Weg und Ziel, Heft 4/1997
Oktober
1997

Einfältiger Antikommunismus

Suhrkamps Einführung in die Oktoberrevolution

Manfred Hildermeier:
Die Russische Revolution. 1905-1921
Edition Suhrkamp
Frankfurt am Main 1989
300 Seiten, 160 Schilling, ca. 22 DM

Subtile, und doch nicht zurückhaltende Feindselig­keiten gegen die Bolschewiki kennzeichnen dieses Buch. Die antikommunisti­sche Grundausrichtung ist jedenfalls offensichtlich. Schon weniger offensicht­lich, zumindest für den mit dem Thema nicht befaßten Leser, sind die zahlreichen Fehler, die der Göttinger Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte (sein Spezialgebiet ist die Geschichte der russischen Sozialrevolutionäre) in sei­nem Band angehäuft hat.

So wird die Spaltung der russischen Sozialdemokratie auf dem Parteitag 1903 in Bolschewiki und Menschewiki erstens auf Differenzen in der Organisationsfrage (Debatte um den § 1 des Sta­tuts betreffend die Partei­mitgliedschaft) zurückge­führt. (S. 40) Die gab es zweifelsohne, doch trotzdem hatte die Spaltung einen viel „banaleren“ Anlaß. Die spä­teren Menschewiki fühlten sich in der Zusammenset­zung der Leitungsgremien der Partei (Zentralorgan und Zentralkomitee) unterreprä­sentiert und kündigten da­her die Zusammenarbeit mit der damaligen Mehrheit um Lenin und Plechanow.

Auch der zweite Grund, daß der Menschewikenführer Martow und seine An­hänger für mehr Föderalis­mus, vor allem hinsichtlich der jüdischen Arbeiterorga­nisation (BUND) eintraten (ebenda), ist schlichtweg falsch. Gerade Martow führ­te die Hauptattacke am Par­teitag gegen diese separati­stischen Bestrebungen. In der Ablehnung der Autono­mie waren sich Martow und Lenin durchaus einig.

Wer sich etwas intensi­ver mit den fraktionellen Auseinandersetzungen in­nerhalb der russischen SDAP beschäftigt, müßte auch klar erkennen, daß im komplexen Geflecht von po­litischen Differenzen und persönlicher Intrige es völlig verfehlt ist, hier einen Hauptschuldigen — Hildermeier meint stets Lenin — auszumachen. Die Geschich­te der Spaltungen, Trennun­gen, Vereinigungen, inter­fraktionellen Bündnisse innerhalb einer einzigen na­tionalen Arbeiterpartei, läßt wohl doch etwas mehr ver­muten als es das Einklagen der „Leninschen Obstrukti­on“ (S. 40) nahelegt.

Inhaltliche Meinungs­verschiedenheiten gab es je­denfalls in fast allen wichti­gen theoretischen wie prak­tischen Fragen des Klassen­kampfes: Organisationsauf­bau, Charakter der Russi­schen Revolution von 1905 und 1917, Stellung zum Weltkrieg, Wahlbeteiligung und Wahlboykott, Methoden des politischen Kampfes, Einschätzung des russischen Liberalismus und der Bau­ernschaft, Verhältnis zur Provisorischen Regierung nach der Februarrevolution etc.

Ebenso unrichtig ist das behauptete „unheilbare Zer­würfnis“ (S. 221) zwischen Kerenski und Kornilow, den beiden Hauptkontrahenten der Bolschewiki 1917. Erst nach dem gemeinsam ins Auge gefaßten und von letzterem dilettantisch durchge­führten Putsch ließ der Mi­nisterpräsident seinen Ober­kommandierenden fallen.

Wenn Hildermeier be­züglich Lenins Rückkehr im April 1917 schreibt: „Der Doppelherrschaft entstand ein unversöhnlicher Feind“ (S. 161), deutet das nur dar­aufhin, daß dieser Histori­ker Wesen und Charakter einer Doppelherrschaft — der Begriff wird übrigens (wie viele andere) nirgends er­klärt — nicht verstanden hat. Diese hat nämlich nur Fein­de, alle gesellschaftlichen Kräfte wünschen ihre Besei­tigung, kämpfen für die Überwindung dieses Über­gangszustands der gesell­schaftlichen Instabilität. Die Lösung der Doppelherr­schaft lautet somit Revoluti­on oder Restauration.

Doch es kommt noch schlimmer. Etwa wenn unser Autor zur sozialistischen Kritik am Privateigentum an Produktionsmitteln fol­gendes vermeldet: „Unver­söhnliche Kritik an der be­stehenden politischen Ord­nung und am privaten Ei­gentum im Wirtschaftsleben überhaupt breitete sich aus (sic!) — nicht nur als irratio­nale Reaktion der Zeit (sic!), die aus den Fugen zu gera­ten schien (sic!), sondern auch als pragmatische Ant­wort (sic!) auf die Heraus­forderungen der wirtschaft­lichen und sozialen Situati­on.“ (S. 193)

Man mag zur Vergesell­schaftung der Produktions­mittel, zur Expropriation der Expropriateure stehen wie man will, diese Forde­rung mit einem irrationalen Zeitgeist zu erklären, hängt wohl denn doch eher mit ei­nem anderen Zeitgeist zu­sammen, mit einem Zeigeist, der vor lauter marktwirt­schaftlicher Euphorie gar den Endsieg des Kapitalis­mus verkündet.

Daß Manfred Hildermeier schlußendlich die Revolu­tion zum gegen die Demo­kratie gerichteten Putsch (S. 300) erklärt, darf bei die­sem zeitgeistig-verworrenen was meint: top-modischen Geschichtsbild nicht mehr verwundern.

Vor allem was politische Theorie, sowohl was De­skription als auch deren Be­wertung betrifft, hat der Autor wenig zu bieten. Eine fundierte Auseinanderset­zung mit Lenin oder Trotzki suchen wir vergebens. Dort, wo Hildermeier als Interpret tätig wird, begibt er sich meist aufs Glatteis, etwa wenn er behauptet, daß Le­nin 1905 die „,bürgerlichen‘ Kräfte schlichtweg mit der Bauernschaft identifizierte“ (S. 67). Bei Lenin findet sich nichts dergleichen.

Man hat alles schon wo­anders besser gelesen, infor­mativer und spannender, vor allem ohne derartige Schnitzer. Als Einführungsbuch in die Geschichte der Russi­schen Revolution ist der Band jedenfalls nicht geeig­net, noch dazu wenn man bedenkt, welch reichhaltige Literatur zum Thema vor­handen ist. Zum Beispiel Trotzkis alles überragende Geschichte der Russischen Revolution oder die Bücher von Suchanow, Reed oder Dan. Und wer in heutigen Zeiten unbedingt Bürgerli­ches zu 1917 bevorzugt, dem seien die Namen Anweiler, Geyer oder Schapiro ans Herz gelegt. Sorgfältiger statt einfältiger Antikom­munismus wird dort gebo­ten.

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