FORVM, No. 93
September
1961

Frankreichs Ein-Mann-Dynastie

Die satirische Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“, in ihrer politischen Polemik meist in recht veralteten Humorklischees erstarrt, hat eine ständige Rubrik eingeführt, die mit Recht viel gelesen wird. Sie nennt sich „Neuigkeiten vom Hof“ und ist im Stil eines Chronisten vom Hofe Ludwigs XIV. geschrieben. So werden wir über den Krieg in den „Barbaresquen“ unterrichtet, über die Streitigkeiten zwischen dem Souverän und Monsieur de Tunis, über die Treulosigkeit von Lehensmännern und über Jacquerien in den fernen Provinzen. Gerade in ihrer anachronistischen Art passen diese Berichte sehr gut zum Zeremoniell einer Staatsspitze, die auch ihrerseits anachronistische Züge trägt. Die Sprache des Herzogs von Saint Simon ist den Ereignissen besser angemessen als die gescheiten Betrachtungen, Spekulationen und Analysen der „ernsthaften“ Presse, die so oft unaktuell und beziehungslos wirken.

„Monsieur de Tunis“

Monsieur de Tunis ... In der Tat ist der Disput zwischen de Gaulle, der schon durch seinen Namen zum Herrscher Galliens prädestiniert schien und als solcher in seinem königlichen Legitimitätsbewußtsein eine Ein-Mann-Dynastie darstellt, und Habib Burgiba, dem „vordersten Kombattanten“ und ersten Widerstandskämpfer Tunesiens, eher durch persönliche Faktoren zu erklären als durch irgendwelche Interessengegensätze und Stimmungswandlungen zwischen den beiden Völkern, die von ihren Staatsführern so restlos verkörpert werden. Habib Burgiba war ein guter Freund des Westens und zugleich ein eifersüchtig über das volle Maß der Souveränität seines Landes wachender Nationalist, bestrebt, die Schwäche seines Staates durch das Gewicht seiner Persönlichkeit auszugleichen, und desto mehr persönlicher Prestigeerfolge bedürftig. Paßt dieses Signalement, in entsprechend vergrößerter Projektion, nicht auch auf den Präsidenten der Fünften Republik? Aber während Frankreichs Verbündete unablässig darauf bedacht sind, das Prestige des großen Franzosen zu stärken und auf seine Eigenarten und Empfindlichkeiten äußerste Rücksicht nehmen — „General de Gaulle hat Kennedy wie einen Ebenbürtigen empfangen“, schrieb die „New York Times“ nach dem Präsidentenbesuch in Paris —, berücksichtigt der Lenker der französischen Politik weder die Eigenarten des tunesischen Staatschefs noch dessen Bedürfnis nach sichtbarem Erfolg eines von allen Arabern und den meisten Afrikanern mißbilligten Engagements für den Westen. Er fühlte die ihm angeborene Form von Legitimität derjenigen des Königs von Marokko verwandter als der eines rede- und schreibseligen Agitators und Volkstribunen, der — auf autokratisch und auf begabt — zu viel vom Habitus eines Politikers der Vierten Republik bewahrte.

Immerhin hatte General de Gaulle, dessen Steigbügelhalter im Mai 1958 gegenüber Burgiba höchst unfreundliche Absichten hatten, bessere Beziehungen zu ihm hergestellt, als das die letzten Ministerpräsidenten der Vierten Republik zu tun gewagt hatten. In der Vierten Republik ist ein von untergeordneter militärischer Instanz beschlossener Bombenangriff auf ein tunesisches Dorf von der politischen Führung nicht getadelt worden; unter de Gaulle hat es keine solchen Übergriffe mehr gegeben. Burgiba, mit seinem Instinkt für starke und geschichtsträchtige Persönlichkeiten, hatte stets an die Rückkehr de Gaulles geglaubt und ihm während seines inneren Exils manche Höflichkeit erwiesen. Er war auch überzeugt, daß nicht eine schwache Republik, sondern nur ein starker Führer mit den algerischen Rebellen Frieden schließen würde. Jedoch ist der von Burgiba seit drei Jahren erwartete persönliche Kontakt, als er endlich in Form eines Staatsbesuches in Rambouillet stattfand, nicht glücklich gewesen. Mußte es aber deswegen zum Blutbad von Bizerta kommen? Die französische Stellung in dieser Flottenbasis ist vom tunesischen Volk, und selbst von der Staatspartei, nicht als Provokation empfunden worden. Der immerhin gegen die französische Armee kämpfenden FLN ein unangreifbares Quartier und Hinterland zu bieten und zugleich den Franzosen eine Garnison zu lassen — das ergab ein für den tunesischen Nationalstolz noch tragbares Gleichgewicht. Aber im Augenblick, da Burgiba erwarten mußte, daß die Algerier als sehr viel gewichtigere Partner Frankreichs ihn abseits zu stellen drohten und überdies das gesamte Erbe der französischen Sahara beanspruchten, empfand er das Bedürfnis, seine verschlechterte Beziehung zur nordafrikanischen Großmacht von morgen, die sich in einer Provinz Tunesiens bereits selbstherrlich gebärdet, durch eine eklatant anti-imperialistische Haltung auszugleichen, um in diesem Interessenstreit nicht auch noch als Kollaborateur einer Kolonialmacht und damit vor allen Afro-Asiaten in völliger Isolierung dazustehen.

Unbelohnte Eleganz

Da kam Bizerta gelegen, obgleich die französische Hilfe für Wirtschaft und Erziehung beim Aufbau eines modernen Tunesiens so lebenswichtig ist. Denn über die französische Anwesenheit in Bizerta gibt es keine vertragliche Regelung, sondern nur das vage Abkommen, daß man über diesen Punkt irgendeinmal verhandeln werde. Burgiba brauchte Erfolg und mochte auf General de Gaulles Verständnis bauen. Schließlich hatte er zweimal die von ihm angefachten Volksdemonstrationen in Bizerta wieder abgeblasen, um dem von den eigenen Superpatrioten und Putschisten bedrohten de Gaulle nicht in den Rücken zu fallen. Er durfte hoffen, daß diese elegante Haltung nicht unbelohnt bleiben werde. Sein beweglicher und erfindungsreicher Geist hatte für die Zukunft Bizertas eine Fülle von Plänen ersonnen, gelegentlich allerdings in Form von Interviews an Pariser Oppositionsblätter, was nun „bei Hof“ nicht eben gefallen konnte. Er hatte einmal Bizerta angeboten, als Preis für einen Friedensschluß in Algerien, und damit bewiesen, daß er sich zutraute, die nationalistischen Aufwallungen des eigenen Volkes zu bändigen. Er hatte vorgeschlagen, daß die französische Stellung durch tunesische Truppen bewacht würde — ein Vorschlag, den die Kameradschaft zwischen den französischen und den in St. Cyr ausgebildeten tunesischen Offizieren sinnvoll machte. Zuletzt noch schlug er de Gaulle vor, die französischen Offiziere sollten in Zivilkleidung statt in Uniform ihre Funktionen in Bizerta als dem Horchposten des Miittelmeers durchführen, weil auch zwischen Frankreich und Marokko eine entsprechende Abmachung existierte. Der verantwortliche Offizier am Ort, Admiral Aman, war allen glaubwürdigen Berichten zufolge bereit, Konzessionen dieser Art zu befürworten. Und es war General de Gaulle persönlich, der alle Vorschläge ablehnte, weil sie mit Demonstrationen, also mit einem unzulässigen Druck auf Frankreich, verbunden waren. Da gleichzeitig französische Minister mit algerischen Rebellenführern verhandelten, ohne daß die „Dolche“ in der Garderobe abgegeben wurden, d.h. ohne daß die Fellaghas auf den Terrorismus verzichteten, war es nicht recht verständlich, warum gerade Burgiba für seine schlechten Manieren bestraft werden sollte. Und so kam es zu jener Krise, mit der die Internationalisierung der nordafrikanischen Frage begonnen hat, so kam es zu einem Blutbad, an dem weder Admiral Aman persönlich noch auch die Fallschirmtruppen besondere Schuld trugen. In den vergangenen Tagen haben eben diese Truppen gegenüber Steinwürfen und Herausforderungen aller Art eiserne Disziplin bewahrt und keinen einzigen Schuß abgefeuert — was bei Soldaten des „Kontingents“ nicht möglich gewesen wäre.

Garnison gehalten ...

Der Londoner „Observer“ schrieb: „Der Westen hat eine Garnison gehalten und eine Nation verloren.“ Und es soll Burgibas sprunghaftes und maßloses Vorgehen nicht entschuldigen, wenn festgestellt wird, daß es keine Meisterleistung der französischen Diplomatie war, den besten Freund unter den souveränen afrikanischen Staatsführern zu diesem Bruch zu treiben, und daß in diesem Fall die Psychologie der beiden führenden Persönlichkeiten mehr bedeutet hat als alle objektiven Umstände.

Zu den entscheidenden Fehlern de Gaulles gehörte die Verkennung des psychologischen Faktors im Verkehr mit einem ebenso schwierigen Herrn. Hiezu gehörte auch die offen zur Schau getragene Verachtung gegenüber den Vereinten Nationen, deren schließlich recht erfolgreiche Kongo-Aktion Frankreich ausschließlich boykottiert und mißbilligt hat. Im gegenwärtigen Streit mit Tunesien hat de Gaulle eine Politik der Abwesenheit beschlossen, welche die unter Frankreichs Patenschaft zu Mitgliedern gewordenen afrikanischen Staaten in Verlegenheit setzt.

Niemand wird bestreiten wollen, daß General de Gaulle ein großer Mann ist. Er hat immerhin schon zwei Putsche von jener Art überstanden, deren einer genügt hatte, um die Vierte Republik zu stürzen. Er hat vor Generälen so wenig Respekt wie vor Politikern und ist in dieser Hinsicht der erste echte Nachfahre Clemenceaus. Aber in Frankreichs doppelter Krise — des Rückzugs aus den kolonialen Positionen und der Schwäche der politischen Einrichtungen — hat er in drei Jahren keine Lösung erreicht, die Endgültigkeit beanspruchen könnte. Heute tragen die FLN-Terroristen und die französischen Plastiqueure ihren Streit schon direkt aus, wobei jeder zugleich noch die Verräter im eigenen Lager terrorisiert und die französische Regierung über Pläne von Teilung und Räumung berät. Die Chance, die bei der ersten Begegnung mit den FLN-Emissären, jener von Melun, noch durchaus vorhanden war, ist damals vertan worden, weil Frankreich rätselhafterweise mit einer Kapitulation rechnete statt mit einer Vorverhandlung. In einem Jahr ist der weite Spielraum auf ein Mindestmaß geschrumpft. Die Gefahr besteht, daß die Beendigung dieses Krieges Algerien, in Umkehrung des Planes von Constantine, als mindestens politisch „verbrannte Erde“ hinterläßt, während Hunderttausende Europäer ressentimentgeladen in das ihnen fremde Mutterland strömen. Was als ein Triumph der Einsicht erscheinen konnte, wird sich jetzt als ein Verlust aller Aussichten vollziehen.

Gewiß bleibt Frankreich „in seinen Tiefen ruhig und unerschüttert“, wie General de Gaulle in Lothringen, einige Tage nach den massiven Bauerndemonstrationen auf allen Straßen, erklärt hatte. Aber das kann nicht darüber täuschen, daß Frankreich hinter der Kulisse eines Regnums — denn solange de Gaulle da ist, wird er auch volkstümlich sein, und solange er ein Mikrophon in Reichweite hat, braucht er keine Meuterer zu fürchten — in einem Interregnum lebt: weder präsidentielle noch parlamentarische Republik, sondern ein Staat, der die selbstgewollten Einrichtungen und Verfassungsregeln schon beiseite geschoben hat, eine milde Autokratie, die vor dem organisierten Druck starker Interessengruppen zurückweicht und mit ihren Technokraten und großen „Commis“ die Fühlung mit den Interessen und Notwendigkeiten so weit verloren hat, daß nur die allerlautesten Proteste eben noch gehört werden, was auf alle Formen von „Aktivismus“ eine Prämie setzt. Die alten Parteien sind Schattengebilde geblieben; christliche Jungbauernverbindungen, Studentenorganisationen, Kolloquien und dergleichen ersetzen das sonst übliche politische Leben. Es fragt sich nur, ob diese in Paris und anderwärts allnächtlich durch Dutzende von Bombenexplosionen durchbrochene „Ruhe“ eine restaurative Kraft hat, oder ob sie nicht einer lähmenden Indifferenz gleichkommt, von der sich der extreme Aktivismus auf die Dauer nicht bremsen lassen wird.

... Nation verloren

General de Gaulle will durch keine dazwischengeschobenen Körperschaften — ob Parlamentarier, ob Syndikalisten — den unmittelbaren Kontakt zwischen seiner Person und den breiten Massen gestört haben. Das Ergebnis ist, daß sich um die Staatsspitze ein Leerraum entwickelt hat. Nicht nur im internationalen Gremium, auch gegenüber den lebendigen Kräften des französischen Volkskörpers wird eine Politik der Abwesenheit betrieben. Nicht einmal durch Botschaften an das Parlament oder durch Pressekonferenzen, etwa nach dem Vorbild des amerikanischen Präsidenten, wird die Kommunikation aufrecht erhalten. Auch das Unglück von Bizerta hatte mit einem Mangel an Kommunikation zu tun und mit dem Gefühl, man müsse sehr kräftig agitieren und sehr laut schreien, um sich bemerkbar zu machen. Die Gefahr eines krisenhaften Zusammenstoßes ist unter solchen Umständen nicht die einzige. Auch die gar zu große Nachgiebigkeit, wenn einmal eine Botschaft durchgekommen ist, birgt ihre Gefahren. Die Bauern haben, indem sie die sommerlich viel befahrenen Straßen mit ihren Traktoren sperrten und öffentliche Gebäude besetzten, Subsidien erreicht, die den Staat zwei Milliarden Neue Francs und auf absehbare Zeit noch viel mehr kosten, ohne dabei den Unzufriedenen Genüge zu tun und die Verbindung der Landwirtschaft mit einem rationelleren Binnen- und Außenhandel genügend zu fördern.

De Gaulles Voraussicht und seine Fähigkeit, Unruhen rechtzeitig aufzufangen, ist Geschichte; aber der Vorteil, den eine „technokratische“ gegenüber einer parlamentarischen Regierung bieten konnte — nämlich gegenüber bestimmten mächtigen und kleinlichen Sonderinteressen eine allgemeine Konzeption der Entwicklung durchzusetzen — ist nicht wahrgenommen worden. Gewiß ist dieser politische Leerraum nicht ausschließlich eine Schuld des Generals de Gaulle, sondern Teil einer Krise, durch welche de Gaulles Rückkehr an die Macht überhaupt erst möglich wurde. Es bleibt aber rätselhaft und mit „objektiven“ Gründen nicht durchaus zu erklären, warum ein Mann, der in jedem Augenblick der Bedrohtheit die überwältigende Zustimmung und Unterstützung der Gewerkschaften, der Parteien der Mitte und der Studenten findet, sobald wieder Ruhe herrscht, diese Unterstützung nicht mehr sucht, die ihm mehr Sicherheit gegeben hat als alle Sondervollmachten und Ausnahmeparagraphen, mit denen er die Illusion wachhält, als sei es der Staat, der das Volk vor den möglichen Putschisten rettete, während es doch offenbar das Volk war, das den Staat gerettet hat. Die besondere Beziehung zwischen Charles de Gaulle und den großen Massen ist genau jener Teil der Ordnung der Fünften Republik, den de Gaulle nicht als Erbe hinterlassen kann. Es ist seltsam, daß einem Mann, der zwei Republiken begründet hat und bei dem das durch die Jahrhunderte greifende Traditionsbewußtsein so stark ist, keine traditionsschaffende Begabung als Stifter eigen ist.

Allerdings wird ein so eigentümlicher und großer Mann, wie de Gaulle es ist, aus der jeweiligen Perspektive seiner Zeitgenossen (und gewiß auch der kommenden Historiker) überaus verschieden betrachtet und beurteilt werden. Selbst abgesehen von seiner historischen Rolle von 1940 mag er als der Mann erscheinen, der Frankreich vor dem Bürgerkrieg gerettet hat und der als einziger die Entkolonisierung und sogar den Verlust Algeriens auszusprechen und durchzuführen imstande war. Vielleicht auch als der Mann, dessen „Nein“ zu den russischen Erpressungen in Berlin dem Westen helfen wird, Position und Gesicht zu wahren. Das alles mag sein; aber in der unmittelbaren französischen Perspektive von jetzt und hier erscheint Charles de Gaulle doch vor allem als der Mann, der die Beziehung zwischen Staat und Volk zu seiner exklusiven und persönlichen Sache gemacht hat und der damit mehr auf sich genommen und an sich gezogen hat, als für die kommenden politischen Prüfungen und für das künftige Verhältnis zwischen diesem Staat und dem französischen Volk erforderlich und gut war.

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