MOZ, Nummer 52
Mai
1990
Milena Jesenská:

Eine ganze Menge Leben — übrig

Ein Konzept, eine Ausstellung, ein Porträt

Ein Konzept, eine Ausstellung, ein Porträt.

Ich weiß nicht, was in Wien geschehen müßte, damit das Volk darüber keine Witze macht. Einen runden allerliebsten Witz, der schon der Dialekt von selbst hevorbringt ... Anderswo, in jeder anderen Stadt, würde die Regierung mit Schimpfworten überschüttet werden, in Wien lachen die Leute. Ist es schlechter so, ist es besser so, wer weiß das? Aber lustiger ist es allemal. Und Lustigkeit ist der erste Grundsatz Wiens. Lustig um jeden Preis, lustig trotz alledem. Nie werde ich begreifen, woher die Menschen diesen Frohsinn nehmen ... Das Leben ist bitter, schwer, voller Sorgen, voller Fehlschläge, voller Hoffnungslosigkeit. Und doch sieht man nirgendwo Verzweiflung ... Wien tötet Menschen, die etwas leisten wollen, auch diejenigen, die dazu die Fähigkeit haben. Weil sie nicht herausgefordert werden ... Wien ist ... ein Sumpf, es hat keine Kraft, um Lasten zu tragen. Es weicht ihnen aus, und schiebt sie beiseite.

(M. J., 1922)

Das war das Wien, nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie seiner Hinterländer beraubt und damit seines Wasser- und Geldkopfes, so wie es M. J. erlebte. Heute kommt sie wieder in diese Stadt, aus der sie einst nach Prag zurückflüchtete, und es läßt sich fragen, ob diese Stadt mit ihrem Galgenhumor und seinem EXPOnierten Wahn sich eigentlich geändert hat oder ob der Autorin, um die es hier geht mit ihrer sensibel kritischen Mentalitäts- und Atmosphärenbeschreibung, nach wie vor zuzustimmen ist.

Wer war, wer ist diese Frau? Diese Frage stellten sich auch zwei Frauen, die, angezogen durch den ‚kafkaesken Milenaboom‘, genauer wissen wollten, wer hinter den durch die Veröffentlichung von Kafkas an sie gerichteten Liebesbriefen berühmt gewordenen Frau stand: „Wir wollten, ausgehend von unserem Interesse an Frauenbiographien, die ‚wirkliche‘ Milena wiederentdecken und sie vom weißen jungfräulichen Brautgewand (= Briefpapier? Anm. d. Verf.), so wie sie Kafka und seine Forscher gern gesehen hätten, befreien und sie dem Leben zurückgeben.“

Oder, wie es Dorothea Rein im Vorwort der von ihr herausgegebenen Schriften „Alles ist Leben“ (Feuilletons und Reportagen 1919-1939) formuliert: „Ihr sind Liebesbriefe gewidmet, die zu den schönsten und bedeutendsten Zeugnissen dieses Genres zählen. Die Beziehung zwischen dem Verfasser ... und der Adressatin ... ist von Literaturwissenschaftlern bis ins kleinste Detail seziert worden. Wer nur ein wenig mit Leben und Werk M. J.s vertraut ist, kann die Reduktion dieser Frau auf ein Liebesverhältnis nur als Ausdruck tiefster Ignoranz seitens der Kafkaforscher begreifen.“

Im Frühjahr 1986 begannen Gertraud Auer, Architektin und Szenographin (Wien/Paris), und Catherine Stahly Mougin, Museographin (Paris), eine ganz eigene und andere Forschung mit und über M. J. Es wurde zu einer „leidenschaftlichen Begegnung“ mit dieser Frau, die die wichtigsten Momente ihrer Zeit in Chroniken und Reportagen einfing und die 1944 im KZ Ravensbrück ums Leben kam. „... ich dachte an die Große Illusion: werden wir wirklich einmal nebeneinander leben — Deutsche, Tschechen, Franzosen, Russen, Engländer — ohne uns gegenseitig Leid anzutun, ohne uns hassen zu müssen, ohne uns Unrecht zu tun?“ (M. J. 1939, ein halbes Jahr vor ihrer Verhaftung)

Aus dem Sich-Einlassen auf diese Frauengeschichte entstand die Idee einer Ausstellung. Es dauerte drei Jahre, bis die Realisierung von „VIVRE — M.J. 1896-1944“ stattfinden konnte, die in Wien vom 8. Mai — 17. Juni (Messepalast/Halle E1) zu sehen ist. Premiere war im Januar im Pariser Centre Pompidou.

Es war nicht beabsichtigt, eine museale Heroine als Identifikationsfigur zu reinstallieren, sondern der flüchtigen Spur einer normalen Frau Geschichte zu geben: Ein Gesicht hinter den Buchstaben, das aber jenseits männlicher Geschichtsschreibung nicht zum Monument gerinnen soll, keinen Ewigkeitswert beansprucht — eben analog den realen Frauenleben.

Dem Leben zurückgegeben

Dem entspricht die Form der Ausstellung, die keine fixierende Dokumentation, keine ikonographische Darstellung zu Hilfe nimmt, sondern als eine Abfolge szenischer Räume konzipiert ist. Inhaltliche Grundlage sind die Texte M. J.s, die, von Hanna Schygulla gesprochen, mit einer computergesteuerten Licht-Ton-Technik in neun ‚Bildern‘ inszeniert werden. Dabei begleitet den/die BesucherIn eine eigens für die Ausstellung von Flora St. Loup komponierte Musik, die in einen labyrinthischen Wandelgang auf eine Entdeckungsreise in die Gedankenwelt M. J.s entführt. Nach Themen in „Kammern der Erinnerung“ gruppiert, wird zwischen der Frau/Journalistin damals und heute eine Brücke geschlagen, die die Aktualität und Modernität ihrer Feuilletons und Chroniken hörbar, erfaßbar machen soll.

Und nun, vierzig Jahre später, ist sie wieder da ... Sie ist in Wirklichkeit viel mehr als nur die Heldin im Leben eines berühmten Schriftstellers. Sie war vor allem eine Persönlichkeit, die das tragische, komplizierte, reiche und gleichzeitig begrenzte Schicksal der tschechischen Intelligenzija in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts symbolisiert. Ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen, ihre Überzeugungen und Irrtümer sind untrennbar mit ihrer Zeit und dem Schicksal ihres Landes verbunden.

(Stasa Fleischmann, eine ihrer besten Freundinnen)

Die Architektur der Ausstellung, die Verwendung der Materialien, die Differenzierung der Farben und der sparsame Einsatz von Objekten als Blickfang, als Symbol des Gesprochenen, haben die Absicht, ihrem Wort Raum zu geben. Dem Vorwurf, die Ausstellung sei zu ästhetisierend, kann damit begegnet werden, daß durch diese Mischung von postmodernen Mitteln und weiblicher Ästhetik (z.B. wird auch die Begegnung von Auer/Stahly mit M. J., also der eigene Ausgangspunkt, für jeden beim Eintreten transparent gemacht) eine aktuelle Wahrnehmungsmöglichkeit evoziert wird, die gerade nicht durch die Imitation vergangener Authentizität musealen Muff entfremdend reproduziert, sondern solcherart eine Beziehung zur Gegenwart herstellt.

Und Gegenwart ist das, worum es M. J. zu tun war: „Wir hüten die Vergangenheit als Schatz und berechnen die Zukunft, aber vergeuden die Gegenwart auf hoffnungslose Weise. Es dringt kaum bis in unser Bewußtsein, daß sie das Leben ist, und allein sie. Wir kochen Tee und meinen, das sei nur ein Zwischenspiel zwischen etwas, was war und was sein wird. In Wahrheit ist es nicht so, sondern das ist das Leben.“

So lebte sie alles, was ihr begegnete, alles, was ihr passierte, was sie passieren wollte — widersprüchlich mit einer die anderen faszinierenden Intensität und einem offenen und empathischen Umgang, der ihr nicht zuletzt zu ihren journalistischen Qualitäten verhalf, verbunden mit der Fähigkeit, sich je und je treu zu bleiben.

Es geht nicht darum, der Welt etwas zu verraten, sondern darum, den einzelnen durch Verständnis zu bereichern. Es geht um den logischen Zusammenhang zwischen der Welt des Unbedeutenden und der Welt des Auserwählten.

1909: Milena Jesenská im Alter von dreizehn Jahren am Moldau-Ufer
Bild: Verlag Neue Kritik

M. J. wurde in eine wohlhabende tschechische Familie geboren. Der konservative Vater war Arzt und Professor. Mit ihm kämpfte M. zeitlebens einen haßliebenden Anerkennungskampf, was sie wohl auch mit Kafka verband, der dasselbe, nur unter umgekehrten Vorzeichen — sich unterwerfend — erlitt, während sie es immer offensiv zu lösen suchte. Von der Mutter weiß man nicht viel, außer, daß die ständig krank und bettlägerig war und die Tochter sie bis zu ihrem Tod im Auftrag des Vaters pflegen mußte.

Trotzdem kam M. auf das Minervagymnasium, das erste humanistische Mädchengymnasium Mitteleuropas. Die Absolventinnen waren die ersten selbstbewußten zielstrebigen Frauen, aus welchen sich später die dünne Schicht der emanzipierten Frauen der ersten tschechoslowakischen Republik rekrutierte.

M. J. genießt bzw. nimmt sich eine freizügige Jugend, die durch ihre Extravaganz im provinziellen Prag auffiel. Sie liest Klassiker, probiert Drogen aus der väterlichen Praxis, gibt sich lesbisch, wird schwanger, hat eine Abtreibung. Während der ersten Studiensemester lernt sie die erste große Liebe im deutsch-jüdischen Literatencafé kennen und darf E. Pollack schließlich, zwanzigjährig, nach einem psychiatrischen Aufenthalt heiraten — mit der Auflage des Vaters, nach Wien zu ziehen. Die Mitgift ist bald verbraucht, Pollack lebt hauptsächlich in der Wiener Bohème, und sie verarmt und vereinsamt zusehends. Sie gibt privaten Tschechischunterricht, schleppt auf dem Westbahnhof Koffer und verdingt sich in einem Wiener Haushalt. Pollack ist Lebemann, man spielt auf Ehe zu dritt, was sie unter der Devise, eine moderne Ehe zu führen, erträgt.

Hingabe und Aufgabe

In diesem finanziellen und emotionalen Desaster beginnt sie, ihre ersten Artikel an eine Prager liberale Zeitung zu schicken und wird bald feste Korrespondentin. Daneben fängt sie an, einen bis dahin weitgehend unbedeutenden Autor ins Tschechische zu übersetzen — Kafka. So lernt sie ihn auch persönlich kennen, und aus einer Brieffreundschaft entwickelt sich eine Briefliebe (sie sehen sich insgesamt zweimal für ein paar Tage), doch dann kann sie sich nicht von Pollack trennen und Kafkas Ängste und Askese lassen die Beziehung nach zwei Jahren ‚Schriftverkehr‘ auslaufen — obwohl sie ihn gerade dafür bewunderte. Nach einem Selbstmordversuch trennt sie sich 1923 schließlich doch von Pollack und schreibt nun für verschiedene Prager Zeitungen — über Mode, Alltagsgeschichten, Filmkritiken und lebensphilosphische Feuilletons. Nebenbei macht sie eine Art Pension mit Mittagstisch auf, lernt hier Schaffgotsch, einen ehemaligen k.u.k. Offizier kennen, der in Rußland zum Bolschewismus konvertierte, und beginnt, sich erstmalig mit dem Sozialismus auseinanderzusetzen.

1925 kehrt sie nach Prag zurück. Dort ist sie wieder ‚die‘ J.; sie verkehrt in avantgardistischen linken Kreisen, ihre Frauenseite in der „Narodny Listy“ wird immer populärer, sie animiert einen ganzen Mitarbeiterinnenstab, scherzhaft ‚Milenas Team‘ genannt, sie selbst schreibt kaum noch ernsthafte Feuilletons. Sie heiratet den jungen Architekten aus der ‚Szene‘, Krejcar, sie schreibt wegen Geldmangels weiterhin massenhaft Hausfrauen- und Modeartikel. 1927 übernimmt sie mit einer Schulfreundin die Redaktion einer neuen Avantgardeillustrierten, die sie jedoch nach einem Jahr wegen mangelndem finanziellem Erfolg verlassen müssen. Es folgt die schwere Geburt einer Tochter wonach sie lebenslänglich eine Beinbeschädigung hat und für Jahre morphiumsüchtig wird.

Die Ehe zerbricht, sie scheidet aus der Gesellschaft aus, ist finanziell wieder mittellos, es fängt der Kontakt zur kommunistischen Partei an, als deren Mitglied sie bald in den Parteizeitungen schreibt. Sie lernt den Genossen Klinger kennen, beide schreiben und übersetzen und entfernen sich zunehmend von der Parteidoktrin (Moskauer Prozesse ...)

1937 wird sie zur Mitarbeit in der damals bekannten unabhängigen Wochenzeitung namens „Gegenwart“ gebeten und schreibt zunehmend politisch sensible Kommentare zur tschechischen Situation bis zum Einmarsch der deutschen Truppen. M. J. kontaktiert antifaschistische Widerstandsgruppen, schreibt in illegalen Zeitungen und verhilft Juden und tschechischen Offizieren über die grüne Grenze nach Polen — auch ihrem Lebensgefährten Klinger. Sie selbst bleibt in Prag und wird im August 1939 von der Gestapo verhaftet, in Dresden wegen illegaler Tätigkeiten vor Gericht gestellt, wo sie, sich selbst verteidigend, mangels an Beweisen freigesprochen wird. Sie kommt jedoch — nach einem kurzen Abschied von ihrem Vater und ihrer Tochter in Prag — zur Umerziehung nach Ravensbrück.

Sie befreundet sich mit der deutschen Exilkommunistin M. Buber-Neumann, die ebenso wie die Tochter eine Biographie über sie geschrieben hat, was beiden die Feindschaft ihrer ‚Genossinnen‘ einträgt. Sie stirbt am 17. Mai 1944 im Alter von 48 Jahren eines sogenannten ‚natürlichen‘ Todes; sie, die „Du Dein Leben bis in solche Tiefen lebendig lebst.“ (Kafka)

  • Franz Kafka: Briefe an Milena. Fischer Verlag.
  • Jana Cerna: Milena Jesonská. Verlag Neue Kritik.
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Milena Jesenská

Milena Jesenská (* 10. August 1896 in Prag, Österreich-Ungarn; † 17. Mai 1944 im KZ Ravensbrück) war eine tschechische Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie gehörte zum engeren Freundeskreis des Schriftstellers Franz Kafka.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Milena Jesenská besuchte das Mädchengymnasium Minerva in Prag und studierte danach Medizin. Nach dem Abbruch des Studiums arbeitete sie am Prager Konservatorium und verkehrte in der Prager deutsch-jüdischen Gesellschaft, wo sie unter anderen auch Max Brod und Franz Werfel kennenlernte. 1917 wurde sie von ihrem Vater, Jan Jesenský, wegen ihres Liebesverhältnisses mit dem jüdischen Bohemien Ernst Polak in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, in der sie eine längere Zeit eingesperrt blieb, bis sie Ernst Polak (damals noch Pollak) heiraten durfte (volljährig war man damals – bis 1919 – erst mit 24).[1]

Unmittelbar nach ihrer Entlassung heiratete sie Polak und zog mit ihm nach Wien. Dort nahm ihr Mann sein Bohemeleben wieder auf. Sie lebten von Gelegenheitsarbeiten, vor allem von Milena Jesenskás: Sie unterrichtete Tschechisch und arbeitete als Journalistin, ab 1920 vor allem für die Prager Zeitung Tribuna.[2] Ihren Lebensunterhalt verdiente sie nicht zuletzt durch Übersetzungen.[3] Unter anderem übersetzte sie 1919 Kafkas Erzählung Der Heizer sowie weitere seiner Prosatexte vom Deutschen ins Tschechische, worauf sich 1920/21 ihre Beziehung zu diesem Schriftsteller vertiefte. Aus der hauptsächlich aus brieflichen Kontakten und wenigen Begegnungen bestehenden Beziehung resultiert ein umfangreicher Briefwechsel – nach Willy Haas ein „erschütternder Liebesroman, eine Orgie an Verzweiflung, Seligkeit, Selbstzerfleischung und Selbsterniedrigung“.[4] Kafka beendete schließlich die Beziehung im November 1920, worauf auch der Briefwechsel abrupt abbrach. Der freundschaftliche Kontakt riss allerdings bis zu Kafkas Tod nicht ab: Zwei Jahre später wurden wiederum einige vereinzelte Briefe gewechselt, und am Ende seines Lebens übergab ihr Kafka einige seiner Tagebücher.

1923 scheiterte ein Selbsttötungsversuch. Milena Jesenská nahm in dieser Zeit Drogen, es kam zur Scheidung von ihrem Ehemann. In dieser Zeit freundete sie sich mit der Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel an.

Milena Jesenská lebte 1925 ein Jahr zusammen mit Franz Xaver Schaffgotsch bei Alice in Friedewald-Buchholz[5] bei Dresden und schrieb in deren Zeitschriften mit. Nach ihrer Rückkehr nach Prag arbeitete sie an der Frauenseite in Národní listy (Nationalblätter) und wurde Mitglied einer Gruppe avantgardistischer linker Intellektueller, der Devětsil (Pestwurz). Sie arbeitete an der avantgardistischen Zeitung Pestrý týden (Bunte Woche) mit und veröffentlichte 1926 die Anthologie Wege zur Einfachheit. Schwerpunkt ihrer Arbeiten war das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden in der Tschechoslowakei. Für die Prager Zeitung Tribuna schrieb sie eine Serie von Reportagen über die soziale Lage in Wien, die sie als Journalistin bekannt machte.[2] Daneben entstanden Übersetzungen von Texten Franz Werfels, Kurt Landauers und Rosa Luxemburgs.[3]

1927 heiratete sie Jaromír Krejcar (1895–1950), einen führenden Architekten der Prager Avantgarde, mit dem sie die Tochter Jana Krejcarová (1928–1981) hatte.

Jesenská litt unter Arthritis im Kniegelenk. Nach der Geburt ihrer Tochter Jana verstärkten sich die Schmerzen derart, dass sie nur noch mit Morphin behandelt werden konnte, von dem sie nach kurzer Zeit abhängig wurde. Sie verlor wegen eines einjährigen Krankenhausaufenthaltes ihren Arbeitsplatz und kämpfte, zunächst erfolglos, gegen die Sucht an.

1931 trat Milena Jesenská der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bei. Aufgrund einer kritischen Äußerung über den Stalinismus wurde sie 1936 aus dieser Partei ausgeschlossen. In einem Brief an Olga Scheinpflugová schrieb Jesenská dazu: „die Menschen aus dem kommunistischen Apparat sind das schlimmste, was ich auf der Welt kenne ... jeder, der selbständig denken will – wird sofort beseitigt.“[6]

Sie wurde Kommentatorin der liberal-demokratischen Kulturzeitschrift Přítomnost (Gegenwart). In einer ihrer ersten Reportagen, „Gestrandete Menschen“ überschrieben, schilderte sie die Ankunft deutscher, vor dem Nationalsozialismus geflüchteter Emigranten in Prag.[7] Sie freundete sich mit dem Exilanten und Journalisten William S. Schlamm an, dessen Texte sie für die Zeitschrift übersetzte. Wenig später gelang es ihr nach acht Jahren Morphiumsucht, sich innerhalb von zwei Wochen davon zu befreien.

Nach der durch das Münchener Abkommen erfolgten Okkupation durch das nationalsozialistische Deutsche Reich und anschließender Zerschlagung der Rest-Tschechei schloss sie sich 1939 dem antifaschistischen tschechoslowakischen Widerstand an. Sie nahm die illegale Arbeit bei der Zeitschrift V boj (In den Kampf) auf und organisierte die Flucht von Juden und jüdischen und nichtjüdischen Emigranten aus der Tschechoslowakei. Sie half Funktionären der KPTsch, sich vor der Gestapo zu verstecken.[3] Im November 1939 wurde sie von der Gestapo verhaftet und in das Dresdner Untersuchungsgefängnis gebracht. Es folgte ein Prozess in Dresden, der mit einem Freispruch endete. Dennoch wurde sie „zwecks Umerziehung“ ins KZ Ravensbrück deportiert. Hier erhielt sie die Nummer 4714 und aufgrund der Nummer den Spitznamen „4711 – Kölnisch Wasser“. Die Kölner Künstlerin Tanya Ury erinnerte an diese Geschichte im Rahmen der Videoinstallation Kölnisch Wasser. 2012 entdeckte die polnische Bohemistin Anna Militz in einem Prager Archiv 14 Briefe und Kassiber aus der Haft an die Familie.[8]

Margarete Buber-Neumann (1901–1989) beschreibt in ihrem Buch Milena, Kafkas Freundin die sich entwickelnde Freundschaft zwischen den beiden Frauen und deren letzte Monate im Konzentrationslager Ravensbrück. Mit diesem Vermächtnis erfüllte Buber-Neumann den letzten Wunsch Jesenskás, die am 17. Mai 1944 an den Folgen einer Nierenoperation im Alter von 47 Jahren im Konzentrationslager starb.[9]

Ihre gesammelten Feuilletons und Reportagen kamen in der Buchausgabe Prager Hinterhöfe im Frühling (Wallstein Verlag) im Februar 2021 auf den zweiten Platz der internationalen deutschsprachigen Sachbuch-Bestenliste.[10] Inhaltlich bekräftigt diese Zeitungsessay- und Reportagensammlung den Autoren-Eigenwert der Prager Journalistin Milena Jesenská jenseits von Bezugnahmen auf Franz Kafka, meint die Rezensentin des Deutschlandfunks.[11]

Ehrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Margarete Buber-Neumann: Milena, Kafkas Freundin. Langen Müller, München 1977 (und 4. Auflage 2000), ISBN 3-7844-1680-2.
  • Lucyna Darowska: Widerstand und Biografie: die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus (= Edition Politik. Band 4). Transkript, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-8376-1783-2 (Dissertation Universität Gießen 2012, 528 S.).
  • Ota Filip: Wer war Milena? Auf Spurensuche in Oslo – Franz Kafka war für sie nur eine Episode. In: Die Zeit, 7. Januar 1983 (Gespräch mit Hana Šklíbová (1897–1987) und Anna Kvapilová (1905–1992))
  • Simone Frieling: Sie ist mir unerreichbar. Milena Jesenská und Franz Kafka. In: Simone Frieling (Hrsg.): Dichterpaare. Lass uns Worte finden ... Mit Grafiken von Simone Frieling. Blue Notes, Band 88. Ebersbach & Simon, Berlin 2020, ISBN 978-3-86915-215-8, S. 11–39.
  • Mary Hockaday: Kafka, Love and Courage – The Life of Milena Jesenská. André Deutsch Verlag, London 1995, ISBN 0-233-98954-4; Fist american edition, Overlook Press, Woodstock, NY, ISBN 0-87951-751-4 (englisch).
  • Franz Kafka: Briefe an Milena. Fischer, Frankfurt am Main 1987; Neuauflage 2011, ISBN 978-3-596-25307-4.
  • Marta Pelinka-Marková: Mýtus Milena. Milena Jesenská jinak. Primus, Prag 1993, ISBN 80-85625-14-8 (dt.: Der Mythos Milena).
  • Alois Prinz: Ein lebendiges Feuer. Die Lebensgeschichte der Milena Jesenská. Beltz & Gelberg, Weinheim 2016, ISBN 978-3-407-82177-5.
  • Steve Sem-Sandberg: Ravensbrück. Roman. Bender, Stockholm 2003, ISBN 91-0-010019-6 (schwedisch).
  • Margret Steenfatt: Milena Jesenksá. Biographie einer Befreiung. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002, ISBN 3-434-50215-7.
  • Alena Wagnerová: Milena Jesenská. „Alle meine Artikel sind Liebesbriefe“. Biographie. Bollmann, Mannheim 1994, ISBN 3-927901-54-7.
  • Alena Wagnerová: „Sie war ein lebendiges Feuer.“ Milena Jesenskás Briefe aus dem Gefängnis. In: Neue Rundschau. Jg. 126 (2015), Heft 2, S. 7–15.

Filme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Milena Jesenská – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Margarete Buber-Neumann: Milena, Kafkas Freundin, S. 79.
  2. a b Alena Wagnerová: Die große Deuterin der kleinen Dinge. Milena Jesenská kennt man meist nur als Freundin von Kafka. Nun lässt eine große tschechische Ausgabe zum ersten Mal die Dimension und die Bedeutung ihres Schreibens sichtbar werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Oktober 2017, S. 13.
  3. a b c Christiana Puschak: Ihrer Zeit weit voraus: Milena Jesenska. Zum 120. Geburtstag der tschechischen Journalistin, Kafka-Übersetzerin und Antifaschistin. In: junge Welt. 12. August 2016, Nr. 187, S. 15.
  4. Willy Haas: Nachwort. In: Franz Kafka: Briefe an Milena. Fischer, Frankfurt am Main 1952, S. 271.
  5. Bertram Kazmirowski: Erinnerungen an Milena. In: Vorschau und Rückblick. Heft 8, 2015, ZDB-ID 1192547-4.
  6. Zitiert nach: Christiana Puschak: Ihrer Zeit weit voraus: Milena Jesenska. Zum 120. Geburtstag der tschechischen Journalistin, Kafka-Übersetzerin und Antifaschistin. In: junge Welt. 12. August 2016, Nr. 187, S. 15.
  7. Přítomnost. 27. Oktober 1937, übersetzt von George Gibian unter dem Titel: Refugees from Hitler in Czechoslovakia, 1937–1939. Milena Jesenska. In: Cross currents. Hrsg. vom Department of Slavic Languages and Literatures, University of Michigan, Ann Arbor, Jg. 2 (1983), ISSN 0748-0164, S. 183–194, hier S. 185–187 (englisch; umich.edu).
  8. Alena Wagnerová: „Sie war ein lebendiges Feuer.“ Milena Jesenskás Briefe aus dem Gefängnis. In: Neue Rundschau. 2015.
  9. Doris Liebermann: Vor 75 Jahren gestorben – Die Journalistin und Kafka-Übersetzerin Milena Jesenská. In: deutschlandfunk.de. Deutschlandfunk, 17. Mai 2019, abgerufen am 17. Mai 2019.
  10. Die „Sachbücher des Monats März 2021“. In: buchmarkt.de, 24. Februar 2021, abgerufen am 25. Februar 2021.
  11. Angela Gutzeit: Milena Jesenská: „Prager Hinterhöfe im Frühling“ – Die Radikalität des Herzens. Rezension. In: deutschlandfunk.de. 25. Januar 2011, abgerufen am 25. Februar 2021.
  12. Milena Jesenská Fellowships for Journalists. In: iwm.at, abgerufen am 20. April 2021.
  13. Briefe der Milena Jesenská „Eine liebende Frau und Mutter“. Alena Wagnerová im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich. In: deutschlandfunk.de. Deutschlandfunk, 21. Juni 2015, abgerufen am 21. April 2021 (Interview mit der Biografin und Herausgeberin Alena Wagnerová).
  14. Richard Kämmerlings: Briefe aus dem KZ. In: welt.de. 15. Juni 2015, abgerufen am 21. April 2021.
  15. Volker Weidermann: Frau ohne Weltordnung. In: Der Spiegel. Nr. 26, 2015, S. 138 (online).
  16. Jana Krejcarova (1928–1981), verheiratet Jana Černá, war die Tochter von Milena Jesenská und dem Architekten Jaromír Krejcar.