FORVM, No. 90
Juni
1961

Erinnerung an Karl Kraus

Vor fünfundzwanzig Jahren schlossen sich seine Augen. Sie sind mir unvergeßlich geblieben.

Niemals, bei keinem Künstler unserer Zeit, habe ich solche Augen je wieder gesehen. Hörer seiner Vorlesungen wissen, wie diese Augen strahlen und sengen, erglühen und ermatten, lachen und trauern konnten, wie er sie im „Lear“ verlöschen und im „Hannele“ aufglimmen ließ. Aber in der privaten Sphäre, losgelöst von der Bühnendistanz, trat noch ein erregender Reiz hinzu. Es war ein Widerschein in seinem Spiegel, ein lichter Abgrund voll magnetischer Kraft, vor dem das gute Gewissen frei und beschwingt wurde, das schlechte unendlich bedrückter. Bezaubernde Weichheit war in ihm und gespannteste Härte. Einmal — nur einmal in den dreizehn Jahren unserer Verbindung — habe ich, unbemerkt und zufällig, seine Augen im Zustand des Schaffens gesehen, den er sonst vor jedem Blick verbarg: die Lider weit aufgerissen, die gewaltigen blauen Äpfel starr in Tiefen schauend, kindlich und göttlich zugleich. So waren diese Augen: ein leuchtendes Unterpfand wahrhaftiger Natur.

Mag die Zeit nach Gefallen werten — unverlierbar bleibt die Erinnerung, miterlebt zu haben, welcher Entschlossenheit eine große Existenz fähig ist, um die Gebote der geistigen Ordnung und Menschlichkeit auch in ihrem privaten Bereich durchzusetzen. Siebenunddreißig Jahrgänge der „Fackel“, mehr als dreißig Bücher und viele hunderte Vorlesungen bildeten nur einen Teil seiner Arbeit. Umbrandet von der Hysterie der Liebe und des Hasses, die sich von seinem Lichte magisch angelockt fühlte, getrieben von dem Zwang, jedem Schicksal, das sich in sein persönliches Blickfeld gedrängt hatte, menschlich gerecht zu werden, fand er in seinem Arbeitstag, in seiner Arbeitsnacht keine Pause. Da mußten Zumutungen des Irrsinns abgewehrt, mußte gerechten Bitten entsprochen, mußte jener belehrt, dieser beraten werden. Aus einer Zeitungsnotiz sprang plötzlich ein Menschenschicksal, das die Vorstellungskraft nicht zur Ruhe kommen ließ bis zur endlichen Hilfe. Hunderte und wieder neue Hunderte wurden so bedacht, ohne daß sie wußten, von wem, auf Wegen, die den Ursprung der Gabe verbergen wollten oder ihr den Charakter eines Almosens nahmen. Diese Mildtätigkeit entsprach keinem Prinzip, keinem System, keiner Doktrin, sie war so selbstverständlich wie sein Schreiben oder Vorlesen, wie sein Lachen oder sein Zorn, wie sein ganzes Leben. Eben darin lag ja das Faszinierende der privaten Persönlichkeit Karl Kraus’: daß sich hier ein Schriftsteller keiner literarischen Norm eingliederte oder gar unterwarf. Die meisten anderen hatten sich für ihre private Existenz eine Konvention geschaffen oder schaffen lassen, gleichsam ein Gehäuse des Ruhms, eine Nomenklatur ihrer persönlichen Note, nach deren Geboten sie, Gefangene ihrer selbst, fortan leben mußten, als freiheitliche Dichter oder Olympier, als Bohêmiens oder geistliche Sänger, als verspätete Romantiker oder verfrühte Kollektivisten, kurz, in einer Fiktion, die sie bestenfalls in ihren Schriften durchhalten konnten, selten aber in ihrem privaten Leben. Bei Karl Kraus war kein Rest. Die Dreieinigkeit von Denken, Tun und Lassen blieb unzerstörbar bis zu seinem letzten Atemzug.

Es scheint mir heute, 25 Jahre nach seinem Ableben, allmählich richtiger und wichtiger, einiges Unbekannte über sein Leben und seine private Persönlichkeit zu sagen, als von seinem Werk zu sprechen — das ja für jeden, der lesen und wiederlesen kann, klar zu Tage liegt. „Kommentar zur Dichtung?“ sagte Alfred Polgar. „Geister werden nicht besser sichtbar, wenn man Licht macht.“ Dagegen und deshalb scheint mir die Glühbirne der Anekdote kein Sakrileg zu sein, gerade bei Karl Kraus nicht, für den mehr als für irgendeinen das Wort Kierkegaards gilt: „Wie, wenn alles in der Welt ein Mißverständnis wäre, wie, wenn Lachen eigentlich ein Weinen wäre?“

Das Lachen des Karl Kraus! Es war im Grunde die Heiterkeit eines belustigten Jungen, der in seinem Zeitungsmärchenbuch die drolligsten Dinge liest. Man hat dieses bezaubernde Privat-Lachen auch hin und wieder in Vorlesungen erlebt (etwa wenn’s nach einem Nestroy-Satz nicht gleich weiterging). Aber nie war es von so intimem Reiz, als wenn es nur einen einzigen Hörer hatte und dieser augurenhaft einbezogen wurde in die fröhliche Wissenschaft um die Dummheit der Welt. Oh die Nächte in Wien, Berlin und Prag, da uns über einen Kaffeehaustisch hinweg hellenische Heiterkeit anwehte! Kraus überfliegt ein Zeitungsblatt, bleibt an einer Stelle haften — seine Stirnader schwillt an — Zorn rötet sein Gesicht — aber schon löst sich der Unmut in Lachen auf, und in welch ein Lachen! Sein ganzer Körper schüttelt sich, es scheint als sollte er nie wieder zur Ruhe kommen — und jetzt lacht er sich wahrhaftig ins Fäustchen. Ein rasches Witzwort leuchtet auf, ein kleiner Kommentar wird hingeworfen, schon ist der Alltagsanlaß in die Sphäre des Geistes transponiert, schon zieht Kraus einen Bleistiftstummel aus der Tasche, notiert etwas an den Zeitungsrand, reißt das Blatt heraus, faltet es zusammen und steckt es in die Westentasche. Der ist besorgt und aufgehoben.

Im privaten Gespräch mit seinen Freunden und Verehrern war kaum je von seinem Werk die Rede. Sobald es gedruckt vorlag, konnte man meinen, Kraus habe es vergessen. Das war keinerlei Pose, sondern entsprang der unablässigen, ihn in jeder Minute weitertreibenden Beschäftigung mit neuen Arbeiten und Sprachproblemen. Aus dem gleichen Gefühl der konkreten Mission — vielleicht auch aus einer leichten Angst, die abstrakte Behandlung könnte der Ursprünglichkeit schaden — war er jeder theoretischen Untersuchung über sein Werk abgeneigt. Einmal fragte ich ihn, woher eigentlich die außerordentlich komische Wirkung käme, die von einer bestimmten Stelle der „Fackel“ ausgegangen war — einer Satire, betitelt „Die Sudeten“. Dort hieß es: „Was speziell die beiden Watzlik anlangt, so sollen sie in direkter Linie von Tuisco abstammen. Die Watzliks sind ein altes Bardengeschlecht, und die Ahnen sollen bereits in der Hermannsschlacht enthoben gewesen sein. Der Name tut nichts zur Sache. Je mehr man ihn zu beugen versucht — es gibt auch die Formen Watzlawik und Watzlawitschek —: immer kommt ein Teutone heraus.“ Kraus mußte selbst ein wenig lachen und sagte dann: „Vielleicht kommt der Witz daher, daß eine möglichst lange pathetische Prämisse auf dem Höhepunkt — hoch oben im Teutoburger Wald — plötzlich in das banale, enthüllende Wort ‚enthoben‘ abrutscht.“ Und nach einer Sekunde Pause: „Aber vielleicht fragen Sie darüber besser doch bei Bergson an.“

Was Karl Kraus von seinem Gesprächspartner wollte, der zu Besuch kam, war völlige Entspannung, Heiterkeit und Spiel. Je spitzbübischer und grotesker dieser Humor sein konnte, um so willkommener war es dem für ein paar Stunden von der Arbeit Erlösten. Ich entsinne mich, daß wir, wenn ich ihn in Wien besuchte, oft bis 3 oder 4 Uhr morgens uns im Café Attaché oder im Café Parsival an einem Spiel vergnügten, das „Zitate-Erraten“ hieß. Aber nicht der hatte gewonnen, der sagen konnte, in welchem Werk dieses oder jenes Zitat vorkam; die meisten Punkte erhielt man, wenn man es nicht wußte, hingegen die Atmosphäre einer Dichtung erriet, in der es hätte stehen können. „Wo steht: ‚Ja ich bin’s, du Unglückselige, bin’s, den jene Wälder kennen, bin’s, den Räuber Bruder nennen!‘“ Nach einigem Nachdenken sagte ich: „Vielleicht im ‚Sohn der Wildnis‘ von Halm?“ — „Sie haben gewonnen“, erwiderte Kraus. „Es ist aus der ‚Ahnfrau‘.“

Als sein Kampf gegen Alfred Kerr den Höhepunkt erreichte, kam Karl Kraus für einige Wochen nach Berlin. Man hätte annehmen sollen, daß Kraus gerade damals in höchster Spannung leben müsse, seine Schrift „Der größte Schuft im ganzen Land“ war bereits publiziert, und Kerr hatte eine Gegenschrift angekündigt, deren Erscheinen sich immer länger hinauszögerte (sie ist nie erschienen). Und jeden Mittag, eine ganze Woche hindurch, stand Kraus nach unserer gemeinsamen Mahlzeit bei Kempinski auf, legte den Finger bedeutungsvoll auf die Lippen, flüsterte fröhlich: „Aber Ehrenwort, nicht verraten!“ — und dann ging er mit mir zur Telephonzelle, um Alfred Kerr anzurufen. Einmal im Tonfall eines Rechtsanwalts vom Kurfürstendamm: „,Na hören Se mal, Herr Doktor Kerr, Sie sind doch die größte Nummer, die wir hier in Literatur haben — wann kommt denn nu endlich die Schrift gegen diesen Wiener Verleumder?!“ Und dann gab mir Kraus den Hörer in die Hand und ließ mich den wütenden Monolog genießen, der vom andern Ende der Leitung herüberklang. Am nächsten Tag rief Kraus als sächsischer Buchhandlungsgehilfe an, der sich auf der Durchreise befände: „Ich bin nämlich ein großer Verehrer von Ihnen, Herr Doktor, habe alle Jahrgänge des ‚Pan‘ gebunden — aber ich kann mir nicht erklären, warum Sie diesem Karl Krause nicht endlich den Garaus machen.“ Alfred Kerr hat nie erfahren, wer ihm damals diese ständigen telephonischen Aufmunterungen zukommen ließ.

Mit Karl Kraus am Kaffeehaustisch zu sitzen, war ein Vergnügen. Zu seinem Kreis zu gehören, war eine Ehre. Daß sie nur wenigen zuteil wurde, lag zunächst daran, daß sein Privatleben fast ausschließlich aus jenen zwei nächtlichen Kaffeehausstunden vor der Arbeit bestand (er schrieb dann die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen). Und in seinen späteren Lebensjahren kam noch hinzu, daß er durch schlechte Erfahrungen mit „Anhängern“ seinem eigenen Urteil in privaten Dingen mißtraute und Angst hatte vor der Nervenbelastung, sein Urteil öffentlich revidieren zu müssen. Denn so sonderbar es auf den ersten Blick scheinen mag: dieser große Negierer sah in einem jungen Schriftsteller vorerst nur das Positive, das die Natur ihm geschenkt hatte, sah — wenn auch auf einer andern Ebene als der seinen — die gleiche Einheit von Wort und Wesen. Kraus schloß vom Wort auf das Wesen, nicht umgekehrt. Der private Mensch mochte imstande sein, alle Rollen, selbst die der Echtheit, täuschend zu spielen; aber das Wort konnte nicht lügen. „Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt nichts der Sache“: das war die Erkenntnis, nach der er lebte und den andern beurteilte. So nahm er es nicht nur gleichgültig, sondern lachend hin, wenn wirkliche Dichter — wie Else Lasker-Schüler oder Peter Altenberg — ihn an einem Tag in die Höhe ihres Himmels hoben und am nächsten in den Abgrund ihrer Verdammnis stießen. Empfindlich und unerbittlich war er im Privaten wie in der Literatur nur dort, wo Talentlosigkeit, böser Wille oder Hysterie gegen ihn ihren scheinbaren Mann stellen wollten. Und wenn heutzutage der oder jener mit entehrenden (sich selbst entehrenden) Worten, die auszusprechen er zu Lebzeiten des Satirikers nie gewagt hat, dessen Privatleben zu verunglimpfen sucht, dann zeigt sich immer noch und immer wieder, wie richtig Kraus’ Kriterium von der Selbstenthüllung des Menschen durch die Sprache war. Gewiß, Satire ist grausam, und deshalb mag auch der Satiriker so erscheinen. Aber zu der ihm bisweilen imputierten Geisteshaltung „Nun sollen andere leiden!“ hat er selbst den Satz geschrieben: „Es ist einfach nicht wahr, daß dies mein Wunsch ist, und ich habe es mein Lebtag immer so lange vermieden, als es mit einem öffentlichen Interesse nur irgend vereinbar war.“

Wen nahm er nun in seinen privaten Kreis auf? Manche behaupteten: nur jene, die zu allem Ja und Amen sagten. Auch das stimmte nicht. Sehr gerne sah er Frauen an seinem Tisch, besonders wenn sie nichts mit Literatur zu tun hatten. Das waren Freundschaften, die jahrzehntelang bestanden: mit Helene Kann, mit Sidonie Nadherny, mit Mary Dobrzensky; doch auch mit der Schriftstellerin Gina Kaus, die ihn einmal „den größten Rattenfänger unseres Jahrhunderts“ nannte. Dichter, die wirklich welche waren, durften ungestraft jede persönliche Kritik an ihm üben, er sah ihnen vieles nach, solange mit ihrer geistigen und sittlichen Substanz noch alles in Ordnung schien, und er war glücklich, wenn sie — nach mancherlei Eskapaden ins andere Lager — durch ihr Werk und ihr Wort sein Urteil aufs neue bestätigten. Ich denke da vor allem an Berthold Viertel und Bert Brecht.

Karl Kraus hielt Viertel für einen der bedeutendsten österreichischen Lyriker und für einen großen Theatermann; dazu kam, daß Viertel im Privaten eine Gabe vollendeter Formulierungskunst besaß, einen Charme und eine Unbefangenheit, mit der er dem „strengen, unerbittlichen und gefährlichen“ Karl Kraus ohne jede Hemmung ins Wort fiel, wenn es ihm gerade paßte. Ich lernte, als Dramaturg der Berliner „Truppe“, Karl Kraus durch Viertel kennen. Nach den Proben zum „Traumstück“ gingen wir gewöhnlich ins „Café Riedl“, ein kleines Wiener Café in der Friedrichstraße. Ich hatte damals gerade einen Aufsatz über Viertels Karl-Kraus-Buch in Siegfried Jacobsohns „Weltbühne“ veröffentlicht, und Viertel, dem der Artikel gut gefiel, gab ihn Kraus im Café zu lesen.

Kraus las höflich die ersten Zeilen, dann schaute er auf und begann über die Probenarbeit zu seinem Stück zu sprechen.

„Lies, Karl!“ befahl Viertel.

Kraus las weiter. Aber schon nach wenigen Zeilen kam seine nächste Bemerkung: „Der Müthel müßte eigentlich in der Rolle des Dichters etwas mehr —“

„Lies!“ rief Viertel. „Der arme Fischer hier muß ja Pockerlfraß bekommen!“

Fasziniert versuchte Kraus abzulenken: „Pockerlfraß. Das kommt doch von ‚Freißen‘, die Freißen kriegen, nicht wahr, Berthold?“

„Keine Etymologie, Karl, jetzt wird gelesen!“

Kraus las meinen Artikel zu Ende und sagte dann: „Sie müssen entschuldigen, Herr Fischer, aber ich konnte schon das Buch von Berthold über mich nicht zu Ende lesen, weil es zu schwer für mich war. Und Ihr sicherlich großartiger Artikel scheint mir noch schwieriger zu sein.“

Soviel über den eitlen Karl Kraus — obwohl auch darin etwas von der augurenhaften, absichtlich durchschaubaren „Untertreibung“ lag, die ich die englische nennen möchte.

Als Viertel sich immer mehr mit allen möglichen Literatur-, Theater- und Filmunternehmungen in Wien, Berlin und Hollywood abgab, wurde Kraus immer bedrückter. „Er wird verkommen“, sagte er, „er wird verkommen. Ich habe ihm mein Stück ‚Wolkenkuckucksheim‘ im Druck gewidmet, er hat sich nicht einmal bedankt. Ich schicke ihm regelmäßig wie allen Freunden die ‚Fackel‘ — keine Zeile. Das macht ja alles nichts. Ich habe immer schon gewußt, daß er im Briefe-Beantworten noch schlampiger ist als Sie.“ (Ich blickte beschämt zu Boden.) „Aber es wäre doch grauenhaft, wenn er nicht mehr Gedichte schreiben und nur noch Dreck produzieren könnte! Wenn das geschieht, darf ich mit ihm nicht mehr verkehren.“

Etwa ein halbes Jahr später kam Kraus von einem kurzen Urlaub aus Paris nach München. Ich holte ihn am Flugplatz ab. Schon nach wenigen Minuten teilte er mir strahlend mit: „Ich habe Berthold in Paris getroffen. Er wohnt im Ritz-Hotel und ich habe ihn dort besucht — sein Badezimmer war größer als mein Pariser Hotelzimmer. Aber er hat in Hollywood Gedichte geschrieben, wunderbare Gedichte, eines davon über die kleinen Schuhe seiner Kinder. Ich werde Ihnen die Gedichte schicken, sobald sie abgeschrieben sind. Sie müssen sie lesen! Es ist alles in Ordnung mit Berthold. Selbst diese Filmhölle hat ihm nichts anhaben können!“

Ich weiß nicht genau, wann Karl Kraus zum erstenmal persönlich mit Brecht zusammentraf; ich glaube, es war 1928 bei den Proben zur „Dreigroschenoper“ in Ernst Aufrichts „Theater am Schiffbauerdammm“. Seine Beziehung zu Brecht war eine völlig andere als die zu Viertel — bei weitem nicht so herzlich. Er hatte Brecht vorher einige Male in der „Fackel“ auf Grund von Zeitungsäußerungen attackiert. Brecht hatte geschwiegen. Dann las er Brechts Gedichte und war von vielen Versen entzückt. Und dann, nachdem er ihn bei der Probenarbeit kennengelernt hatte, saßen wir fast jeden Abend mit einigen Freunden in einem Bierkeller in der Friedrichstraße zusammen. Kraus und Brecht verhielten sich zueinander wie zwei Jagdherren, die auf völlig verschiedenem Terrain jagen, aber einander bei jeder persönlichen Begegnung achtungsvoll grüßen. Später, als Brecht von Alfred Kerr eines Plagiats beschuldigt wurde, trat Kraus auch in der „Fackel“ für ihn ein. Damals schrieb er: „Im kleinen Finger der Hand, mit der er fünfundzwanzig Verse der Ammerschen Übersetzung von Villon genommen hat, ist dieser Brecht originaler als der Kerr, der ihm da hintergekommen ist, und hat für mein Gefühl mit allem, was ihn als Bekenner dem Piscatorwesen näher rückt als mir (ja was mir weltanschaulich zuwider ist als die Mischung von Nieder- und Aufreißertum, als eine betonte immoral sanity) mehr Beziehung zu den lebendigen Dingen der Lyrik und der Szene als das furchtbare Geschlecht des Tages, das sich nun an seine Sohlen geheftet hat.“

Brecht zeigte an jenen Abenden eine Art von ruhigem, sachlichem, oft bescheidenem Respekt. Nie gab es einen seiner gefürchteten Ausbrüche. Seltsam war die Art, wie er zu Kraus über dessen Werke sprach. Es wirkte oft, als sei von einer abwesenden Person die Rede; so etwa: „Sie lassen da, Herr Kraus, in Ihrem Stück ‚Die Unüberwindlichen‘ den Zeitungserpresser Barkassy den Satz sagen: ‚Stören Sie mich nicht, ich schreibe an einem Artikel, der nicht erscheinen soll, und zwar schon morgen!‘ Das halte ich für witziger als zehn deutsche Lustspiele!“

Kraus wiederum ließ es sich sehr angelegen sein, Brecht von den dichterischen Qualitäten Peter Altenbergs zu überzeugen. Brecht verharrte in eisiger Ablehnung: „Entschuldigen Sie, aber wenn ich den lese, da geht bei mir ein eiserner Vorhang herunter.“ Ich erinnere mich genau an diese Wendung, die später eine größere metaphorische und wirkliche Bedeutung erlangen sollte.

Dann versuchte es Kraus mit Offenbach. In der Kroll-Oper wurde „Perichole“ in der neuen Übersetzung von Kraus probiert. Kraus lud Brecht zur Generalprobe ein. Sie saßen nebeneinander. Brecht blickte angesichts der bezaubernden musikalischen und textlichen Grazie ostentativ unberührt auf die Bühne. Im zweiten Akt kam das Couplet mit dem berühmten Refrain: „Um Frauen, um Frauen alles sich dreht ...“ Da wandte sich Brecht mit einer leichten Kopfbewegung zu Kraus und murmelte zwischen den Zähnen: „Diese These bestreite ich!“ Kraus lachte hell auf und Brecht kicherte vergnügt mit.

Die Frage, ob Literatur oder Leben ihm wichtiger sei, bestand für Karl Kraus nicht — so entschieden lebte er für das Wort, so selbstverständlich wuchs ihm das Wort aus dem Leben. Dennoch war seine Beziehung zum äußeren Dasein anderer Menschen intensiver, als man gemeinhin annimmt. Das zeigte sich ästhetisch in einem immer bereiten Interesse für alle Spielarten der Zeit, die erotischen, sozialen, künstlerischen, und zeigte sich ethisch in der Entschlossenheit, mit der er Arbeit und Werk sofort beiseite legte, wenn es nötig war, einem Bedürftigen persönlich zu helfen oder einem Freund beizustehen. Auch seine Nerven, wie die eines jeden künstlerischen Menschen, brauchten zur Produktion Anregung, Entspannung, Verbindung mit dem realen Sein. Aber je älter er wurde, um so mehr wuchs seine Antäus-Fähigkeit, diese Stimulation gleichsam aus kleinstem Raum zu beziehen, mit dem geringsten Aufwand an Zeit, die jetzt, mehr noch als früher, unablässig und unentrinnbar dem Werke vorbehalten war. Da genügte ein kurzer Aufenthalt in einer geliebten Landschaft, ein Abend mit seinen Freunden und immer wieder die private Theaterlust an einer Shakespeare-, Offenbach- oder Nestroy-Vorlesung, um ihm Kraft zu geben für die vierzehn Stunden seiner Arbeitsnacht.

Es war unsagbar erschütternd, mitanzusehen und sein Gefühl mitzufühlen, als in den letzten zwei Jahren seines Lebens diese kargen Freuden dem Körper nicht mehr helfen konnten, als die Atemlosigkeit, mit der er die Zeit jagte, plötzlich eine physische wurde und als er vor der Notwendigkeit stand, seine Besessenheit einzudämmen. Er konnte es nicht. Stets aufs neue suchte er die Hilfe dort, wo er sie so oft gefunden: im Erlebnis der künstlerischen und landschaftlichen Natur. Die Ankündigung im Jahre 1935, daß Vorlesungen „wegen Unpäßlichkeit des Vortragenden stattfinden“, war keine Pointe. Er, der sosehr aus der Paradoxie gelebt hatte, glaubte, hoffte, daß der Geist der Natur, der Geist der Vergangenheit ihn gegen die Gesetze des Körpers schützen werde.

Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbrachte Karl Kraus in fast völliger Isolierung. Trotz den Warnungen seines Arztes saß er Nacht für Nacht am Schreibtisch, vergraben in all die Schrecknisse des neuen Deutschland, in einem verzweifelten Versuch, das Material der Unmenschlichkeit in die geistige Sphäre zu stellen (und sie so dem Menschenherzen begreiflich zu machen). Je grauenhafter sich der deutsche Größenwahn über die Welt ergoß, um so leidenschaftlicher lauschte Kraus den Mysterien der deutschen Sprache. Aus jedem deutschen Satz, den er damals schrieb, sprach der Gegensatz zu solcher Wirklichkeit. Und nie zuvor wurde auch seine Liebe zur wahren österreichischen Tradition — von Nestroy bis zu Kürnberger und Altenberg — so sichtbar wie in seinem letzten Lebensjahr. Wer sein Wien lieb hat, der züchtigt es.

Aber alle Kritik war damals tief überschattet von der Sorge um das kommende Schicksal Österreichs, das für ihn in den Worten von Shakespeares „Macbeth“ beschlossen lag:

Das arme Reich
Kennt kaum sich selber mehr. Nicht unsre Mutter
Kann’s heißen, sondern unser Grab: wo Nichts
Als was nichts weiß, man jemals lächeln sieht,
Wo Schrei’n und Seufzen, das die Luft zerreißt,
Gemacht wird, nicht gemerkt, wo heft’ger Kummer
Alltägliche Erregung scheint. Man fragt
Beim Läuten kaum: für wen? Der Guten Leben
Welkt schneller als der Blumenstrauß am Hut,
Und stirbt noch eh es krank wird.

Im Sommer 1935 machte er mir, anläßlich eines Wiener Aufenthaltes, unvermittelt den Vorschlag, mir die Stätten seiner Kindheit zu zeigen. Wir fuhren in den Wienerwald. Mit schwerem Atem ging er voran durch die milde, leuchtende Landschaft. Wir kamen zu einem Haus, in dem er Jahre seiner Jugend verbracht hatte. Hinter dem Haus lag unverändert wie vor 55 Jahren der Spielplatz. Wir setzten uns auf eine Bank. Kraus sah vor sich hin, mit einem Ausdruck von so tiefem Gram, daß ich ihn nie vergessen werde. „Ist nicht“, sagte er, „seit es Hitler gibt, jeder Baum, jeder Strauch, die ganze Landschaft mit Mehltau bedeckt? Kein Grün mehr. Alles grau.“ Dann gingen wir zum Schwimmbad seiner Knabenzeit, und er bestand darauf, wie eh und je zu schwimmen.

Keuchend, mit verzerrtem Gesicht kam er aus dem Wasser: „Im vorigen Jahr“, sagte er atemlos, „konnte ich noch hundert Tempi schwimmen, heuer nur noch fünfzig. Wie wird das im nächsten Jahr sein?“

Es war der letzte Sommer seines Lebens.

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