ZOOM 3/1997
Juni
1997

friedhof

gezeichnet von ilse, ohne datum, vermutlich in der dritten volksschulklasse

hier ist alles drauf, was zur friedhofsstimmung, etwa zu allerheili­gen, gehört: fallende blätter, grabsteine, friedhofsbesucherInnen, die die hände falten (die dritte von links in einigermaßen bizarrem gestus). lichter und kränze werden zu gräbem gebracht (etwa zum grab des hermann löscher, zweite grabstelle von rechts), ansonsten stehen menschen in streifen, rauten und zickzackgemusterter kleidung und meist weit ausgebreiteten armen etwas ratlos herum.

das grab ganz links ist das grab meiner großeltern, fritz und anna. der ältere bruder meines vaters, der, nach dem vater ebenfalls fritz benannt worden war, liegt auch drin, nicht überlegt hatte ich mir, daß die sterbedaten der beiden fritzen in umgekehrter rei­henfolge zur erfolgten steingravur gereiht sind: der zuerst verstorbene fritz ist unter den zuletzt verstorbenen graviert, die daten des zuletzt verstorbenen fritz, meines onkels, sind vermutlich „rich­tig“, d. h., sie stimmen mit der realität überein, wäre es nicht an­gebracht gewesen, meinen vater vor das grab seiner eltern und sei­nes älteren bruders zu stellen?

die den friedhof besuchenden sind in überwiegender mehrzahl frauen: nur vor dem grab des hermann löscher steht vermutlich ein mann, erkennbar durch lange hosen, eine ohrfreie haartracht und ungemustert einfärbig graue kleidung, was mir als kind ver­mutlich kennzeichen genug war. der mann steht in seltsam schrä­gem Verhältnis zu der neben ihm stehenden frau, die überdies kei­nem grab eindeutig zugeordnet werden kann.

laut grabsteingravur wurde übrigens hermann löscher 158 jah­re alt, was vermutlich auf eine rechenschwäche meinerseits zurückzuführen ist. überhaupt ist bei den geburts- und sterbeda­ten einigermaßen heftig radiert worden, so scheint sich bei ottilie meindel das sterbedatum mehrmals geändert zu haben.

bei längerem bemühen will mir eine erinnerung heraufdämmern an das rechnen mit geburts- und sterbedaten, an die bemühung um grabsprüche, von denen dann doch nur das legen­däre ruhe(t) gut oder in frieden aufs zeichenblatt gebannt wurde, durch die gezeichnete „friedhofsimpression“ erscheint plötzlich das kopfrechnende schulkind und seine schwierigkeit beim er­rechnen eines menschenmöglichen, für das kind dennoch kaum vorstellbaren lebensalters. dazwischen das nachspitzen des immer wieder stumpfwerdenden bleistifts und zwischen dem ausradie­ren falscher, also unpassender bleistiftstriche die worte der lehrerin: drück doch nicht so fest auf.

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