FORVM, No. 439-441
Juli
1990

Einheit, Freiheit usw.

Reflexionen zum deutsch-deutschen Zusammenwachsen

Prof. M. H. ist Inhaberin des Lehrstuhls für Völkerrecht der Juristischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena. Wir bringen hier ihren Vortrag vom 16. Mai 1990 am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, den sie für uns überarbeitet hat. -Red.

Europa und die beiden deutschen Staaten

Das Thema der deutschen Einigung ist längst auch zu einer Sache der Nachbarn und ganz Europas geworden. Die Gründe dafür sind vielschichtig — sie ergeben sich aus den geschichtlichen Erfahrungen, die man mit dem Deutschen Reich gemacht hatte und die sich nicht nur positiv mit der Größe deutscher Dichter und Denker oder deutschem Fleiß und Ordnungssinn, sondern durchaus auch negativ mit Großmannssucht und Expansionsstreben der Deutschen verbinden.

Österreich hat diese bitteren Erfahrungen mit der Annexion im Jahre 1938 machen müssen und es gibt Stimmen in der DDR, die sagen, daß die bevorstehende Angliederung an die Bundesrepublik fatal an den Anschluß Österreichs erinnere. Aber es ist auch zu fragen, ob sich einzelne geschichtliche Ereignisse so ungebrochen in die Gegenwart projizieren lassen. Sicher würden es bei einem Volksentscheid nicht, wie im Falle Österreichs, 99,73% des Volkes sein, die für einen Anschluß plädierten und sicher werden die wichtigsten Stellen in Wirtschaft, Recht und Politik nicht durch bundesdeutsche Vertreter besetzt. Oder doch?

Das Europa von heute ist stark davon geprägt, daß Grenzen in dem Maße fließender geworden sind, als die Konfrontation der ost- und westeuropäischen Staaten abgebaut werden konnte, der Kontext zwischen Nationalem und Internationalem zunimmt und die Interdependenzen wachsen. Hat sich nicht auch und gerade durch den Umbruch im November 1989 in der DDR die Konstellation insofern grundlegend verändert, als der direkte Ost-West-Gegensatz, die Konfrontation zwischen den ost- und westeuropäischen Staaten und der sogenannte Grundwiderspruch zwischen den Lagern zur Vergangenheit geworden sind? Zumindest tendenziell sind die gegenseitige Bedrohung, das mit ihr verbundene Konfliktpotential und die unmittelbare Konfrontation nicht mehr vorhanden. [1] Daraus erwächst die Aufgabe, die Beziehungen zwischen Ost und West neu zu bestimmen und vor allem auch die Konzepte des KSZE-Prozesses zu aktualisieren. Besonders mit Blick auf den KSZE-Prozeß wird allgemein hervorgehoben, daß die Einheit der beiden deutschen Staaten und die europäische Vereinigung als ein Prozeß vollzogen werden sollen. Wie die Dinge bereits stehen, wird nicht zu verhindern sein, daß sich innerhalb dieses Prozesses die Vorgänge mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollziehen. Auch die deutsche Vereinigung selbst geschieht ungleichgewichtig. Der saturierten und mit traditioneller Staatsform ausgestatteten BRD steht die ökonomisch schwache und eine neue Staatsform probende DDR gegenüber. Die in jeder Weise ungleichen Teile werden sich ebenso ungleich in einen zu bildenden gesamtdeutschen Staat einbringen. Dieser Prozeß vollzieht sich derzeit in atemberaubender Geschwindigkeit und ist kaum mehr steuerbar und koordinierbar — ein Wildwuchs.

Vertragsgemeinschaft — Konföderation — Föderation

Die europäische Einigung steckt noch in den Kinderschuhen und die deutsche Einheit ist schon fast perfekt. Einst im November 1989 wurde das Schrittmaß zur deutsch-deutschen Vereinigung durch Bundeskanzler Kohl, später auch durch Ministerpräsidenten Modrow, langsamer bestimmt. Die DDR-Regierung konzipierte ein Stufenprogramm von der Vertragsgemeinschaft über die Konföderation zur Föderation. Diese drei Ebenen überlagern sich längst und die Schritte laufen nicht mehr synchron. Eine Vertragsgemeinschaft war nicht, wie Modrow glauben machen wollte, das Produkt seiner Vorstellungen, sondern besteht schon seit langem als Geflecht bilateraler Verträge zwischen DDR und BRD: Verkehrsvertrag, Transitabkommen, Grundlagenvertrag mit Folgeverträgen; aber auch in Gestalt multilateraler Verträge, in denen die beiden deutschen Staaten gleichermaßen Partner sind.

Doch die Völkerrechtssubjektivität und die daran gebundene Souveränität der DDR geraten mehr und mehr ins Wanken. Die gegenwärtige Phase des deutschen Vereinigungsprozesses verlangt völkerrechtliche Vereinbarungen als Verbindungsstücke für ein Zusammenwachsen. Solche völkerrechtliche Regelungen im Vorfeld staatlicher Einigung wären geeignet, bestimmte Konditionen zu setzen, z.B.: Durch konföderative Strukturen, durch die Schaffung gemeinsamer Gremien, etwa in Gestalt eines parlamentarischen Ausschusses, gemeinsamer Exekutivorgane oder durch Schaffung gemeinsamer Länderkammern könnten gemeinsame Hoheitsrechte ausgeübt werden. Die gegenwärtig durch einen Staatsvertrag vorbereitete Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion entspricht konföderativen Vorstellungen und ist als Vorstufe eines Föderativstaates zu begreifen, in den die DDR und die BRD durch die Beitrittserklärung der Volkskammer, das Aufnahmegesetz der Bundesregierung und die gesamtdeutschen Wahlen hineinwachsen werden. In diesem räumlich wie zeitlich allerdings noch nicht genau bestimmbaren Vorfeld liegen die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, bei denen die beiden deutschen Staaten das Plazet der vier Mächte zur deutschen Einheit erhalten wollen und müssen.

Der Untergang der DDR — Chance für einen Neubeginn?

Alles, was gegenwärtig in der „anderen deutschen Republik“, die sich vor über 40 Jahren den Namen „Deutsche Demokratische Republik“ gegeben hat, geschieht, ist nicht Normalität, sondern eine seltsame Mischung von Aktionismus und Lethargie. Mit Heftigkeit wird die Abkehr vom „real existierenden Sozialismus“, dem Machtmonopol der SED, der Starrheit und Stumpfheit seiner Repräsentanten und dem sich darauf gründenden Etatismus vollzogen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen war in der Bundesrepublik beinahe zur Propagandaformel degradiert und in der DDR zum Tabuthema erklärt — heute steht es als aktuelle Forderung und, wie ich meine, in neuer Weise da: Denn es geht nach 40jährigem Eigen- und wohl auch Auseinanderleben nicht um eine „Wieder-“Vereinigung, sondern um einen Neubeginn. Dabei sollte das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nicht nur eine Formel sein, die für das Zusammengehen beider Völker steht und seine Grenze im Staat findet. Vielmehr soll an das Niveau und den Wirkungsgrad des Selbstbestimmungsrechts in der friedlichen Revolution des November 1989 angeknüpft werden, wo es in Gestalt seiner höchsten Realisierungsform, der Volkssouveränität in der Losung „Wir sind das Volk“ zum Tragen kam. Schließlich modifizierte sich das Verständnis vom Selbstbestimmungsrecht in der neuen Parole „Wir sind ein Volk“ durch das nun hinzugekommene nationale Moment. Diese Aussage und Forderung mündet indes genau in den Auftrag des Grundgesetzes der Bundesrepublik:

Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

(Präambel).

Doch gerade diese Aufgabe hatte über Jahrzehnte an Kontur und Substanz verloren. [2] Inwieweit der Ruf der Deutschen in der DDR nach einem Volk noch Ausdruck des Willens ist, sich selbst zu bestimmen, mag dahingestellt bleiben. Vorerst läßt sich nur darüber spekulieren, inwieweit es die Erotik der DM ist, oder hierin ein tiefer und weitergehendes Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung zum Ausdruck kommt. So sollte das Selbstbestimmungsrecht nicht in der bald vollzogenen Einheit sein Ende finden, sondern im Prozeß und Progreß gleichermaßen als verwirklicht und zu verwirklichend begriffen werden, in dem die freie Entwicklung des Einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist (Marx). Nur in diese Richtung vermögen auch die diese Entwicklung fördernden und schützenden Menschenrechte auf die Ausprägung der Individualität des Einzelnen zu wirken; deren dialektische Aufhebung im Gesellschaftlichen ist ja das Selbstbestimmungsrecht in Form der Volkssouveränität. Die DDR-Realität jedoch hatte sich 40 Jahre in Umkehrung des Marx-Satzes gestaltet und Uniformismus, Kollektivismus und Gleichmacherei mit den damit verbundenen Verknöcherungen und Verkrustungen erzeugt.

Die Akteure des demokratischen Aufbruchs vom Herbst 1989 in der DDR entwickelten sehr schnell die Vorstellung, daß die im Jahre 1968 verabschiedete Verfassung der DDR mit der Festschreibung der führenden Rolle der SED und des alle Entwicklungen blockierenden „Demokratischen Zentralismus“ durch eine Verfassung ersetzt werden muß, welche die sich gerade herausbildenden demokratischen Lebensformen reflektiert. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches [3] hat dazu Gewichtiges zu bieten. Tragende Idee ist auch hier die Volkssouveränität. Festgeschrieben sind deshalb Volksentscheide, Volksbefragungen und Volksbegehren. Diese Elemente, die im Grundgesetz bislang fehlen, wären zweifellos geeignet, auch die Diskussion in der Bundesrepublik in diese Richtung zu beleben. [4] Ein Mehr an Mitbestimmung hat auch der Vorschlag des Runden Tisches zum Inhalt, die sozialen Bewegungen mit generellen Anhörungsrechten in Ausschüssen auszustatten und sie an Kontrollausschüssen im Parlament zu beteiligen. Diese Schlußfolgerung ergibt sich zwingend aus den Ereignissen vom November 1989: Nicht die Parteien, sondern die außerparlamentarischen Bewegungen waren es, die die Initialzündung zum Auf- und Umbruch gegeben haben.

Akzentuiert wurde auch die Rechtsstaatlichkeit im Verfassungsentwurf, die unter der alten Herrschaft keinen Platz finden konnte. Die Sozialpflichtigkeit wurde ebenfalls mit hohem Stellenwert ausgestattet. So sollen nach den Vorstellungen des Runden Tisches zu den wichtigsten sozialen Leistungen des Staates das Recht auf Arbeit und die Arbeitsförderung ebenso gehören, wie Streikrecht, Aussperrungsverbot und das Recht auf angemessenen Wohnraum. Soziale Rechte sind fester Bestandteil in der DDR-Grundrechtekonzeption. Im Grundgesetz hingegen fehlen sie und sind durch eine schwer faßbare Sozialstaatsklausel ersetzt. Auch das Selbstbestimmungsrecht der Frau, das Recht auf Datenschutz und das Recht auf eine gesunde Umwelt mit materiellen und gesetzlichen Garantien sind Inhalte dieses Verfassungsangebotes.

Inzwischen wurde jedoch dieser Entwurf des Runden Tisches — der das oberste Bürgerforum des Landes war und Auffassungen ganz unterschiedlicher Provenienz in sich vereinigte — durch knappen Mehrheitsbeschluß der neuen Volkskammer erst einmal in die Schublade befördert. Nun ist das Justizministerium mit der Erarbeitung eines neuen Entwurfs beauftragt und es bleibt zu hoffen, daß bei der Erstellung eines solchen Dokuments der Entwurf des Runden Tisches noch im Auge und im Ohr ist und auch Verfassungen anderer Staaten gründlich befragt und mit den eigenen Erwartungen verglichen werden.

So stünde ein Verfassungsentwurf von seiten der DDR und das Grundgesetz der Bundesrepublik nach Vollzug der deutschen Einheit zur Diskussion, um eine neue deutsche Verfassung zu schreiben, oder aber, mindestens, das Grundgesetz zu überarbeiten. Verbänden sich schließlich die Positionen des demokratischen Aufbruchs in der DDR mit den Intentionen des Grundgesetzes, insbesondere mit jenen zur Rechtsstaatlichkeit, wären das bereits wichtige Elemente einer künftigen gesamtdeutschen Demokratie. Gerade die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Rechtsstaatlichkeit sind in ihrer Substanz und Struktur nicht nur Grundlage des innerstaatlichen Rechtssystems, sondern finden auch im Rahmen der EG ihre Verlängerung.

Das heißt auch, daß die noch gültige DDR-Verfassung aus dem Jahre 1968, in der Fassung des Jahres 1974, die in entscheidenden Passagen schon geändert wurde und wohl nur noch als struktureller Rahmen von Bedeutung ist, ohnehin obsolet wird. Ihre Außerkraftsetzung kann durch die in der Verfassung selbst geregelte Verfahrensweise vollzogen werden.

Das Grundgesetz indes war ohnehin nur als Provisorium gedacht. Es ist nicht durch ein Parlament und ohne Einbeziehung des Volkes ergangen, allein auf Weisung der Westmächte an die Ministerpräsidenten der Länder in den Westzonen erarbeitet worden, die wiederum den Parlamentarischen Rat damit beauftragt haben. Von vornherein war dieses Dokument für eine Übergangszeit bis zur Schaffung eines gesamtdeutschen Staates gedacht und angelegt. Mit seinem Artikel 146 ist die Erarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung bereits in Auftrag gegeben und die freie Entscheidung des ganzen deutschen Volkes darüber gefordert. [5] Grimm und Böckenförde, zwei Richter des Bundesverfassungsgerichts in der Bundesrepublik, haben in diesem Sinne darauf verwiesen, daß eine Neukonstituierung „auch dem in der friedlichen Revolution begründeten Selbstbewußtsein der DDR-Bevölkerung besser Rechnung“ tragen würde und schließlich „ihrem erkennbaren Bestreben entgegen käme, einzelne Errungenschaften der eigenen Entwicklung zu bewahren und einzelne Fehlentwicklungen der Bundesrepublik zu vermeiden“. [6] Dem steht bisher jedoch die überwiegende Auffassung der Bundesregierung und die Mehrheit der Staats- und Verfassungsrechtler gegenüber, die Grundgesetzrevision nur auf ein unumgängliches Minimum zu begrenzen. [7]

Konsequenzen aus der Beitrittsformel des Grundgesetzes

Die DDR wird, wie im Staatsvertrag vorgesehen, den Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes vollziehen. Diese Bestimmung geht davon aus, daß das Grundgesetz für das Bundesgebiet gilt und daß es in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen ist. Damit regelt es den räumlichen Geltungsbereich, wonach das Bundesgebiet von dem Staatsgebiet, das heißt also, von dem Gebiet Gesamtdeutschlands, verschieden zu behandeln ist. Damit soll Artikel 23 zum Ausdruck bringen, daß das Grundgesetz im Jahre 1949 nur in einem Teil Gesamtdeutschlands in Kraft trat und andere Teile ihren Beitritt zur Bundesrepublik erklären können — einer Zustimmung der Bundesregierung bedarf es dazu nicht. [8] Die einzige Voraussetzung besteht in der Freiwilligkeit der Erklärung zum Beitritt, die durch völkerrechtlich verantwortliche Organe des betreffenden Gebietes zu erfolgen hat. Artikel 23 ist die einzige Möglichkeit nach den Bestimmungen des Grundgesetzes, das Bundesgebiet durch Teile Gesamtdeutschlands zu erweitern. Um also von vornherein den völkerrechtswidrigen Mißbrauch dieser Regelung durch Beanspruchung darüber hinausgehender Teile Deutschlands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 auszuschließen, müßte unmittelbar nach vollzogenem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik besagter Satz 2 des Artikels 23 aus dem Grundgesetz ersatzlos gestrichen werden.

Mit dem Beitritt der DDR geht deren Völkerrechtssubjektivität unter und die BRD existiert, um das Territorium und die Bevölkerung der DDR vergrößert, fort. Die BRD hat sich stets als mit dem Deutschen Reich identisch begriffen. So ist es nur konsequent, daß sie bei der Einigung ihre Identität beibehält und die DDR in ihr aufgeht.

Es mag scheinen, daß zu der sich gegenwärtig vollziehenden Einigung Parallelen zum Zusammenschluß der süddeutschen Staaten und des Norddeutschen Bundes zum Deutschen Reich im Jahre 1871 gezogen werden können. Die süddeutschen Staaten gingen in den ökonomisch stärkern und politisch einflußreicheren Norddeutschen Bund ein, jener erhielt seine Rechtssubjektivität aufrecht und beide bildeten das Deutsche Reich, das sich in 25 Gliedstaaten (und das Reichsland Elsaß-Lothringen) gliederte.

Doch welche Konsequenzen hat ein in dieser Weise sich vollziehender Zusammenschluß? Kann man eine 40 Jahre bestehende Staats- und Rechtsordnung der DDR mit einem Federstrich zu einem Nullum erklären und kann man, bezogen auf die Außenbeziehungen der DDR, ein ebensolange gewachsenes völkerrechtliches Vertragswerk, aus über 3000 bilateralen und über 600 multilateralen Abkommen bestehend, einfach ignorieren? Das würde ım Widerspruch zu den Realitäten, zu den Wirkungen und Nachwirkungen der DDR-Staats- und Rechtsordnung, wie auch zum Völkerrecht stehen.

  • Die zwischen der DDR und der BRD bestehenden Verträge sind zu beenden und nach der Vereinigung gegebenenfalls durch innerstaatliches Recht zu ersetzen.
  • Die Verträge zwischen der DDR und der Bundesrepublik mit Drittstaaten müßten — und das stünde mit der Völkerrechtspraxis und den ihr zugrundeliegenden gewohnheitsrechtlichen Normen zur Staatennachfolge in Verträgen durchaus im Einklang — mindestens für eine Übergangszeit im ursprünglichen Geltungsbereich fortgelten.
  • Dabei ist zu gewährleisten, daß innerstaatliche Rechtsvorschriften erlassen, geändert oder außer Kraft gesetzt werden müssen, um die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen konsequent weiter zu gewährleisten.
  • Radizierte Verträge, wie der Görlitzer Vertrag über die Oder-Neiße-Grenze zwischen der DDR und Polen aus dem Jahre 1950, der diese Grenze als Staatsgrenze fixierte, [9] bestehen in Inhalt und Ziel fort. In diesem Falle, auch oder gerade wegen der bislang nicht ganz eindeutigen Position der Bundesregierung zu dieser Grenze, bedarf es zur Bestätigung beim Vollzug der deutschen Einheit einer gemeinsamen Entschließung der Volkskammer und des Bundestages.
  • Hinsichtlich der EG wird sich die Einbeziehung der DDR insoweit relativ unkompliziert vollziehen, als nach einem Beitritt der DDR zu der BRD der Geltungsbereich des EG-Rechts automatisch auf die DDR ausgedehnt wird. Gleichwohl werden sich Probleme wegen der Rückwirkung des Anschlusses des Wirtschaftsgebietes der DDR an die EG ergeben.

Das DDR-Recht, so ist zu konstatieren, gilt nicht mehr viel — es hat sich selbst desavouiert und weitgehend seiner eigentlichen Bestimmung beraubt, Geltungs- und Ordnungskraft zu besitzen. Mehr rechtsfreie als durch Recht besetzte Räume machen es möglich, daß ein sich vergrößerndes Vakuum ein Experimentierfeld für Klein- und Großunternehmer, Makler und Händler aus Ost und West geworden ist. Schon jetzt, im Vorfeld staatlicher Einigung, beginnt ein Amalgam von zu vereinbarenden, aber auch von nicht in Einklang zu bringenden Rechtsnormen und Rechtskonzepten zu entstehen. Doch rechtliche Rezeption fordert immer auch adäquate gesellschaftliche Verhältnisse. Hier aber gibt es schon jetzt spannungsgeladene und schwer lösbare Konflikte, die in Zukunft weitgehend durch Bundesrecht gelöst werden sollen. Doch wird es ebenso mehr oder weniger lang wirkende Übergangsregelungen geben müssen, wird die Rechtsangleichung nicht abrupt erfolgen können.

Diese Übergangsphase bietet aber nicht nur mit Blick auf die Rechtsordnung der DDR, sondern auch bezogen auf die Bundesrepublik die Chance zur Rechtserneuerung. [10]

Einerseits gilt das Bundesrecht als ausgeformt und in sich ausgewogen, und ein Teil herauszunehmen könnte das Ganze in gewisser Weise gefährden. Andererseits kann ein Recht, sei es noch so gut, immer auch noch besser werden. Außerdem ist es praktisch unmöglich, einer Gesellschaft eine fremde normative Hülle überstülpen zu wollen.

Recht muß aus den sozialen Verhältnissen erwachsen und in sie wiederum einmünden können. Soziale Beziehungen und Rechtsbeziehungen müssen, um einander paßfähig zu sein, harmonisiert werden. Übergangsregelungen und behutsame Verflechtungen von Rechtsnormen sind gefordert, vor allem solche, die die existenziellen Ängste den Bürgern in der DDR nehmen.

Die 40 Jahre DDR werden nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte sein, stellte Stefan Heym in der Wahlnacht des 18. März 1990 fest. Diese Meinung mag zutreffen, wenn man in Epochen denkt. Dann wäre die DDR eine bloße Episode gewesen — doch auch Episoden merkt sich die Geschichte und verarbeitet ihre Erfahrungen.

[1Siehe dazu D. Senghaas, Europa 2000, Ein Friedensplan, Frankfurt am Main 1990, bes. S. 12 ff.

[2Auch in der Verfassung der DDR aus dem Jahre 1968 war der Auftrag formuliert, von der Verantwortung der ganzen deutschen Nation getragen zu sein und die Spaltung Deutschlands zu überwinden. Mit der Verfassungsänderung des Jahres 1974 wurden diese Bestimmungen schließlich eliminiert.

[3vom April 1990, veröffentlicht von Basisdruck Verlagsgesellschaft, Berlin 1990

[4Die noch gültige Verfassung der DDR sieht Abstimmungen des Volkes für eine neue Verfassung vor. Danach kann durch Art. 53 eine Volksabstimmung durchgeführt werden oder aber entsprechend des Art. 65 Ziff. 3 durch Volksdiskussion eine Verfassung vorbereitet und gemäß Art. 106 durch die Volkskammer durchgesetzt werden.

[5Diese letzte Bestimmung besagt, daß das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.

[6In: „Der Spiegel“, März 1990

[7Stellvertretend für viele sei J. Isensee zitiert: „Es kann im Zusammenhang mit dem Beitritt nur um Revision einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes gehen, im wesentlichen um Klauseln, welche die Anwendung für die DDR ausschließen“ (Das Grundgesetz gilt weiter. Die materielle Verfassungsidentität und Verfassungskontinuität bleiben gesichert. In: FAZ v. 12. April 1990, S. 14)

[8Vgl. H. D. Jarras, B. Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 352

[9In Art.1 heißt es: „Die Hohen Vertragschließenden Parteien stellen übereinstimmend fest, daß die festgelegte bestehende Grenze, die von der Ostsee entlang die Linie westlich von der Ortschaft Swino-ujscie und von dort entlang den Fluß Oder bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße und die Lausitzer Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen bildet.“

[10Ganz sicher gibt es bei den zu bewahrenden Regelungen des DDR-Rechtssystems ein wichtiges, in die gesamtdeutsche Staatlichkeit einzubringendes Element 40jähriger DDR-Geschichte — die konsequent vollzogene Abkehr vom Faschismus, die mit der intensiven Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus verbunden wurde und in die Verfassung und Gesetzgebung ebenso eingeflossen ist, wie auch die Mitgliedschaft in entsprechende völkerrechtliche Verträge erfolgte. Vgl. M. Haedrich, Die konsequente Verfolgung von Verbrechen gegen den Frieden und von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen — Beitrag zur Sicherung des Friedens und Garantierung grundsätzlicher Menschenrechte, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Gesellschaftswissenschaft, 39. Jg., 1990, H. 2, S. 132 ff.1

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