Streifzüge, Heft 75
Mai
2019

Ein Leben in Stress

Notizen gegen Staat und Politik

„Politik“ ist griechisch und meint die „Technik“, das Leben der politai/Bürger in der polis/dem (Stadt-)Staat zu regeln. In den Politai wie den Bürgern steckt die Mauer, die der Stadt, die der Burg. Verteidigung und Angriff, Gewalt und Krieg. Konstitutiv für „Politik“ ist der Stress des Fremden und des Feinds. Er begründet die Komplizenschaft der bewaffneten „Bürger“ und die Bereitschaft zu Feindschaft. Den Mitbürger unterscheidet vom Feind und Konkurrenten, dass er mit einem auf derselben Seite kämpft, nicht aber unterscheidet sie, dass der eine wie die andere konkurriert und, wenn es sich ergibt, haut, sticht und schießt.

1.

Nach über zweitausend Jahren hat sich dieses Muster in den Alltag durchgeätzt. Es ist Politik geworden. Der Stress von Kampf und Krieg ist im Kapitalismus als Wirtschaft Normalzustand geworden. Der Feind ist in Ranking, Wettbewerb und jeder Art von Markt allgegenwärtig, Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft. Wir haben ein Leben im Gerangel mit Geld, mit Kaufen und (sich) Verkaufen. Mit „Tausch“ halt. Als „Tauschgegner“ sind wir umso besser dran, je mehr wir täuschen können. So ein Leben stellt uns regelmäßig gegeneinander auf. Getauscht wird, wenn nehmen / rauben sich nicht rentiert. Tauschen ist die gebremste Form des Raubens. Dieses ist das Ideal: Nehmen ohne zu geben. Die Relation des Tauschs hat in jedem Fall mit Macht, mit Sieg und Niederlage, zu tun. So auch der Preis / Lohn der Arbeit. Politik und Staat regeln beides, den Tausch wie auch den Raub, unter den Bürgern und mit ihnen gegen andere.

Menschen, die non Kampf, Konkurrenz und Wettbewerb zu Bürgern gemacht sind, tun sich schwer, sich als Freunde arglos und fürsorglich aufeinander einzulassen, leichter von der Hand geht der Umgang mit Mensch und Mitwelt als (Banden von) Subjekte(n) mit Objekten. Statt um Lust und Freundschaft miteinander geht es darum, wozu wir das Andere benutzen können und wer oder was nutzlos oder schädlich ist. Bürgerliches Recht regelt den Umgang von Gegnern, um deren Feindschaft untereinander latent zu halten und sie als „Freunde“ gegen den Außenfeind zu stellen. Die „mehr als menschliche Welt“ ist nichts als ein Bergwerk zum „Ausbeuten“ eines Rohstoffs.

2.

Politik gilt als souverän, an allem schuld und zu allem im Gutem wie im Bösem fähig. Sie hängt jedoch in ihrer aktuellen Form am Tropf der Geldvermehrung per Kapitalverwertung. Politik kann deren Widerpart nicht sein, sie ist die andere Seite der Medaille, Ausdruck desselben Stresses. Sie formiert und verwaltet, ob demokratisch oder diktatorisch, die Staaten als „Standorte“ des konkurrenzfundierten Kapitals. Sie teibt die Bürgerinnen gegen die Konkurrenz der andern Staaten, drückt unter diesen die schwachen nieder, sucht Anschluss an die starken, geht Bündnisse ein, führt Kriege oder vermeidet sie, ist schlicht dazu alles zu betreiben und zu ermöglichen, was sich „rentieren“ kann oder das „Sich-Rentieren“ unterstützt und sichert. Dafür schließlich bekommt sie Geld.

Aber als „business as usual“ funktioniert das heute nicht mehr. Die Verwertung scheint dauerhaft zu stocken, die erhoffte fünfte große Welle von Kapitalverwertung, die Informationstechnologie, entwertet seit über dreißig Jahren mehr variables Kapital, d.h. Arbeit, als sie neues schafft. Verwertung gelingt in Summe nicht mehr über Arbeit in Produktion und Verkauf, sondern fiktiv als Vorgriff auf eine Zukunft von Verwertung durch Arbeit, eine Zukunft, die nicht kommt. Die Spekulation ist ohne Deckung. Der Kapitalismus mutiert zu einer aggressiven Glaubensgemeinschaft für die wunderbare Wiederkehr des fetten Mehrwerts in der Industrie. An den sozialen Rändern schmilzt der industrielle Kapitalismus, das setzt seinen Gewaltkern frei, treibt zig Millionen Menschen in die Flucht.

Politik als Verwalterin der Krise wird auch im Zentrum zu einer Mischung von ratlos, wundergläubig, verrückt, brutal und blutig. Ob liberal und reformerisch oder nationalistisch, faschistoid und rassistisch, die Illusion, dass es mit Markt und Geld, mit Kapital und Arbeit weitergehen kann, ist zäh. Der Lohn der Arbeit fällt, die Schere zwischen reich und arm klafft immer weiter, die Staaten rüsten ihre Apparate auf zur Gewalt nach innen wie nach außen

3.

Zugleich setzt eine Flucht in Realien ein, die für Menschen unverzichtbar und kaum vermehrbar sind: Grund und Boden, um davon sich zu ernähren und darauf zu wohnen. Auch die von den Staaten erstellte und verwaltete Infrastruktur wird vom großen Geld weltweit als private Monopole übernommen. Das Kapital will „auf der sicheren Seite sein“, was immer mit der Geldvermehrung durch Arbeit auch geschieht. Mit einer herrschaftliche Lösung der Krise, der es gelänge, globale Monopolrendite an die Stelle der Verwertung zu setzen und Geld zu Bons für brave Dienste zu machen, um die der Großteil der Menschheit sich prügeln muss und in globaler Dummheit auch prügelt – damit ließe sich vielleicht weiter Staat machen. Im dystopischen Roman „Globalia“ hat Jean Christophe Rufin dies als düsteres Ergebnis globaler Vernichtungskriege literarisch dargestellt.

4.

Die „mehr als menschliche Welt“, die „Natur“, „die Erde“ ist von uns „untertan zu machen“, das ist die Berufung der „Krone der Schöpfung“, der „Ebenbilder Gottes“, das gilt schon als biblisch und ist weithin unbestritten. Es ist pure Illusion und Hybris. Die Mitwelt ist dem Menschen nicht untergeordnet und auf Dauer dienstbar. Es sind Wesen sui generis in ihrer lebendigen, organischen und anorganischen Vielfalt, mit denen wir vor- und rücksichtsvoll im Wissen um unseren Zusammenhang mit ihnen und um die Beschränktheit unseres Wissens umgehen müssten. Keines ihrer Geschöpfe kann die Erde beherrschen. Die Reaktion der Erde auf die Lebensweise des dominanten Teils der Menschheit zeigt das deutlich – Klimaerwärmung, Artensterben, Rückgang der Bodenfruchtbarkeit, Erschöpfung von Ressourcen usw.

Entweder wird die Lebensweise schleunig geändert, oder ein Großteil der Menschheit wird an der Reaktion der Erde zugrundegehen, absaufen, verhungern oder im Kampf ums Überleben an den Brutalitäten von Nationalismus, Klassismus, Religion, Rassismus sterben. Die Wirtschaftsweise, die Mensch und Welt zum Rohstoff und Mittel für den Zweck grenzenlosen Geldwachstums macht, fährt gegen die Wand. Für diesen absurden Zweck werden wir einem wahnsinnigen Konkurrenzkampf unterworfen, wird unsere Lebenszeit verschwendet, zahllose Lebewesen gemordet und die Ressourcen der Erde für eine Produktion verschwendet, die zu einem Großteil Ramsch und Gift ist und uns bestenfalls mit Surrogaten eines guten Lebens abspeist.

5.

Dieser Gang menschlicher Entwicklung der letzten paar tausend Jahr war nie unbestritten. Bessere Lebensweisen wurden mit Gewalt erstickt. Von der Luxus-Kritik der Kyniker und (vor allem) häretischer Teile des Christentums und der Mystik über die franziskanische Geschwisterlichkeit der ganzen Welt bis zur Konsum- und Zivilisationskritik der Beatniks, Hippies und Kommunen, der kritischen Theorie, der Versuche solidarischen Wirtschaftens und der Verteidigung der Subsistenz liegen Gedanken und Praktiken zum Entwickeln an. Eins muss sich bloß umschauen, die Versuche sind unterwegs und haben Bedarf an Mittun und auch an jeder Menge Entwicklung, Kritik und Korrektur.

Die Frage ist, ob Gemeinschaften sich bilden, die Zugang zur Erde haben, nicht um darüber zu verfügen, sondern um mit ihr zu leben, nicht mit einer Kultur herrschaftlichen Zugriffs, sondern mit einer des Teilens und des Miteinanders, einer des gemeinsamen Daseins und gegenseitiger Versorgung. Statt als Bürger als gute Nachbarn leben, wie William Morris sagt.

Der Widerspruch und Widerstand gegen das üble Alte und der Lernprozess mit den Experimenten, für das Neue Boden zu gewinnen, werden sich angesichts der heraufziehenden multiplen Katastrophen noch sehr verdichten, und es wird noch viel dafür zu lernen sein, wie eins die Gewalttätigkeit der Verteidiger des tief gestaffelten Systems von Herrschaft unterlaufen kann, ohne selbst in der Gewaltlogik aufzugehen. Wenn uns das vorgefundene Leben schon stressen muss, dann sollten wir uns doch lieber dafür „stressen“, da heraus zu kommen. Das könnte auf dem Weg auch lustvoll sein.

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