Grundrisse, Nummer 47
Mai
2013

Frauen- und Tierrechtsbewegung

Eine doppelt verschwiegene Geschichte

Die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, die Natur zu unterjochen, ist auch die Geschichte der Unterjochung des Menschen unter den Menschen.

Max Horkheimer

Auf den versteckt liegenden Pfaden des Londoner Battersea Parks kann man einem kleinen Stück einer doppelt verschwiegenen Geschichte nachspüren: Kaum auffindbar, am Rand eines Weges nahe des Old English Garden, steht die Statue eines Hundes auf einem Sockel mit Inschriften, die besagen, dass das unauffällige Denkmal 1985 von der British Union for the Abolition of Vivisection und der National Anti-Vivisection Society gestiftet worden ist – um ein im Jahr 1910 von prominenterer Stelle im Park entferntes Denkmal zu ersetzen, und um an die Ereignisse zu erinnern, die sich damals an ihm entfacht hatten.

„Die Sorge ums vernunftlose Tier aber ist dem Vernünftigen müßig. Die westliche Zivilisation hat sie den Frauen überlassen“, heißt es in der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die britische Tierrechtsbewegung ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der feministischen Bewegung derart überlagert, dass die Medizinstudenten des University College, die ab 1906 gegen die Aufstellung des Denkmals protestieren, Antivivisektions- und Frauenwahlrechtsbewegung gleichsetzen: Sie stören zahlreiche Veranstaltungen letzterer, um gegen erstere vorzugehen. Das Denkmal eines Hundes, das symbolisch für die Opfer der Vivisektion errichtet wird, wird schnell zum Ausgangspunkt für die heftigsten und militantesten Auseinandersetzungen, welche die britische Tierrechtsbewegung bis zu diesem Zeitpunkt geführt hat. Die Medizinstudenten versuchen immer wieder, das Denkmal zu zerstören, stoßen dabei aber auf den vehementen Widerstand der Vivisektionsgegner sowie der Bevölkerung des ArbeiterInnenviertels, die in dem Hund offenbar ein Symbol für ihre eigene Unterdrückung sieht. Über Jahre hinweg wird der Konflikt, bekannt als Brown Dog Riots, ausgetragen. Ort der Auseinandersetzungen ist sowohl Battersea als auch das Londoner Zentrum, wo auf dem Trafalgar Square Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmenden stattfinden. Unter dem Druck der Kontroverse wird die Statue 1910 von einem neuen Bezirksrat geheim entfernt.

Für Teile der Frauenbewegung sind Feminismus und Aktivismus gegen die Vivisektion Teile desselben Kampfes gegen Unterdrückung. „Nichts könnte mich dazu bringen, ein Huhn zu essen oder die grausame Behandlung unschuldiger Tiere um ihres Pelzes willen stillschweigend zu dulden. Es läuft mir entsetzlich kalt über den Rücken, wenn ich auf einer Versammlung zum Wahlrecht für Frauen sehe, wie Frauen grässliche Trophäen von Schlachtopfern mit sich herumtragen“, so eine Wortmeldung bei der Versammlung der National American Woman Suffrage Association im Jahr 1907. In der späteren Literatur über die Suffragettenbewegung findet sich das Zitat kaum noch irgendwo. Die US-Amerikanerin Carol J. Adams, die in ihrem Buch The Sexual Politics of Meat: A Feminist-Vegetarian Critical Theory den Hinweisen auf eine feministisch-vegetarische Theorietradition in der westlichen Moderne nachgegangen ist, spricht von einer doppelt verschwiegenen Geschichte: „Die Allianz von Frauen und Vegetarismus in der Geschichte und in der Literatur wurde verzerrt und das aufschlussreiche Netzwerk von Feministinnen und VegetarierInnen daher überhaupt nie dargestellt. Teile der Theorien von vegetarischen Feministinnen wurden verschwiegen. Wir haben es also mit einer doppelt verschwiegenen Geschichte zu tun: der verschwiegenen Geschichte von Frauen und der verfälschten Geschichte des Tierrechtsaktivismus.“

Der Begriff Suffragetten bezeichnet zu Anfang des 20. Jahrhunderts jene Frauenrechtlerinnen in Großbritannien und den USA, die mit verschiedenen Methoden für das Frauenwahlrecht kämpfen. In ihrer militanten Erscheinungsform übernimmt die Frauenwahlrechtsbewegung in diesen Jahren Methoden, die den Protestformen der radikalen Arbeitertradition entliehen sind und auf die sich wiederum die Tierrechtsbewegung bezieht. Dass die Übernahme direkter Aktionen, der sich die Suffragetten bedienen, aufgrund personeller Überschneidungen beider Bewegungen und ähnlichem Sympathisantenklientel auch unmittelbar auf die Tierrechtsbewegung übergeht, darauf hat im deutschsprachigen Raum in erster Linie die Historikerin Mieke Roscher aufmerksam gemacht. Sie berichtet über die erklärte Absicht der militanten Suffragetten, niemals Menschen oder Tiere zu gefährden – aber, so Emmeline Pankhurst (1858–1928), Mitglied der Independent Labour Party und Mitbegründerin der Women’s Social and Political Union (WSPU), im Jahr 1913: „Wenn es dafür notwendig ist, um das Wahlrecht zu erhalten, werden wir soviel Schaden an Eigentum anrichten, wie wir können.“ Die Maßnahmen reichen von der Durchführung von Demonstrationen und der Störung von Parlamentssitzungen über Streikposten, Ankettungen und Angriffe auf Regierungsmitglieder bis hin zur Zerstörung von Fensterscheiben, Briefkästen und Briefsendungen, dem Einsatz von Brandbomben und der Brandstiftung an Häusern, Bahnhöfen und Schlössern. Des Weiteren verweigern sich einige der Zahlung von Steuern. „Es gibt etwas, um das sich Regierungen viel mehr Sorgen machen, als um menschliches Leben, und das ist die Sicherheit des Eigentums. Und so ist es durch das Eigentum, dass wir den Feind bekämpfen werden. Seid militant, jede auf ihre Art“, lässt Pankhurst verlautbaren, und weiter: „Das Argument der zerbrochenen Fensterscheibe ist das wertvollste Argument moderner Politik.“ Ab 1912 ist die WSPU praktisch eine illegale Organisation, ihre Anführerinnen befinden sich entweder im Gefängnis oder im Exil in Paris, von wo aus sie die Leitung aus dem Untergrund weiterführen.

Emily Wilding Davison (1872–1913), eine der militantesten Suffragetten, ist der Meinung, dass Tierrechte die logische Erweiterung feministischer Forderungen sein müssen. Sie initiiert zahlreiche Brandanschläge und bekennt sich außerdem zum Anschlag auf das Privathaus des Premierministers Lloyd George im Jahr 1913. Zur Märtyrerin der Frauenwahlrechtsbewegung wird sie, als sie noch im selben Jahr beim Derby vor das Pferd des Königs läuft und an den Folgen ihrer Verletzungen stirbt. Zu ihrem Freundeskreis zählen andere Suffragetten, die ihr Tierrechtsinteresse teilen, etwa ihre spätere Biografin Gertrude Baillie Weaver (1857–1926). Sie und ihr Ehemann Harold, aktives Mitglied der Men’s League for Women Suffrage, gründen gemeinsam das National Council for Animals’ Welfare Work. Für Harold Baillie Weaver ist Tierausbeutung die „abscheulichste Form der Ausbeutung der Schwachen durch die Starken“.

Die Sozialistin und spätere Sinn-Féin-Aktivistin Charlotte Despard (1844–1939) fungiert zunächst als führendes Mitglied der WSPU und ist 1907 Mitbegründerin der Women’s Freedom League. „Vegetarismus war für sie Grundlage für soziale Veränderung, der Freiheit von Mensch und Tier“, merkt Mieke Roscher in ihrer umfassenden Untersuchung zur Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung zu ihr an. Im Jahr 1906 begleitet Despard die Enthüllung des Brown-Dog-Denkmals in Battersea. Heute noch ist in dem Londoner Stadtteil eine Straße nach ihr benannt. Ihr Engagement für Tiere aber wird meist verschwiegen.

Die Solidarität mit Tieren als ebenfalls Ausgebeutete und Unterdrückte wird noch heute nicht nur nicht ernst genommen, sondern gilt gar, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt, als Abfall von der Kultur: Aufs Tier zu achten wird als Verrat am Fortschritt angesehen. Das Mensch-Natur- und Mensch-Tier-Verhältnis der westlichen Kultur, das im Zuge der Europäisierung der Erde hegemonial geworden ist, ist ein in seinem Ursprung patriarchales und ist durch und durch von Herrschaft geprägt; der Kulturprozess zeichnet sich geradezu dadurch aus, sich die Natur mehr und mehr anzueignen, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. In die Sphäre des Natürlichen, die es zu beherrschen gilt, fallen nicht nur die Tiere, sondern traditionell auch der zu unterjochende Fremde und die zu beherrschende Frau. Diese wurde, so Horkheimer und Adorno, „zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt.“ Unter der bürgerlichen Herrschaft habe die Frau zwar „für die ganze ausgebeutete Natur die Aufnahme in die Welt der Herrschaft“ erreicht, „aber als gebrochene.“

Eine Bewegung zur Überwindung der bürgerlichen Herrschaft, welche eine emanzipierte Gesellschaft zur Folge hätte, müsste in der Lage sein, auch diesen Bruch und seine Ursachen zu überwinden – sie muss, will sie nicht wieder und wieder Herrschaft reproduzieren, die unterdrückte Natur als Verbündete im Kampf gegen die ausbeuterischen Gesellschaften erkennen. Wenn sie kein anderes Verhältnis zur unterdrückten Natur und zu den Tieren entwickeln, können die menschlichen Emanzipationsbewegungen nicht zum Erfolg führen. Dies wird deutlich, wenn man eine historische Perspektive einnimmt und sieht, dass die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, über die Natur und die Tiere zu herrschen, auch die Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen ist. Herbert Marcuse sprach deshalb im Kapitel Natur und Revolution in Konterrevolution und Revolte (1972) von der „Befreiung der Natur als Mittel der Befreiung des Menschen“. Dass „die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen“, waren für ihn die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft.

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