FORVM, No. 344-346
Oktober
1982

Einfach Majoran

Anna B. bezog eine kleine Rente von der Sozialversicherung. Von dieser hätte sie recht und schlecht leben können, wäre sie keine Raucherin gewesen und hätte fast jeden menschlichen Kontakt sein lassen. So aber kostete die Straßenbahn Geld, Kaffee und Kuchen ziemlich viel Geld und Zigaretten sehr viel Geld. Anna B. mußte fallweise verdienen, indem sie irgendwo aushalf. Was ihr Gelegenheit zu menschlichem Kontakt bot. Kein schlechter Kreislauf, dachte sie.

So lernte sie immer wieder Menschen kennen, die sogenannte „Arbeitnehmer“ waren. Sie konnte studieren, was nicht mehr ihr Problem war: den Krankenstand. Wie sie krank waren oder sich krank fühlten oder krank spielten; sich rechtfertigten vor Mitarbeitern und Chef; die Krankheit vernachlässigten, um eine jemandem wichtig scheinende Arbeit fortzusetzen; oder sorglos Krankheiten erfanden, wenn wichtige oder mehr als übliche Arbeit zu verrichten war.

An einem bitterkalten, nassen Apriltag ging Anna B. nach langen Jahren zum ersten Mal zum Arzt. Sie wurde heuer ihre Bronchitis nicht los, trotz Inhalationen und Umschlägen, die bisher immer halfen. Der Arzt verschrieb Penicillin und Anna B. legte sich ins Bett.

Nach einer Woche fühlte sie sich viel besser, auch das Wetter schien freundlicher zu werden. Nur in ihrem linken Ohr und in der Gegend des Kehlkopfs hatte sie Schmerzen. War das Penicillin nicht mit allem fertig geworden? Stellte sich nun ein ernstes Leiden heraus? Eines von denen, das sie schon längere Zeit vermutet hatte? Einen Moment lang wollte sie um die Ecke zum Arzt laufen. Sie sah es wie einen Film vor sich: Überweisungsschein, Röntgen, Medikamente, Bestrahlungen, Operation.

Was ihr Angst machte, war, daß sie keine Verwandten hatte, die sie gegen Revers aus dem Spital hätten befreien können. Wie kann man sich wehren gegen Chirurgen, Primarii, Schwestern, Pfleger? Man müßte einen Arzt in der Verwandtschaft oder im Bekanntenkreis haben. Wenn sich der dort sehen läßt, wäre man gerettet. Nein, wozu zerbrach sie sich den Kopf. Sie würde sich, solange es möglich war, ferne halten. Was sollen sie bei Kehlkopfkrebs wegschneiden und nochmals schneiden und bestrahlen, und dann kommt der Krebs woanders heraus.

Anna B. ging zum Spiegel. Gott sei Dank war das eine Stelle, wo man hinsehen konnte! Viel unangenehmer wären ihr Schmerzen im Bauch, wo sie nur Vermutungen anstellen könnte. Ein grauer Schleier zog sich an der linken Seite des Rachens herunter. Wo sie die Mandeln gehabt hatte, war alles gelb, entzündet, von grellroten Adern durchzogen.

Anna B. wollte nicht mit ihrer Angst sich selbst und andere peinigen. Einige Augenblicke war ihr danach, gute Freunde anzurufen. Doch würde dies ihre eigene Erregung nur verstärken. Sie studierte Bücher über Kräuterheilkunde. Sie war verwundert, daß die Apotheken alle Tees und Öle wie selbstverständlich führten.

Sie war sich bewußt, daß es langwierig werden, und keineswegs gewiß, daß sich ein Erfolg zeigen würde. Sie wollte durchhalten, bis sie nicht mehr Atem holen konnte. Dann würde sie versuchen, an Morphium zu kommen, um es sich selbst zu spritzen. In ihrer bunten, sonnigen Wohnung wollte sie sein, in keinem weißen Spitalszimmer, und sich selbst verpflegen, solange das möglich war.

Sie kochte jeden Tag einige Liter verschiedener Tees. Sie trank, gurgelte, schnupfte, machte Umschläge. Sie fand heraus, welche Kräuter Wirkung zeigten. Schleim löste sich aus Nase und Rachen. Langsam, über Wochen, verschwand der weißliche Belag. Ob sie Krebs hatte oder etwas anderes, war nicht mehr wesentlich.

Wäre sie jetzt berufstätig, läge ihre Heilung, ihr Leben nicht in ihrer Hand. Es läge bei Ärzten, Sozialversicherung, Kollektivverträgen zwischen „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“. Welchem Chef könnte sie erklären und wie von Kollegen Verständnis erwarten, wenn sie für ihre Körperpflege nun täglich beinah vier Stunden brauchte und am Arbeitsplatz alle zwanzig Minuten ein Gurgelkonzert anstimmen würde?

War man krank, mußte man eine Bestätigung vom behandelnden Arzt bringen oder ins Spital. Man war Medikamenten ausgeliefert, über die man von niemandem etwas erfahren konnte, außer was auf dem unverständlichen Beipackzettel stand. Die Ärzte sprachen nicht mit einem.

Erinnerungen stiegen in Anna B. auf, aus der Zeit als sie ungern in die Arbeit ging. Wäre das mit dem Kehlkopf damals passiert, hätte sie sich gefreut über die Echtheit ihres Krankenstandes. Sie wäre von Arzt zu Arzt gepilgert, von Warteraum zu Warteraum — nur weg von der „Galeere“.

Ja, das war die Arbeit. Auf die Uhr schauen bis zur Pause, bis zum Feierabend. Es war keine ungeduldige Erwartung, endlich zu tun, was man wollte. Oft wollte man gar nichts, sondern nur aufhören.

Ihre Freunde und Bekannten fielen ihr ein und ihre Krankenstandgeschichten. Sie gingen im Kreis von ungeliebter Arbeit zur Freiheit durch Krankheit und zurück zu ungeliebter Arbeit. Freiheit durch geregelte Einzahlung der Sozialversicherung. Geliebter Krebs.

Anna B., Mindestrentnerin, kam sich privilegiert vor. Sie roch an einem Säckchen aus der Apotheke. Schachtelhalme. Das Majoranöl-Fläschchen. Einfach Majoran! Gegen Lymphdrüsenkrebs. Morgen wollte sie Spitzwegerich sammeln gehen.

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