MOZ, Nummer 51
April
1990
Radio Berlin/West:

Ein ganz geiles Gefühl

Radio 100, ein alternativ-kommerzieller Westberliner Radiosender, ist in Schwierigkeiten. Unklare rechtliche Verhältnisse, Kapitalmangel sowie die DDR-Auflösung machen zu schaffen.

Radio 100: Berliner Politiker nackt im Radio
Bild: Karl Lind

Millionen von Berliner/innen können nicht mehr abschalten. Total übernächtige Menschen schleppen sich an ihre Werkbänke, Schreib- und Schultische. Oder auch nicht. Und trotz Ringen unter den Ohren machen die typischen Radio 100-Hörer/innen einen gefährlich wachen Eindruck. „Die müssen da irgendwas Dolles reintun“, vermutet Herbert G., 42, Busfahrer aus Leidenschaft, „in diese Radiostrahlen.“ Was immer das auch sein mag, der Text der Radio 100-Werbeaussendung ist etwas übertrieben. „Berliner Politiker nackt im Privatradio!“ Alle konnten es hören. „Jetzt reicht’s, das war der reinste Seelenstriptease“, beklagt sich Heinrich G., „die haben mich mit ihren Fragen quasi ausgezogen.“ Schutzlos wurde der beliebte Politiker, Vater von drei gesunden Kindern, den Ohren der Öffentlichkeit vorgeworfen. Wir fragen uns — „Ist das der neue Stil der Privaten?“

Rund 80 Prozent live

Montag morgens tagt, in den Redaktionsräumlichkeiten von Radio 100 — Ecke Potsdamerstraße/Bülowstraße —, im gründerzeitlichen „Neue Heimat“-Bau, die sogenannte Kernredaktion. Ein Gremium von sieben Redakteur/inn/en, paritätisch besetzt und jährlich vom Mitarbeiter/innenplenum gewählt. Holzvertäfelte Wände, darüber Bewegungsposter. „Waffen für El Salvador“ und „Wer Shell tankt, tankt Apartheid“. Gleich drunter eine modifizierte Grenztafel, wie sie im Original an den Übergängen nach Berlin, Hauptstadt der DDR, rumhängen. „Achtung Ausländer, Sie verlassen jetzt sofort Westberlin.“ Am Redaktionstisch leere Bierdosen, Marke Schultheiss, Zigarettenpäckchen, Marke Gauloises und Pall Mall, ohne Filter.

In den dahinter liegenden Räumen die Studios, gerade mal soweit ausgebaut, daß rund 80 Prozent der Beiträge live raus müssen, weil die Studiokapazität einfach nicht ausreicht, um mehr vorzuproduzieren. Die Zimmer der Geschäftsführung und Werbeabteilung liegen unmittelbar neben dem Eingang.

Als Radio 100 vor rund drei Jahren auf Sendung ging, hatte es „feministischen Anspruch“. Heute klärt Thomas Thimme, der Geschäftsführer, seine junge Mitarbeiterin, die vor drei Wochen die PR-Agenden übernommen hat, abgeklärter auf: „Es kommt nicht darauf an, was du denkst, sondern daß es klappt.“

Die Geschichte des kommerziell-alternativen Radios pendelt zwischen Anspruch und Wirklichkeit, also zwischen politischem Engagement und real existierender Marktwirtschaft. „Die vier Gründungsmitglieder“, meint Annette Schäfer, Sprecherin des an der Gesellschaft zu 34 Prozent beteiligten Mitarbeiter/innenvereins, „kamen aus dem alternativen, radikalen bis hin zum sozialdemokratischen Spektrum. Ein ganz weites, linkes Bündnis, eine Art Zwangsehe, von der Gewerkschaft bis zur Hausbesetzerszene. Nicht mit viel Liebe geschlossen.“

Am ersten März 1987 meldete sich denn Radio 100 erstmals auf der ersten privaten Radiofrequenz Westberlins. Täglich vier Stunden, von 17 bis 21 Uhr. Vorerst wurde die Frequenz mit Ulrich Schamonis „Radio 100,6“ geteilt, eine Station, die so etwas wie „Bild im Radio“ produziert. Patriotisch, wie es Berliner/innen gerne haben, ließ SPD-Mitglied und Bauunternehmer Schamoni sein Programm, staatstragend, mit dem Abspielen der Nationalhymne ausklingen. „Wir haben dann“, erinnert sich eine der Gründerinnen, „unsere vier Stunden immer mit dem Geräusch der Klospülung begonnen.“

Nach drei Monaten sei, sagt Schäfer, die Zwangsehe zerbrochen, die Verträge seien gekündigt worden, weil sich die Gesellschafter nicht über Linie und Ziel einig werden konnten. Bis zum Mai 1988 blieben die rechtlichen Verhältnisse ungeklärt, die Mitarbeiter/innen setzten, entweder schlecht oder gar nicht bezahlt, ihre Arbeit fort.

Inzwischen teilte der Berliner Kabelrat dem Alternativsender eine andere Frequenz zu, erneut saß ein zweiter Veranstalter mit auf der Welle, diesmal „Radio in Berlin“, später umbenannt in „Radio Hit“. Gesellschafter des Flachsenders: Bertelsmann, Springer, Holzbrinck und RTL. Dafür durfte „Radio 100“ nach der Übersiedlung zwei Stunden länger senden. Und das täglich.

Doch den Kommerz-Kollegen der Medienkonzerne wollte so Rechtes nicht ganz gelingen. Was in Hamburg ausgezeichnet klappte, funktionierte an der Spree nicht: Der mit 19 öffentlich-rechtlichen, staatlichen, alliierten und privaten Sendern bereits übersättigte Berliner Markt blieb dem Neuling verschlossen. Trotzdem — oder vielleicht gerade weil — selbst Rudi Klausnitzer sich um die Erhöhung der Einschaltquoten bemüht hatte.

Volle Frequenz für Radio 100

Nach dem Kollaps von „Radio Hit“ erhielt „Radio 100“ die Restfrequenzzeit zugesprochen, verfügt also seit dem Herbst des Vorjahres über das Vierfache an Sendezeit. „Das war“, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin, „ein ganz geiles Gefühl. So wie der Sieg Davids über Goliath. Man hat uns die Tür eingerannt, alle wollten ihre eigene Sendung.“ Heute, rund ein halbes Jahr später, ist wieder Nüchternheit eingekehrt in die Räume an der Potsdamer Straße. Trotz der Vollfrequenz lassen die Inserenten auf sich warten, bleiben die Einschaltquoten unter den Erwartungen. „Wir haben“, meint Schäfer, „in Berlin einen ganz guten Markt. Doch an die Gelder der BRD-Werbeagenturen kommen wir nicht ran. Die interessieren nur die Ergebnisse der letzten Medienanalyse.“ Und die sind so gar nicht besonders. „Die Hörerzahl des Alternativsenders liegt unterhalb der Grenze statistischer Meßbarkeit“, schreibt das Stadtmagazin „Zitty“ unter Berufung auf die 1989er-Analyse. Die allerdings zu einem Zeitpunkt stattfand, als noch die Sechs-Stunden-Frequenz aktuell gewesen war.

Für Annette Schäfer liegt’s nicht an der Programmstruktur, denn die sei an und für sich richtig. Das Problem sei vielmehr die viel zu dünne Kapitaldecke, die keine vernünftige Programmgestaltung zulasse. Dies wiederum brächte geringere Reichweiten und somit unausreichende Werbeeinnahmen.

Ein Kreislauf, den zu durchbrechen noch keinem Alternativsender gelungen ist.

Um denn das Überleben von Radio 100 zu sichern, müssen Kapitalgeber her. Die Struktur des Unternehmens vermag potentielle Financiers nicht so richtig zu locken, sind doch dessen demokratische Einrichtungen einer Behauptung am rauhen Medienmarkt abträglich. So bleibt Gesellschaftern und Geschäftsführung beinahe kein Einfluß auf die Programmgestaltung, die alleine bei der demokratisch legitimierten Kernredaktion liegt, welche wiederum jährlich vom Mitarbeiter/innenplenum neu gewählt wird. Ihr obliegt auch die Einstellung und Entlassung von Mitarbeiter/innen. Zumindest theoretisch, da es praktisch keine — teuren — Fixanstellungen gibt. Einheitsgehalt bei Radio 100: 1.400 DM, über Honorarnote. Gesamtbudget im Monat: 125.000 DM, ein Fünftel des Schamoni-Senders.

Jene, die ihr Geld zum Zwecke der Anlage und Vermehrung in so ein Projekt stecken wollen, sind notwendigerweise keinesfalls zahlreich. Wie sich die alternativen Berliner/innen auch wenig interessiert zeigen, ihr Alternativradio, ähnlich wie die Zürcher/innen mit Radio „LoRa“, über Mitgliedsbeiträge oder Spenden zu finanzieren.

Radio 100 hat Handlungsbedarf.

Denn die Entwicklungen zum neuen Großberlin werden zu einer Strukturbereinigung — nicht nur im Hörfunkbereich — führen. Wiedervereinigung und Großdeutschland beschleunigen, den westeuropäischen Trend zur Konzentration und Kommerzialisierung. Die Herausbildung von Networks sowie die zunehmende Verflachung der Programminhalte der Privaten zwingt die öffentlich-rechtlichen Sender zum Mitziehen, wie kleine, demokratisch strukturierte Radiostationen den Betrieb einzustellen genötigt werden. Zentral produzierte Mantelprogramme, in die lediglich lokale Fenster eingeschnitten werden, um den Charakter der Regionalität zu betonen, dominieren längst die westeuropäische Radiolandschaft. Die prekäre Situation von Radio 100 ist mithin lediglich ein Beispiel für phantasielose staatliche Medienpolitik.

Schamoni-Sender: „Bild“ auf Radio

Längerfristige Gesetzgebung

Im Jahre 1985, zu einer Zeit also, in der die letzten Monopole fielen, begann man auch im damals noch konservativ regierten Berlin/West, sich Gedanken zur Rundfunkliberalisierung zu machen. „Der Kabelrat kam“, sagt Hans Hege, FDP, Direktor des Berliner Kabelrats, „als es darum ging, in Berlin privaten Rundfunk einzuführen. Er hat zwei UKW- und eine Fernsehfrequenz vergeben. Beide Versuche sind befristet, weil man gesagt hat, die Medienentwicklung ginge so schnell. Nunmehr steht die längerfristige Gesetzgebung an.“

Der Kabelrat, ein Fünfer-Gremium, nach den Mehrheitsverhältnissen im Abgeordnetenhaus besetzt, vergab Frequenzen und diente als Überwachungsinstitution. Mann beobachtete die Entwicklung im privaten Rundfunkbereich und sorgte für die Einhaltung gesetzlicher Richtlinien sowie der guten Sitten. Er sollte Schleichwerbung genauso verhindern wie den unkontrollierten Einstieg von Zeitungsverlagen ins lukrative Privatradiogeschäft.

Nun sollen die Erfahrungen aus fünf Jahren Privatradio in ein Ländergesetz einfließen, im Juli endet die Kabelratsperiode, danach bewegt man sich im gesetzesfreien Raum. Jeder kann, wie er gerne will. Gelingt es dem Berliner Senat nicht, ein Gesetz zum Thema Privatfunk zu verabschieden, schaffen die stärksten privaten Anbieter ein „fait accompli“. Nach der Herausbildung eigener Marktstrukturen ist es noch keinem Gesetzgeber gelungen, in die weitere Entwicklung gestaltend einzugreifen.

Das wissen Kabelrat — „Der Spielraum für die einzelnen Länder wird immer geringer“, so Hege — und Regierungsparteien: „Wir müssen das noch vor dem Sommer beschließen“, meint Alice Ströwer, Medienreferentin der AL-Fraktion.

Die SPD aber zögert, wünscht sie sich doch einen Großberliner Sender „Brandenburg“, verbindliche Gesetzestexte können da nur hindern. Ströwer allerdings zeigt sich zuversichtlich: „Die neue Regelung hat eine grundsätzlich andere Konstruktion. Wir wollen Durchsichtigkeit bei allen Entscheidungen und öffentlich-rechtliche Kontrolle in Form von relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Bei diesem Gremium, das wir Rat nennen, wird die Kompetenz liegen, Lizenzen zu vergeben und gegebenenfalls Sanktionen auszusprechen. Das Gremium wird grundsätzlich öffentlich tagen.“

Was allerdings, würde es dies eben nicht, für Hans Hege nicht weiter schlimm wäre: „Selbst wenn es kein Gesetz gibt, ist das kein Beinbruch. Die eigentlichen Probleme sind nicht mit Gesetzen zu lösen.“

Kein Stein wird auf dem anderen bleiben

Neben einer verbindlichen Lösung bevor Berlin zusammenwächst — für die Privaten fordert Alice Ströwer eine Reform der öffentlich-rechtlichen Anbieter: Vereinfachter Zugang für gesellschaftliche Gruppen zur Programmgestaltung, weg vom hierarchischen Intendantensystem, Demokratisierung sowie mehr Mitsprache der Bediensteten, also derjenigen, die die Programme gestalten.

Alleine, die SPD wird’s nicht zulassen. Trotz Koalitionsvereinbarung und Beteuerungen.

Denn nichts wird in Zukunft so sein, wie es vorher war, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, ist die DDR erst angeschlossen und die offene Frage, was denn mit den Sendern der Alliierten geschehen solle, beantwortet. So betreiben die Besatzungsmächte ihre Militärsender, und die Amerikaner finanzieren als Relikt aus den Zeiten des Kalten Krieges — den in Berlin höchst beliebten (rund 25% Reichweite) Sender RIAS. Extra gegründet, um den Leuten in der Ostzone von den Errungenschaften des goldenen Westens zu funken. Das sehen die ja mittlerweile selbst, und so ist der Weiterbetrieb von RIAS fraglich.

Ebenso ungeklärt ist die Frage, was mit den DDR-Stationen geschehen soll.
„Es wird in der DDR versucht“, weiß Hans Hege, „Frequenzen, die unter Umständen frei werden, privatwirtschaftlich zu betreiben. Die richten sich dann auch auf den Markt im Westen, der dann noch mehr strapaziert wird.“ So versuchen Anbieter, die im Westen keine Frequenz zugeteilt erhalten, in den Osten der Stadt auszuweichen, wo sie sich eben eine zu ersteigern erhoffen. Ebenso tummeln sich westliche Großverlage rege in der DDR, um Ausschau nach Einkaufsmöglichkeiten zu halten. Ob Sender oder Zeitungsverlage, Joint-Ventures, Beteiligungen oder Großeinkauf, den Westkonzernen ist alles recht, behindert sie doch im Osten keinerlei Kartellgesetz, das sie in der BRD immer wieder zwingt, ins Ausland zu expandieren.

„Man sollte“, meint Ströwer empört ob des Verhaltens der Westverlage, „den Leuten in der DDR mal die Zeit geben, daß sie sich überlegen können, welche Rechtskonstruktionen sie denn eigentlich wollen. Es wird überhaupt nicht zugelassen, ihnen eine eigene Entwicklung zuzugestehen.“

Eine Vorschau auf die Entwicklungen am elektronischen Medienmarkt lieferten Mitte März die Verlage Burda, Springer, Bauer und Gruner & Jahr, als sie Zeichen im Printbereich setzten. So haben sie, generalstabsmäßig und ohne die zuständigen Behörden zu fragen, die DDR vertriebsmäßig unter sich aufgeteilt. Bauer erhielt im Norden Mecklenburg und Brandenburg, Springer und Burda teilen sich Sachsen und Thüringen, Gruner & Jahr wurde mit dem Großraum Berlin beglückt. Das Bundeskartellamt hat, obwohl für die DDR gar nicht zuständig, aus Wettbewerbsgründen energisch gegen den Alleingang der Vier protestiert.

Für Radio 100 keine unwesentliche Entscheidung.

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