Internationale Situationniste, Numéro 4
 
1976

Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen

Auf der Ebene des alltäglichen Lebens würde diese Intervention zu einer besseren Verteilung ihrer Elemente und Augenblicke in den „Momenten“ führen, so dass der Lebensertrag der Alltäglichkeit, seine Kommunikations- und Informationsfähigkeit verstärkt werden, wie auch und vor allem seine Fähigkeit, das natürliche und gesellschaftliche Leben zu genießen. Die Theorie der Momente liegt also nicht außerhalb der Alltäglichkeit, sie würde sich dagegen in sie eingliedern, indem sie sich mit der Kritik verbindet, um ihr das beizubringen, was ihr an Reichtum fehlt. Sie würde dadurch danach streben, die alten Gegensätze zwischen Leichtfertigkeit und Schwerfälligkeit, Ernst und Mangel an Ernst innerhalb der Alltäglichkeit in einer neuen Form des einzelnen, mit dem Ganzen verbundenen Genusses aufzuheben.

Henri Lefebvre (Die Summe und der Rest)

In dem von Henri Lefebvre dargelegten programmatischen Denken bezieht sich die Theorie der Momente, die eine „Vielfalt relativ privilegierter Momente“ als „Anwesenheitsmodalität“ definiert, unmittelbar auf die Probleme der Schaffung des alltäglichen Lebens. In welchem Verhältnis stehen diese „Momente“ zu den Situationen, die die S.I. zu definieren und zu konstruieren vorhat? Wie weit kann man die Beziehungen zwischen den beiden Begriffen gebrauchen, um die jetzt zutagetretenden gemeinsamen Forderungen zu verwirklichen?

Die Situation als gestalteter und organisierter Moment (diesen Wunsch drückt Lefebvre aus: „Dann wird die freie Handlung durch die Fähigkeit definiert … den Moment durch eine Verwandlung neu zu gestalten und vielleicht sogar zu schaffen“) schließt vergängliche, vorübergehende und einmalige Augenblicke ein. Sie ist die Gesamtorganisation, die solche gewagten Augenblicke leitet (bzw. fördert).

In der Perspektive des Moments ist nach Lefebvre also die konstruierte Situation dem Augenblick entgegengestellt, aber auf einer Mittelstufe zwischen dem Augenblick und dem „Moment“. Obwohl sie also einigermaßen — und zwar als Richtung und „Sinn“ — wiederholbar ist, ist die Situation an sich doch nicht wie der „Moment“ wiederholbar.

Wie der Moment kann die Situation „sich zeitlich ausdehnen bzw. verdichten“. Sie will sich aber auf die Objektivität einer Kunstproduktion gründen. Eine solche Kunstproduktion bricht mit den dauerhaften Werken radikal ab. Sie kann nicht von ihrem unmittelbaren Konsum getrennt werden als Gebrauchswert, der einer Erhaltung als Ware seinem Wesen nach fremd ist.

Für Henri Lefebvre ist es vor allem schwierig, eine Liste seiner Momente aufzustellen (warum sollte er lieber 10 davon aufzählen als etwa 15 oder 25 usw.). Was den „situationistischen Moment“ betrifft, liegt dagegen die Schwierigkeit darin, den genauen Punkt seines Endes zu bestimmen, seine Umwandlung in ein andersartiges Glied einer Situationenfolge — die wohl einer der Momente von Lefebvre sein mögen — oder in Leerlauf.

Der als allgemeine wiedererkennbare Kategorie aufgefasste Moment setzt mit der Zeit tatsächlich die Aufstellung einer immer vollständigeren Liste voraus, während die differenziertere Situation sich zu unendlich vielen Kombinationen eignet. So dass es unmöglich ist, eine Situation und deren Grenze genau zu bestimmen. Die Situation wird durch ihre Praxis, ihre überlegte Verwirklichung gekennzeichnet.

Lefebvre spricht z.B. vom „Moment der Liebe“. Vom Standpunkt der Schaffung der Momente, vom situationistischen Standpunkt aus, muss der Moment der bestimmten Liebe, der Liebe zu einem bestimmten Menschen betrachtet werden. Das heißt: dieses bestimmten Menschen unter diesen bestimmten Umständen.

Das Maximum des „konstruierten Moments“ ist die an dasselbe Thema geknüpfte Situationenfolge — diese Liebe zu diesem Menschen (ein „situationistisches Thema“ ist die verwirklichte Begierde): Das ist also gegenüber H. Lefebvres „Moment“ spezifiziert und nicht wiederholbar; gegenüber dem einmaligen, vergänglichen Augenblick dagegen sehr ausgedehnt und relativ dauerhaft.

Indem Lefebvre den „Moment“ analysierte, hat er mehrere grundsätzliche Bedingungen des neuen Betätigungsfeldes gezeigt, auf das eine revolutionäre Kultur jetzt zugeht. So z.B. wenn er bemerkt, dass der Moment zum Absoluten tendiert und es aus dem Weg schafft. Wie die Situation ist der Moment gleichzeitig Ankündigung des Absoluten und Bewusstsein des Vorübergehenden. Er steht tatsächlich auf dem Weg zu einer Einheit der Struktur und des Vorfalls und das Projekt einer konstruierten Situation könnte man auch als den Versuch definieren, eine Struktur in die Begegnung hineinzubringen.

Der „Moment“ ist vor allem zeitlicher Natur, er ist ein Teil einer nicht reinen, aber überwiegenden Zeitlichkeitszone. Die im Raum eng eingegliederte Situation ist ganz raum-zeitlicher Art (vgl. A. Jorn, über Raum und Zeit eines Lebens und A. Frankin über die Planung des individuellen Lebens). Die als „Situationen“ konstruierten Momente könnten als die Momente des Bruchs und der Beschleunigung, die Revolutionen im individuellen alltäglichen Leben betrachtet werden. Auf einer ausgedehnteren — gesellschaftlicheren — Raumebene wird ein Urbanismus, der Lefebvres Momenten und seiner Idee, diese nach Belieben zu wählen und zu verlassen, ziemlich genau entspricht durch die „Umgebungsviertel“ (vgl. G. Ivains Formular für einen neuen Urbanismus, Internationale Situationniste No. 1) vorgeschlagen, wobei die Einrichtung des „Schauerlichen Viertels“ z.B. ausdrücklich die Abschaffung der Entfremdung bezweckt.

Schließlich stellt das Problem der Begegnung der Theorie der Momente und einer operativen Formulierung der Konstruktion von Situationen folgende Frage: Welche Mischung, welche gegenseitigen Beeinflussungen sollen zwischen dem Verlauf (und dem Wiederauftreten) des „natürlichen Moments“ im Sinne von H. Lefebvre und gewissen künstlich konstruierten Elementen erfolgen, die also in diesen Verlauf hineingebracht werden und ihn quantitativ und vor allem qualitativ stören?

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