässt uns wissen, wieviele Spitalsbetten jetzt gerade von CoV2-Infizierten belegt werden, und wieviel COV2-Infizierte es insgesamt seit April gegeben hat, aber nicht, wieviele Infizierte insgesamt seit Anfang der „Pandemie“ deshalb in Krankenhausbehandlung waren. Damit gibt es keine Daten über die tatsächliche Krankheitssymptomatik bei den Infizierten. Einen kleinen Hinweis entnehmen wir dem - im Unterschied zu den meisten anderen Daten bezeichnenderweise zuletzt vor mehr als vier Wochen, am 5.10.2020 publizierten Factsheet „Intensivpflege und COVID“, das man von der Website des BMSGPK herunterladen kann. Dort heißt es: “Zum Analysezeitpunkt benötigten 0,8% der positiv Getesteten Intensivbetreuung. Dieser Wert hat sich seit dem neuerlichen Anstieg der Corona-Fälle im September bislang nur geringfügig erhöht. In den anfänglichen Epidemiphasen I+II (bis 15. April) lag diese Rate noch bei 2,4%.“ Damit kann man natürlich schwerlich einen neuen Lock Down rechtfertigen, aber immerhin vermuten, dass der Infektion mit CoV2 offensichtlich relativ selten ernsthafte Krankheitsymptome folgen.
    • Wie man die vorläufige Infektionsrate beurteilt, hängt natürlich auch von der Fragestellung ab. Für das Erreichen der Herdenimmunität, die man uns im Frühjahr noch ständig um die Ohren geschlagen hatte, wäre eine sich rasch verbreitende Infektion, mit geringen gesundheitlichen Auswirkungen doch wohl wünschenswert.
      Die Reproduktionsrate ist zwar relativ niedrig, aber die Krankheitsfolgen der Infektion vermutlich auch. Wegen ersterer wäre wohl auch der kritische Schwellenwert für die Herdenimmunität nicht besonders hoch (z.B. im Vergleich zu Masern) und so um die 20% zu veranschlagen (Basisberechnung ohne Effizienzfaktor = 17%). Solange es nicht mehr schwere Krankheitssymptome hervorruft, könnte das Virus aus dieser Perspektive also durchaus ein wenig umtriebiger sein.

Diese kursorischen Anmerkungen zeigen vor allem, dass die vorläufige Infektionsrate, auf die im Moment alles wie auf die Schlange starrt, für sich allein genommen nicht viel sagt, selbst wenn sie sich als einigermaßen repräsentativ herausstellen sollte.

II. Weniger riskant als das normale Leben?

Wo eine gesundheitliche Auswirkung einer Infektion mit dem Virus am spektakulärsten zum Ausdruck kommen sollte, wäre bei der Sterberate der durch die Infektion Erkrankten. Vorgelegt werden in der Diskussion just andere Sterberaten.

  • Die zirkulierten Sterberaten beziehen sich nicht auf die Todesursache „CoViD19“ sondern lediglich die allgemeine Sterblichkeit der Infizierten. Das Gesundheitsministerium erfasst jede Person, die „mit dem Virus“, nicht unbedingt an ihm verstorben ist. Die AGES zieht davon wenigstens jene Personen ab, die nach ihrer Definition vor dem Tod als von „CoViD19 genesen“ einzustufen waren (siehe dazu B). Vielleicht resultierte daraus auch die Differenz von ca. 100 Toten in den beiden Datenquellen per 14.11.2020.
  • Es handelt sich also bei diesen Werten um eine Korrelation, der kein kausales Verhältnis zugrunde liegt; so zufällig wie die Sterberate derer, die sich in dieser Wintersaison beim Schifahren ein Bein brechen werden.
  • Diese Sterberate der Infizierten lag am 14.11.2020 nach den Zahlen des Gesundheitsministeriums bei 0,87% und nach denen der AGES bei 0,82% und somit unter der langjährigen Sterberate der Gesamtbevölkerung im letzten Jahrzehnt (2009-19 zwischen 0,92 und 0,96%, Statistik Austria 1). COV2-Infizierte haben also nach derzeitigem Wissensstand statistisch gesehen ein etwas geringeres Sterberisiko als der Durchschnitt.

Eine besonders hohe Mortalität bei COV2-Infizierten war bisher also auch nicht festzustellen. Wer damit einen Lock Down begründen wollte, müsste einen solchen in Permanenz überlegen, was auf die Raten von Unfall- oder Alkoholtoten unter Umständen durchaus einen positiven Effekt haben könnte.

B. Statistische schwarze Löcher an entscheidender Stelle

Nicht nur gibt es keine Statistiken über die Todesursache „CoViD19“, auch ansonsten werden die CoV2-Infizierten, nun meist unspezifisch „Fälle“ in der veröffentlichten Statistik genannt, in völlig unergiebige Kategorien eingeteilt.

I. „Krank oder nicht krank“, das ist hier nicht die Frage

Vielmehr geht es — warum auch immer — um „genesen“ oder „aktiv“. Laut Gesundheitsministerium waren neben den Verstorbenen am 14.11.2020 knapp 40% „aktive Fälle“ und knapp 60% „Genesene“ in der Population der Infizierten zu finden; bei den Zahlen der AGES war das Verhältnis mit ca. 53% zu 45% doch deutlich anders. Doch nicht die Diskrepanz dieser zwei offiziellen Datenquellen hat es in sich, sondern die Definitionen der beiden Kategorien: So wie die Sterberaten nicht angeben, ob jemand an CoViD19 gestorben ist, geben diese Kategorien nicht an, wer krank ist oder war. Die wesentlichen gesundheitlichen Effekte des Virus, Tod und Krankheit werden somit in der Debatte statistisch nicht dargestellt.

  1. Die vielbeschworenen „aktiven Fälle“ werden nur indirekt und als Residualkategorie der infizierten Population, nämlich durch Abzug der Verstorbenen und der Genesenen definiert, was suggeriert, alle müssten krank gewesen sein.
  2. Die eigentliche Definition des „aktiven“ Status erfolgt indirekt anlässlich seines Endes bei der Definition des Genesenen-Status, als wollte man vermeiden die aktiven Fälle positiv zu beschreiben. Diesen Umweg übergehen wir hier.
  3. Faktisch fasst die Definition des „aktiven“ Status höchst willkürlich zwei Gruppen zusammen, die wie folgt definiert sind:
    a) Die erste Gruppe ist durch einen positiven Befund über ihre Infektion mit dem Virus und die darauf folgende zehntägige Quarantänephase, Heimisolation genannt, definiert. Um jede klare Unterscheidung zwischen Kranken und „nur“ Infizierten zu vermeiden, können in dieser Kategorie theoretisch auch Krankheitssymptome vorhanden sein und wird auch von „Heimpflege“ gesprochen, auch wenn einer nur seinen Befund „pflegt“ und die administrative Maßnahme absitzt. Dass der Krankheitscharakter dieses Status nicht besonders ernst gemeint sein kann, geht daraus hervor, dass er laut Definition ohne jeden Bezug auf das Ende einer etwaigen Krankheitssymptomatik durch Fristablauf nach zehn Tagen endet.
    b) Die zweite Gruppe sei durch „schweren Krankheitsverlauf“ gekennzeichnet, was offensichtlich nur heißt, dass hier auf tatsächliche Krankheitsymptome abgestellt wird, und endet dieser Status daher auch 48 Stunden ab Symptomfreiheit, aber frühestens nach zehn Tagen, und der Befundung bestimmter Laborwerte.
  4. Inkohärenter könnte eine Definition also nicht sein, weil somit jeder mit dem Virus Infizierte zunächst einmal für zehn Tage als statistischer Kranker firmiert, bei tatsächlichen Symptomen darf es etwas länger dauern, gegebenfalls bis zum Tod. In den Zahlen beider Kategorien sind völlig gesunde Menschen mit dem Virus und Kranke enthalten. Weder sagt uns die Genesenen-Kategorie, wieviel Menschen wirklich krank waren, noch die Kategorie der „aktiven Fälle“, wieviele Menschen aktuell krank sind. Jeder Infizierte ohne Krankheitssymptome darf für die Statistik einmal als Kranker und einmal als Genesener posieren.

II. Nutzen des Sinnlosen, Sinn des Nutzlosen?

  1. Solche Daten beantwortet natürlich keinerlei Fragen über die gesundheitlichen Folgen des Virus und erlauben ebensowenig Rückschlüsse auf seine Gefährlichkeit oder zukünftige Verbreitung. D.h., es fehlen genau jene Daten, auf die es ankäme, und die es ermöglichen würden, Infektionsdaten in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Man darf gespannt sein, was passiert, wenn die Daten der Statistik Austria verfügbar sind, die genau diese Unterscheidung machen sollen, die bisher so geflissentlich unter den Teppich gekehrt wurde.
  2. Selbst als PR-Material für einen Lock Down sind solche Daten nicht besonders durchdacht. Zwar ist die Definition darauf ausgelegt, die Krankheitsfolgen des Virus jedenfalls größer erscheinen zu lassen. Umgekehrt muss ein solches Vorgehen zwangsläufig mit fortschreitender Testung zu einem immer größeren Überhang der statistisch Genesenen führen, was die Krankheit immer harmloser, die Sterberaten statistisch immer insignifikanter erscheinen lassen wird. Wenn es die Absicht der Regierung ist, die Krankheit bedrohlicher erscheinen zu lassen, um ihre Maßnahmen zu legitimieren, hat sie mittelfristig eine selfdefeating strategy gewählt. Aber vielleicht glaubt man diesen Zahlen-Rauchvorhang nicht mehr zu benötigen, wenn die Bevölkerung einmal an das Exerzieren im Doppelschritt Lock-Unlock-1-2-1-2 gewöhnt ist.

C. Daten- und Graphiken-Weihrauch für rituelle Zwecke

Ansonsten werden rund um das Thema eine Fülle von Zahlen veröffentlicht, deren Erkenntniswert mehr als zweifelhaft ist, und die hauptsächlich dekorativen Charakter haben. Die Anstrengung, darin relevante Aussagen über das Pandemiegeschehen zu suchen, kann man getrost einsparen, weshalb diese Datenfolklore hier nur kursorisch und allgemein behandelt wird.

I. Der feine Unterschied zwischen Wirklichkeit und der Erhebung der Wirklichkeit

Selten werden wir mit der generellen Infektionsrate in relativen Zahlen konfrontiert, wie unter A. ausgeführt. Dafür füttert uns die Regierung mit den täglichen Meldungen der Neu-Infektionen, und versucht uns seit dem Herbst mit deren hochschießenden Diagrammbalken das Gruseln zu lehren.

  1. Doch streng genommen sind das Statistiken über den Fortgang der Erhebungen zur CoV2Situation, nicht über die Wirklichkeit der Ausbreitung des Virus, die ja keiner kennen kann. Die zwei Pozesse werden unzulässig vermengt und Daten des einen dazu benutzt Schlussfolgerungen über den anderen zu ziehen. Der Prozess der Verbreitung des Virus vollzieht sich naturgemäß im Dunkeln und wird nur bei bestimmten Gelegenheiten ein Stück davon sichtbar. Die Sammlung und Aufzeichnung all dieser Daten, so wie sie uns eben zur Kenntnis gelangen, ist ein zweiter Prozess, der obwohl nicht gezielt von Statistikern durchgeführt den Charakter einer situativ-zufälligen Sammlung von Daten besitzt. Verdeutlichen wir uns die Rolle dieses Prozesses am Beispiel einer fiktiven wissenschaftlichen Studie: Diese hätte sich zum Beispiel das Ziel gesetzt, die Kleinkriminalität in einem bestimmten Bezirk der Stadt mithilfe von Fragebögen an alle Haushalte zu quantifizieren, sagen wir, weil solche Delikte selten angezeigt werden, und man daher eine große Dunkelziffer vermutet. Zunächst wäre der Rücklauf der ausgesandten Fragebögen nur zögernd erfolgt, aber nach der Urlaubssaison füllen die Bewohner in großer Zahl den Fragebogen aus, und der Rücklauf explodiert geradezu ab September. Würden die Studienautoren daraus auf einenen aktuellen Anstieg der Kleinkriminalität im Untersuchungsgebiet schließen? Natürlich nicht, weil nur ihr Wissenstand über die Kleinkriminalität exponentiell ansteigt. Aus dem Bekanntwerden einer bestimmten Zahl von Infektionen kann schließlich nicht mit Sicherheit auf deren Wachstum geschlossen werden, weil niemand die Dunkelziffer kennt. Vielleicht haben wir schon seit einem Vierteljahr 200000 CoV2-Infektionen und wußten es nur nicht.
  2. Überdies gehen in die Erhebungstätigkeit eine ganze Reihe von verzerrenden Faktoren ein, die nichts mit der realen Entwicklung des erhobenen Phänomens zu tun haben. In unserem Beispiel haben die Bewohner des untersuchten Bezirks erst nach der Urlaubssaison in größerer Zahl zurückgemeldet. Sicherlich arbeiten die österreichischen Gesundheitseinrichtungen derzeit mit vorgehaltener Regierungspistole an der Erhebung und Weitergabe von Corona-Daten, aber deren betriebliche Abläufe kann das auch nicht völlig aufheben. Labors brauchen ihre Zeit, und auch die administrativen Stellen haben noch etwas anderes zu tun, als die Coraonastatistik für die Regierung zu führen. Wenn man die Daten aufmerksam liest, ist dies auch klar erkennbar.
    • Die AGES präsentierte die Daten des 14.11.2020 mit dem Hinweis, dass demnächst Zahlen von sogenannten Genesenen nachgetragen würden und sich das Verhältnis zuungunsten der aktiven Fälle verschieben würde, was nichts anderes heißt, als dass die publizierten Daten am 14.11.2020 zugunsten der aktiven Fälle verzerrt waren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
    • Auch das Gesundheitsministerium kündigte bei der Präsentation seiner aktuellen Zahlen auf der Website am 14.11.2020 Korrekturen wegen Nachmeldungen bei den Verstorbenen und den „Genesenen“ an.
      Dies offenbart, dass die präsentierten Zahlen einfach auch administrative Vorgänge abbilden und nicht unbedingt die reale Ausbreitung des Virus.
  3. Die Faszination solcher Zahlen liegt für die Regierung wohl in ihrem leicht herstellbaren Wachstum (durch vermehrte Testung oder administrative Maßnahmen), das undifferenziert als Indikator für die Verschlechterung des Pandemiegeschehens reklamiert werden kann.
    Warum die Zahlen wachsen, und was dies bedeutet, spielt in dieser Debatte praktisch keine Rolle. Dazu ist Folgendes anzumerken:
    • Die Regierung agiert in der Öffentlichkeit überwiegend mit kumulierten Werten über den Gesamtzeitraum der Pandemie (Infizierte, Verstorbene, Genesene, usw.). Es ist das Wesen solcher Zahlen und eine mathematische Gesetzmäßigkeit, dass sie steigen, außer der Anfangswert läge im Minus. Aber weniger als null Fälle gibt es in der Realität ohnehin nicht.
    • Wenn immer neue Tranchen von Daten ergänzt werden, wäre es sehr ungewöhnlich, wenn alle diese Datensätze völlig gleich verteilt wären; d.h., manche werden eine höhere Infektions- oder Sterberate aufweisen, als die vorhergehenden. Man kann diese Unterschiede im Zusammenhang mit anderen Merkmalen der Datensätze bzw. der Fälle zu ergründen suchen, aber jede dieser Schwankungen als Trend des zugrundeliegenden gesamten Infektionsprozesses zu interpretieren, ist wenig sinnvoll, wie das folgende Beispiel illustrieren kann: Man stelle sich eine Regierung vor, die in ihrem Land das erste Mal eine Volkszählung durchführt, und laufend neue Datensätze,— sagen wir — mit der Bevölkerungszahl und Geburtenrate von Teilmengen (Kohorten, Regionen, etc.) bekommt. Würde diese Regierung jedesmal, wenn eine Teilmenge mit einer höheren Geburtenrate als der vorherigen einlang, Maßnahmen der Geburtenregelung zur Bekämpfung der Übervölkerung ergreifen, würde man sie auch nicht ernst nehmen können.

II. Gesund-Bleiben für das Gesundheitssystem?

Sehr beliebt sind in der gegenwärtigen Datenfolklore auch Auslastungszahlen des Gesundheitswesens, insbesondere der Bettenbelag in Krankenanstalten.

  1. Diese mögen eine notwendige innerbetriebliche Kennzahl für das Gesundheitswesen sein, dazu, die Gefährlichkeit des Virus und die Notwendigkeit eines Lock Downs zu begründen, sind sie denkbar ungeeignet:
    a) Spitalsbetten beweisen per se überhaupt keine Gefährlichkeit von irgendetwas im medizinischen Sinn. Spitalsaufenthalte wegen Gesundheitsbeschwerden wären bestenfalls ein indirekter Hinweis auf die Wirkung des Virus (siehe A., I., 5.). Aber Spitalsaufenthalte wegen der Infektion gehen aus den veröffentlichten Zahlen wieder nicht eindeutig hervor, sondern nur solche mit ihr. Zwar sprechen die Definitionen von BMSGPK und AGES von „CoViD19-Patienten“, aber präzisiert die AGES, dass sich diese Aussage auf „aktive Fälle“ in der oben kritisierten Definition bezieht (siehe B), woraus Krankheitssymptome infolge des Virus nicht notwendigerweise ableitbar sind.
    Eine Infizierter könnte sich im Krankenhaus nur ein Muttermal entfernen lassen wollen, und völlig symptomfrei sein. Im Übrigen wäre die Überlastung des Gesundheitswesens eine sehr relative Bestimmung der Gefährlichkeit einer Krankheit, weil diese steigen muss, je desolater das Gesundheitssystem ist. Natürlich wird es im letzteren Falle für die Bevölkerung gefährlicher, Verursacher ist dann aber nicht das Virus sondern eine gemeingfährliche neoliberale Regierung, die das Gesundheitswesen verkommen lässt.
    b) Wenn drastische Maßnahmen, die angeblich der Gesundheit der Bevölkerung dienen, mit der Auslastung bzw. angeblich zu befürchtenden Überlastung von Spitälern begründet werden, liegt eine Vertauschung von Zweck und Mittel vor: Dann erscheint nämlich das Gesundheitssystem nicht als Mittel zum Zwecke des Erhalts der Gesundheit, sondern die Gesundheit der Bevölkerung wird ein Mittel, um das Gesundheitssystem zu schonen. \Wenn hier gedanklich ausgeschlossen wird, das Gesundheitssystem den jeweiligen Anforderungen anzupassen, enstpricht dies natürlich der Verinnerlichung des neoliberalen Spardogmas bei den öffentlichen Finanzen. Maskenausgabe statt Aufstockung der Spitalsbetten, lautet dann die Devise. Dieses Denkmuster enthüllt vielleicht mehr über den Charakter dieser Regierung, als ihr lieb sein kann. Im Kern ist sie eine Krisenverwaltung, und da passt eine Rationierung der vorhanden Ressourcen, mit denen einfach auszukommen ist, ganz gut ins Bild.
  2. Die Verfügbarkeit von Spitalsbetten ist schon deshalb kein besonders geeigneter Indikator, für die Gefährlichkeit der Pandemie, weil sie nicht nur von einem Faktor, also etwa Krankheitssyptomen infolge CoV2-Infektion abhängig ist. Freilich liest man von anderen Gründen für die Bettenauslastung der Spitäler meist nichts, so dass der Eindruck ensteht, diese hänge auschließlich vom schrecklichen Wüten des Coronavirus ab. Im letzten Factsheet zur Intensivpflege vom 5.10.2020 liest man, dass von 2013 vorhandenen Intensivbetten in Österreich 101 von „CoViD19-Patienten“ belegt seien und nur mehr 609 für solches zur Verfügung stünden, und frägt sich unwillkürlich, wo sich die anderen 1303 Betten verstecken. Hier wird schon auf Datenebene systematisch ausgeblendet, dass die für sogenannte „CoViD19-Patienten“ zur Verfügung stehenden Betten auch wegen anderem Bedarf als dem vom Virus verursachten knapp werden könnten. Tatsächlich zeigt eine Graphik des ORF Infopoint Coroanavirus (ORF1, Graphik: Auslastung der Normalbetten für Covid-19-Patienten in Österreich insgesamt) auf Basis von AGES-Daten, dass Anfang November etwa nur halb soviele leere Normalbetten in Spitälern „frei“ sind als noch Mitte April, ohne dass dies genauer kommentiert wird. Kurz, die Verfügbarkeit von Spitalsbetten hängt von einem Bündel von Faktoren ab, so dass sie denkbar schlecht als Maß für die Entwicklung der „Seuche“ geeignet ist. Freilich kann man damit Angst vor einem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung machen, wenn nicht alle brav Masken tragen. Und das dürfte der Hauptgrund für den prominenten Platz solcher Zahlen in der gegenständlichen Debatte sein.

III. Der Schulgurgeltest — ein Lehrstückchen

Die Zahlenfloklore beinhaltet aber nicht nur Daten, die relativ irrelevant sind, sondern auch solche deren Relevanz einfach ignoriert wird, so dass sie ihrer Funktion nach trotz gewisser Aussagekraft Folklore bleiben:

  1. Wenn die Dunkelziffererhebung der Statisik Austria für das Bildungsministerium — sagen wir — nicht als direkter Dissens aber doch die Eigenmächtigkeit eines Ministers in der geschlossenen Gesellschaft der Regierung Kurz II gelesen würde, dann gälte dies für den Schulgurgeltest erst recht. Der Test wurde ins Leben gerufen, um das Infektionsgeschehen an den Schulen zu objektivieren und regelmäßig zu beobachten. In der ersten Erhebung von 28. September bis 22. Oktober waren 40 von etwa 10.000 stichprobenartig ausgewählten und getesteten Schülern und Lehrern positiv, dies im Übrigen ohne Krankheitssymptome zu zeigen. Das heißt die Infektionsrate in einer repräsentativen Erhebung über die Schulen, liegt bei einem Neunzehntel der unter A. I. diskutierten Infektionsrate der bisherigen unsystematischen Testungen, was übrigens ein Hinweis auf die geringe Repräsentativität der letzteren zumindest in Hinblick auf das getestete Schulmilieu ist.
  2. Wenn der Bildungsminister und sein grüner Gesundheitskollege gehofft hatten, damit Schulschließungen, denen gegenüber ihnen wenig Sympathie nachgesagt wird, vermeiden zu können, haben sie sich verrechnet, und die Rolle von Daten in dieser Debatte gründlich verkannt. Denn die objektive Aussage von Zahlen spielt hier nicht eine untergeordnete Rolle sondern gar keine. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der Tatsache, dass das Infektionsrisiko in Schulen nach aktuellem Wissensstand 19 Mal geringer als anderswo ist, setzte der Kanzler der Familienpartei ÖVP das Projekt einer erzwungenen Family Reunion durch und sperrte die Schulen aus „gesundheitlichen“ Gründen zu.

In den Redaktionsstuben hieß es zu der Erhebung bestenfalls, es sei noch nicht klar, ob diese Zahlen bei der Entscheidung für den neuen Lock Down berücksichtigt würden. Dass deren Inhalt die geplante Maßnahme an den Schulen geradezu absurd erscheinen ließ, fiel in der Dateninflation keinem so recht auf.

D. Ausblick auf „1984“

I. Von der Zensur zum Gehirn-Lock-Down

In der Ära Dollfuß hätte der „Märtyrerkanzler“ der ÖVP Daten wie die Ergebnisse des Schulgurgeltests noch zensieren und den Bildungsminister von der Heimwehr unter Hausarrest stellen lassen. Dies ist heute nicht mehr notwendig; Repression hat im 21. Jahrhundert ein anderes Gesicht. Die widerstrebenden Daten werden in einem Meer von belanglosen und unverständlichen wie unverstanden Zahlen ertränkt. Bestenfalls läßt man regierungsnahe oder -hörige Institutionen ein wenig an den offiziellen Datendefinitionen drehen (siehe B), um sicher zu stellen, dass nicht allzuviel Inhaltsplankton in den Schleppnetzen der medialen Fischkutter hängen bleiben kann, die auf der Suche nach dem Rohmaterial für die dem Publikum kredenzten Fertiggerichte im Zahlenmeer kreuzen. Diese Repression braucht nicht so sehr Geheimpolizei, Zensur oder Psychiatrierung der Dissidenten als Instrumente, als sie den Gehirn-Lock-Down zur Vorausetzung hat, der zusammenhängendes Denken, ja selbst einfache Rechenoperationen ausblendet. Eine Debatte dieses Ausmaßes mit fast völlig irrelevanten Datenmaterial dieses Umfangs zu führen, wie gezeigt, setzt zwingend ein zu- oder ausgesperrtes Gehirn bei den meisten Teilnehmern und noch mehr bei den Rezipienten voraus. Ein solcher Zustand ist offensichtlich weitgehend gegeben, oder kann relativ leicht themenspezifisch hergestellt werden. Wenn dies am Umgang mit quantitativen Daten, dem Inbegriff moderner Wissenschaftlichkeit gezeigt werden kann, gilt es umso mehr für andere Botschaften in der öffentlichen Kommunikation, und illustriert nur einmal mehr, wie die Substanz des „Zeitalters der Vernunft“ vor unseren Augen langsam zerbröckelt.

II. Spirale aus Angst und Aggression

Doch bedient man sich solcher Instrumente nicht ungestraft und wird leicht selbst zum Getriebenen. Wo das Denken aufhört beginnt die Angst zu regieren. Wer sich ängstigt, weil er sich kein stimmiges Bild von den ihn umgebenden und bestimmenden gesellschaftlichen Bedingungen mehr machen kann, erlebt unvermeidlich Ohnmachtserfahrungen und kongnitive Dissonanzen, die wiederum nach Aggressionsabfuhr verlangen. Die Lock Down Debatte illustriert dies bereits selbst. Anstatt die Bedingungen der Übertragung des Virus zu bestimmen, läuft die Jagd nach dem Überträger mit High-Tech. Dieser ist dingfest zu machen, damit es auch Schuldige gibt, sollte die an die Wand gemalte Katastrophe tatsächlich oder zumindest in den Köpfen doch noch stattfinden. Wem die kognitiven Voraussetzungen für zielgerichtetes emanzipatorisches Handeln fehlen, der neigt bei Unbehagen zur „angepassten Rebellion“, die nach unten auf Sündeböcke tritt, aber gelegentlich auch den Austausch der Köpfe oben fordert. Ihr Hang zu Verschwörungstheorien ist der objektiv falsche Ausdruck der dumpfen Wahrnehmung davon, permanent verschaukelt zu werden. Dies ist die Grundlage für jeden Populismus. Auch wenn der Populist, ob er nun Kurz oder anders heißen mag, sich dieser Stimmung bedient, so dirigiert er doch eine Meute, die nur auf einen Anlass wartet, den Kopf von denen da oben zu fordern. Wenn es in einem asiatischen Sprichwort heißt, fasse nie nach dem Schwanz eines Tigers, wenn Du es dennoch getan hast, lasse ihn nicht mehr los, so charakterisiert dies die Situation von Populisten nicht unzutreffend. Um im Sattel zu bleiben, muss der einmal begonnene Höllenritt fortgesetzt und beschleunigt werden.

  1. Der erste Lock Down im Frühjahr mochte aus Gründen der Vorsicht durchaus seine Berechtigung haben. Spätestens mit der Einkaufswagenverordenung hatte dieser seine Unschuld verloren, und war abzusehen, dass sich das Geschäft mit der Angst vor dem Virus zu verselbständigen begann. Langsam sickerte der Unfug breiter durch und mit der Lockerung der Angstschraube nach dem Ende des ersten Lock Down kroch das Bedürfnis nach „Rebellion“ aus dem Unterbewußtsein manchen kleinen Mannes und mancher kleinen Frau, befeuert von immer hörbarerer Kritik an den Maßnahmen, ob diese berechtigt war oder nicht. Der repressive Charakter des Vorgehens der Regierung fand vor dem Verfassungsgerichtshof nicht immer Gnade, selbst die Opposition, die unter der Herrschaft der Seuchenangst jeden Unsinn mitgetragen hatte, erinnerte sich wieder ihrer Rolle, wenn auch nur um die Regierung rechts zu überholen, etwa mit Slogans wie Contact tracing statt Lock Down, usw. Was blieb der Regierung also übrig, um wieder Ruhe im Kasernenhof herzustellen, als eine neue Welle der Angst loszulassen? Hätte sie etwa die sorgsam unter der Pandemie begrabene Wirtschaftskrise exhumieren und auf die Tagesordnung setzen sollen? Natürlich ist es der Techniker der Macht im Kanzleramt, der das am Besten versteht, und keine Skrupel kennt, wo andere die Fassade des „Zeitalters der Vernunft“ wenigstens als dessen Sonntagsfratze noch stehen lassen wollen, auch wenn der GehirnLock-Down deren Geschäftsgrundlage nicht weniger ist.
  2. Wenn die Angstschraube nach diesem Lock Down gelockert werden wird müssen, wird man sich einer nachvollziehbaren Begründung für die Regierungsmaßnahme noch weniger erinnern können als beim ersten Mal, und um so schneller wird die populistische Meute zum Schluss kommen, dass sie wieder einmal veräppelt wurde — und nach Blut lechzen. Darauf können die Jockeys in dem populistischen Hase-und-Igel-Rennen nur mit einer Extraration an Sündeböcken, vielleicht ergänzt um das neue Model des Überträgers, oder/und eine neue Angstkur für die Bevölkerung reagieren. Ist der Gehirn-Lock-Down erst einmal installiert, beginnt sich eine Spirale aus Angst und Aggression zu drehen, nach der eine Regierung leicht süchtig werden kann.
Peter Oberdammer Wien, 17.11.2020

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