Grundrisse, Nummer 20
Juni
2006

Die Reife der Zeit: Zur Aktualität der Multitude

Gespräch von Colectivo Situaciones mit Paolo Virno
Colectivo Situaciones: Wir glauben, ein Gespräch mit dir muss von einer Prämisse ausgehen, die sowohl für deine Werke als auch für die so vieler anderer italienischer GenossInnen von großer Bedeutung ist: die Theoretisierung des Postfordismus vom Standpunkt der Arbeit und ihrer Veränderungen. Offensichtlich bringt der Postfordismus deiner Ansicht nach nicht spezialisierte Charakter- oder Wesenszüge der Art ins Spiel, die vorher außerhalb der kapitalistischen Produktion waren. Lässt sich nun gemäß dieser Sichtweise in deinen jüngsten Texten eine gewisse Kontinuität zwischen den Anliegen, die in der Grammatik der Multitude aufkommen, und diesen Erörterungen zum menschlichen Tier, zur Sprache, zur Innovation und zum „Offenen“ finden? Würdest du sagen, dass die Untersuchung des Postfordismus und der Multitude die Neurowissenschaften, die Anthropologie sowie die moderne Linguistik durchlaufen muss, um derart zur Natur des sprachbegabten Tieres und seinen aktuellen politischen Perspektiven vorzudringen? Wenn ja, warum? Ist es immer dasselbe politische Anliegen, das deine Untersuchungen durchzieht?

Paolo Virno: Ich kann mich sicherlich täuschen, aber mir scheint, dass selbst meine abstraktesten Untersuchungen der letzten fünfzehn Jahre von der zeitgenössischen Multitude ausgegangen sind. Die Multitude ist das grammatikalische Subjekt; die Analyse zur Struktur der historischen Zeit (Il ricordo del presente, 1999) sowie zu den wesentlichen Voraussetzungen der verbalen Sprache (Quando il verbo si fa carne, 2003) bezieht sich auf die Prädikate. Ich bin überzeugt davon, dass die Multitude die kollektive Seinsweise ist, die dadurch charakterisiert ist, dass alle natürlichen Voraussetzungen unserer Art unmittelbar politische Bedeutung erlangen. Daher erschien es mir wichtig, diese Bedingungen zu ergründen. Kurzschlüsse und brillante Formeln, mit denen man sich um jeden Preis einen Applaus zu sichern sucht, nützen offensichtlich überhaupt nichts. Wenn man von der verbalen Sprache oder von der historischen Zeit spricht, ist es, als ob man die Wüste durchquert: Man sieht sich vor Paradoxa und Sackgassen ohne Ausweg gestellt und verliert sich in komplizierten, nach bestimmten Instrumenten verlangenden Analysen. Erst am Ende eines nicht wenig gewundenen theoretischen Weges – und genau dank diesem – findet man (selbstverständlich nur manchmal) heraus, dass die gestellten Probleme es ermöglichen, die gegenwärtigen Handlungen und Leidenschaften – nicht metaphorisch, sondern wörtlich – besser zu verstehen.

Die Erörterung der „menschlichen Natur“ hat ganz zentral mit dem politischen Kampf zu tun, jedoch selbstverständlich nur unter der Bedingung, dass man einige signifikante Dummheiten vermeidet. Die dümmste dieser Dummheiten besteht darin, aus den unterschiedlichen Charakterzügen unserer Art eine politische Strategie – und im schlimmsten Fall sogar eine Taktik – ableiten zu wollen. Das macht Chomsky (der andererseits für die Kraft, mit der er gegen die Schurken der US-amerikanischen Administration kämpft, zu bewundern ist), wenn er sagt, dass das menschliche Tier, das mit phylogenetischen Mustern einer Sprache ausgestattet ist, die immer Neues hervorzubringen vermag, gegen die Mächte kämpfen muss, die seine angeborene Kreativität abtöten. Sehr gut. Was geschieht jedoch, wenn die sprachliche Kreativität zur wesentlichen ökonomischen Ressource im postfordistischen Kapitalismus wird? Die Anthropologie ist das Schlachtfeld der Politik, und nicht etwa eine Theatersouffleuse, die uns sagt, was wir tun sollen. Die „menschliche Natur“ – d. h. die biologischen Invarianten unserer Art – ist niemals Teil der Lösung, sie ist immer Teil des Problems.

Die großen Klassiker des modernen politischen Denkens, Hobbes und Spinoza, um nur die bekanntesten zu erwähnen, betrachteten die menschliche Natur als Rohstoff für die politische Handlung. Ein Rohstoff, aus dem die politische Handlung sehr verschiedene historisch-soziale Formen hervorbringen kann. Daher waren Hobbes und Spinoza nicht zuletzt tiefgründige und realistische Anthropologen. Aber was hat sich heute im Vergleich zu jener Epoche geändert, in der sich der moderne Staat formierte? Vor allem eines: Die wesentlichen Vermögen des menschlichen Tieres sowie außerdem seine charakteristischen Affekte verwandelten sich in die Antriebskräfte der sozialen Produktion. Marx bestimmte die Arbeitskraft als Inbegriff aller physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren.[2] Nun gut, diese Definition bewahrheitete sich in den letzten dreißig Jahren. Tatsächlich wurden die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten erst kürzlich in den Produktionsprozess eingespannt. Wer daher – unter Gesten der Verachtung – die Nachforschung über die „menschliche Natur“ vernachlässigt, ist außerstande, die herausragenden Charakteristika der zeitgenössischen Arbeitskraft zu begreifen. In der gegenwärtigen theoretischen Landschaft gibt es eine Menge NaturalistInnen, die für die Geschichte blind sind, sowie eine Menge HistorikerInnen, die sich empören, wenn von der Natur gesprochen wird. Der Mangel der einen wie der anderen liegt nicht in der Einseitigkeit ihrer Annäherungen, sondern im Gegenteil in ihrer jeweiligen Unfähigkeit, die Aspekte zu begreifen, auf die sie einseitig ihre Aufmerksamkeit richten. Jene, die eine ihrer geschichtlichen Dimension beraubte menschliche Natur kultivieren, begreifen diese Natur in letzter Instanz nicht; jene, die eine vom biologischen Hintergrund abgespaltene Geschichte kultivieren, erläutern mitnichten die Geschichte. Die Theorie der Multitude muss sich dieser doppelten Engführung entziehen.

Vielleicht ist es nicht zutreffend, von einem „Pessimismus“ zu sprechen, aber zweifellos stellt die Frage nach dem „Bösen“ im „offenen Tier“, das nun nicht mehr durch die Souveränität eines jetzt in der Krise befindlichen Staates geschützt ist, auch jene des Negativen wieder ins Zentrum deiner Reflexion und verleiht so dem Begriff der Ambivalenz mehr Schärfe. Woher rührt die Notwendigkeit, jetzt auf dem „Negativen“ zu beharren? Ist das auf politische und theoretische Konjunkturen zurückzuführen, die du uns erklären kannst, oder vielmehr auf einen anderen Typ reflexiven Anspruchs? Welche Konsequenzen hat diese Betonung in deiner Arbeit? Wie würdest du den theoretischen und politischen Status der „nicht-dialektischen Negation“ definieren?

Ich habe in den letzten Jahren vor allem zu zwei Fragen gearbeitet – eine sprachlogische sowie eine anthropologische Frage –, die beide mit der Multitude in Verbindung stehen. Die erste, die sprachlogische Frage lautet: Welche mentalen Ressourcen erlauben es uns, unsere Lebensform zu ändern? Worin besteht eine innovative Handlung? Was geschieht genau, wenn eine Regel nicht mehr funktioniert, sich aber noch keine andere gefunden hat, die sie ersetzt? Ich habe versucht, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, indem ich ein signifikantes Beispiel für sprachliche Kreativität im Detail untersuchte: den Witz. Der Witz ist ein Mikrokosmos, in dem dieselben Kräfte wirken, die uns im großen Maßstab den sozialen und politischen Exodus ermöglichen. Während ich also eigentlich von der Funktionsweise des humoristischen Satzes sprach, fand ich mich unter anderem mitten in der Erörterung des Ausnahmezustands und der Krise eines normativen Systems.[3]

Die zweite, die anthropologische Frage betrifft die unserer Art eingeschriebene destruktive Last, die „Negativität“, mit der ein mit Sprache begabtes Sein kämpfen muss. Diese beiden Fragen sind eng miteinander verknüpft. Es mag paradox anmuten, aber es sind dieselben Voraussetzungen, die einerseits die Innovation ermöglichen und andererseits die Aggressivität in den Konfrontationen zwischen Mitmenschen nähren. Man muss nur an die sprachliche Verneinung denken. Diese erlaubt es einerseits, dass man sich gegen ein ungerechtes Gesetz auflehnt, aber eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, dass man jemanden (z.B. eine JüdIn oder eine AraberIn) nicht wie einen Menschen behandelt. Die Essais dieses Sammelbandes sind der „Logik der Veränderung“ und dem so genannten „Bösen“ gewidmet. Ich wiederhole, dass beide Termini in der postfordistischen Multitude verkörpert sind. Man könnte es sogar so ausdrücken: Die Multitude oszilliert zwischen Innovation und Negativität.

Aber eure Frage bezieht sich vor allem auf die Negativität, auf das Gefährliche des menschlichen Tieres. Ich werde daher versuchen, etwas mehr zu diesem Aspekt zu sagen. Die Überlegung zur Negativität und zum Bösen entspringt nicht einem pessimistischen Urteil über die Gegenwart oder einem Misstrauen hinsichtlich der neuen Bewegungen. Im Gegenteil, die Zeit ist reif für diese Überlegung. Heute ist eine Öffentlichkeit außerhalb des Staates, ja sogar jenseits des Staats denkbar. Das heißt, es ist ganz und gar realistisch – in den sozialen Kämpfen – Institutionen aufzubauen, die keinen „Souverän“ als Oberhaupt haben und die jedes „politische Entscheidungsmonopol“ zerstreuen. Diese post-staatlichen Institutionen müssen bezüglich des Problems, wie die Aggressivität des menschlichen Tieres besänftigt und seine (selbst)zerstörerische Bürde, die es trägt, gezügelt werden kann, unterschiedliche Umgangsweisen anbieten – und es auf unterschiedliche Weisen lösen. Die Aktualität der Überwindung des Staates lässt Fragen wie diese dringlich werden. Ich wiederhole: Meine Überlegungen rühren gerade nicht von einer ungerechtfertigten Melancholie angesichts des Laufs der Welt her. Zu denken, die Multitude sei eine absolute Positivität, ist eine unentschuldbare Dummheit. Die Multitude ist vielmehr der Zerstreuung, der Korruption und der inneren Gewalt unterworfen. Andererseits sind ihre ersten Anzeichen nicht sehr überschwänglich. Als der Fordismus – in den 1980er Jahren – schnell in eine Krise eintrat, präsentierten sich die neuen Figuren der gesellschaftlichen Arbeit mit „schlechten“ Wesenszügen: Opportunismus, Zynismus und Angst. Wenn uns der Exodus über das Zeitalter des Staats hinausbringt, dann müssen wir das „Gerede in der Wüste“ berücksichtigen. Um das Gerede, also die der Multitude eingeschriebene Negativität, zu begreifen (erinnern wir uns an die nachweislich gegenüber den Schwächsten ausgeübte Gewalt im Stadion von New Orleans, wo jene „Vielen“ in Sicherheit gebracht wurden, die nicht die Mittel hatten, dem Wirbelsturm Katrina zu entkommen …), brauchen wir andere Kategorien als die Dialektiken und andere Begriffe als z.B. jenen der „Antithese“. Einverstanden. Aber wir brauchen Kategorien, die die Wirklichkeit des Negativen vollständig in sich aufnehmen können, anstatt sie auszuschließen oder zu verschleiern. Ich schlage daher die Begrifflichkeiten „Ambivalenz“ und „Oszillieren“ vor, so wie außerdem eine nicht freudianische Verwendung des Freud’schen Terminus des „Unheimlichen“. Nach Freud ist das, was uns Angst einjagt, nichts anderes als das, was in einem anderen Moment die Fähigkeit hatte, uns zu beschützen und zu beruhigen. Vielleicht kann diese dem „Unheimlichen“ eingeschriebene Bedeutung dazu dienen, zu sagen, dass die Destruktivität lediglich ein „anderer“ Ausdrucksmodus eben jener Fähigkeit ist, die es uns andererseits erlaubt, neue und bessere Lebensweisen zu erfinden.

In deiner Arbeit diskutierst du die Schmitt’sche Vorstellung der Souveränität. Zweifellos relativiert sich diese Diskussion durch die Diagnose der profunden Krise der Zentralstaaten. Dennoch kommt in deinen Texten die Absicht zum Ausdruck, einen erneuten Rückfall in „staatliche“ politische Perspektiven zu verhindern. Um welche Risiken handelt es sich, wenn die staatliche Souveränität in der Krise ist? Außerdem durchzieht alle deine Texte ein der operaistischen Tradition verschriebener Gedankengang, dem zufolge das Wertmaß in der Lohnform reaktionär gewendet weiter besteht, obwohl es durch die Veränderungen im Produktionsprozess in die Krise kam. Glaubst du, dass die politische Souveränität eine ähnliche Entwicklung durchmacht? Ist auch sie eine anachronistische Form, die aber wie der Lohn als Maßeinheit im zeitgenössischen Leben paradox gegenwärtig ist?[4] Und wie fügt sich all dies mit der Vorstellung eines „permanenten Ausnahmezustandes“ zusammen?

Der moderne Zentralstaat erfährt eine radikale Krise, er reproduziert sich aber durch eine Reihe beunruhigender Metamorphosen weiter. Der „permanente Ausnahmezustand“ ist zweifellos eine Art und Weise, wie sich die Souveränität selbst überlebt, wie ihre Dekadenz unbestimmt weiter andauert. Für den „permanenten Ausnahmezustand“ gilt das gleiche, was Marx schon von den Aktiengesellschaften sagte. Seinem Urteil zufolge erschienen letztere als Überwindung des Privateigentums auf Grundlage des Privateigentums selbst. Anders ausgedrückt, die Aktiengesellschaften ließen die Möglichkeit aufscheinen, das Privateigentum zu überwinden, aber zugleich bildeten sie diese Möglichkeit auf eine Weise aus, die das Privateigentum qualitativ stärkte und weiter entwickelte. In unserem Fall könnte man sagen: Der „permanente Ausnahmezustand“ zeigt die Überwindung der Staatsform auf Grundlage der Staatlichkeit selbst an. Er ist gleichermaßen eine Perpetuierung des Staates und der Souveränität, wie er die Zurschaustellung seiner eigenen irreversiblen Krise sowie der Hoch-Zeit einer schon nicht mehr staatlichen Republik ist.

Ich glaube, dass der „Ausnahmezustand“ einige Punkte nahe legt, um über die Institutionen der Multitude, ihre mögliche Funktionsweise sowie ihre Bestimmungen auf positive Weise nachzudenken. Nur ein Beispiel: Im „Ausnahmezustand“ wird der Unterschied zwischen „Rechtsfragen“ und „tatsächlichen Fragen“ so weit abgeschwächt, bis er beinahe gänzlich verschwindet. Normen werden zu empirischen Tatsachen und einige empirische Tatsachen erlangen eine normative Macht. So kann diese relative Ununterscheidbarkeit zwischen Norm und Tatsache – die heute Sondergesetze und Sondergefängnisse wie Guantánamo produziert – zweifellos eine alternative Form annehmen und sich in ein „konstitutionelles“ Prinzip für die öffentliche Sphäre der Multitude verwandeln. Der springende Punkt ist, dass die Norm immer ihren faktischen Ursprung zur Schau stellen und gleichzeitig die Möglichkeit aufweisen muss, wieder in den Bereich der Tatsachen zurückzukehren. Sie muss schließlich ihre Widerrufbarkeit und Ersetzbarkeit zur Schau stellen. Jede Regel muss sich als Maßeinheit für die Praxis präsentieren und gleichermaßen als etwas, das einem stets neuen Ermessen zu unterziehen ist.

All dies artikuliert sich in deiner Kritik an einer bestimmten naiven Anti-Staatlichkeit, die im Namen eines vorausgesetzten ursprünglichen Gutseins der Multitude ausgesprochen wird, immer wieder – auf Rousseau’sche Art und Weise – ruiniert durch die Institution (der Sprache, des Eigentums etc.). Wir für unseren Teil sehen ein großes Vermögen in dieser Argumentation, das, um es so auszudrücken, „unseren Blick Richtung Ambivalenz“ wendet. Und wir schätzen diese Bravourleistung, dass du an dem Punkt komplex wirst, an dem unsere Schwächen am spürbarsten sind.

Dennoch wird dein Hinweis in dem Zusammenhang nicht zum Skeptizismus, insofern du viele Verwendungsweisen des Begriffs der „Institution“ der Multitude ins Gedächtnis rufst (das Zurückgehaltene [katéchon], „Negation der Negation“ etc.). Wie sollen wir uns nun die politische Dimension dieser „Institutionen“ (des Exodus?) vorstellen, die sich einerseits der staatlichen Souveränität (zwar in der Krise, aber wieder belebt?) widersetzen und die andererseits das „Böse“ verkörpern, mit dem die Multitude mittels der Mechanismen Verdrängung und Bezähmung koexistieren muss? Gibt es in dem Zeitalter, in dem „das Offene“ des Sprachtieres die tägliche Ausnahme (den postmodernen Faschismus?) bezwingt, eine Beziehung zwischen dem „Bösen“ und der „Souveränität“? Könntest du uns erläutern, wie du dir dieses institutionell-politische Spiel in seiner „neuen“ Komplexität ausmalst?

Ich habe in meinem Text „Das sogenannte Böse und die Staatskritik“ (Il cosidetto „male“ e la critica dello stato) versucht, im Detail auf diese Frage einzugehen. Ich glaube, dass eine teilweise Antwort schon im weiter oben Ausgeführten enthalten ist. Dem würde ich jetzt gerne einige polemische Überlegungen hinzufügen. Wirklich „skeptisch“ hinsichtlich des Schicksals der internationalen Bewegung scheint mir derjenige zu sein, der die Multitude als „von Natur aus gut“, solidarisch, dazu geneigt in Harmonie zu agieren sowie frei von jeglicher Negativität schildert. Wer so denkt, reduziert die New-Global-Bewegung auf ein Phänomen der Gegenkultur bzw. der Medien, auf ihre Metamorphose in einen Komplex marginaler Gangs, die nicht wirklich in die Produktionsverhältnisse eingreifen können. Wenn man hingegen das „Böse“ der (und in der) Multitude anerkennt, bedeutet das, sich mit den Schwierigkeiten zu konfrontieren, die einer radikalen Kritik am Kapitalismus inhärent sind, der auf seine Art und Weise die menschliche Natur selbst in Wert setzt. Wer dieses „Böse“ nicht eingesteht, hat sich schon damit abgefunden, nicht genügend Aufwind zu haben; oder um es auf andere Weise zu sagen, er findet sich mit der Gefahr ab, dass die Bewegung unter ihren Möglichkeiten bleibt.

Eine zweite Beobachtung: Einigen wir uns auf die Verwendung des Wortes „Institution“. Ist es ein Begriff, der ausschließlich zum Vokabular des Gegners gehört? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass der Begriff der „Institution“ auch (und möglicherweise vor allem) für die Politik der Multitude Ausschlag gebend ist. Mittels der Institutionen schützt sich unsere Art vor der Gefahr und gibt sich Regeln, um die eigene Praxis zu potenzieren. Auch ein Piquetero-Kollektiv ist daher eine Institution. Die Muttersprache ist eine Institution. Institutionen sind Rituale mittels derer wir versuchen, die Krise einer Gemeinschaft abzuschwächen und zu lösen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, im Einzelnen herauszufinden, welche Institutionen sich jenseits des im Staat verkörperten „politischen Entscheidungsmonopols“ setzen. Einschließlich der Frage: Welche Institutionen befinden sich auf der Höhe des von Marx beschriebenen „General Intellect“, jenes „sozialen Gehirns“, das zugleich die wichtigste Produktivkraft und auch ein republikanisches Organisationsprinzip ist?

Die Betonung der Ambivalenz des sprachbegabten Tieres und seiner Beziehung zum Staat scheint in deinen Argumenten im Unterschied zu anderen Überlegungen zum Postfordismus eine Gleichgültigkeit hinsichtlich der Analysen zu den neuen Formen der Kontrolle und Führung des Lebens, die weit über die Souveränität der Nationalstaaten hinausgehen („Kontrollgesellschaften“, die „Noopolitik“, die „Biopolitik“ etc.), mit sich zu bringen. Wie würdest du dich hier positionieren?

Nein, ich bin ganz und gar nicht gleichgültig gegenüber anderen Analysen des Postfordismus. Einige dieser Analysen schätze ich, andere kritisiere ich. Sie alle jedoch veranlassen und verpflichten mich dazu, meine Fragen zu formulieren, um besser nachdenken zu können. Zwei Beispiele: Erstes Beispiel, die „Kontrollgesellschaft“. Eine gute Kategorie. Von der Kontrollgesellschaft zu sprechen, bedeutet in groben Zügen, dass die Kooperation der gesellschaftlichen Arbeit einiges an Vermögen (und Wirksamkeit für die kapitalistische Verwertung) verlieren würde, würde sie nicht bis ins kleinste Detail gelenkt und diszipliniert werden. Die Erfindung und die Innovation sind schon nicht mehr das Vermögen des Schumpeter’schen Unternehmers, sondern Grundbedingungen der lebendigen Arbeit. Der Kapitalist muss sich die Innovation a posteriori aneignen, er muss aus ihr die der Akkumulation ähnlichen Aspekte herausfiltern und alles eliminieren, was freien Institutionen der Multitude Raum gibt. In einem gewissen Sinn haben wir es mit einer Kehrtwende von der „realen Subsumption“ zur „formellen Subsumption“ der Arbeit zu tun. Oder um es anders auszudrücken und den Marx’schen Jargon beiseite zu lassen, man kann einen Übergang beobachten von jenen Herrschaftsformen, die auf der Negation jeglicher Autonomie der Arbeitskraft basieren, hin zu solchen Herrschaftsformen, die die Arbeitskraft dazu antreiben, Innovation, intelligente Kooperation etc. zu produzieren. Man muss hinzufügen, dass die „Kontrollgesellschaft“ mit ihrer sehr modernen „formellen Subsumption“ nach mehr und nicht nach weniger repressiver Gewalt verlangt. Und warum, ist klar: Die kapitalistische Verwertung der lebendigen Arbeit bezogen auf den „General Intellect“ verlangt einerseits, dass die lebendige Arbeit eine gewisse Autonomie genießt, andererseits muss sie verhindern, dass aus dieser Autonomie ein politischer Konflikt entsteht. Und die kapitalistische Verwertung verhindert dies mit einer Grausamkeit, die der Fordismus nicht nötig hatte.

Zweites Beispiel: die Biopolitik. Die Regierung des Lebens ist von der Tatsache abhängig, dass sich die Arbeitskraft selbst verkauft. Die Arbeitskraft ist sogar ohne effektive Anwendung reines Vermögen: Vermögen zu sprechen, zu denken, zu handeln. Aber ein Vermögen ist kein wirkliches Objekt. Es existiert insofern, als es einem biologischen Organismus „einlagert“, im Körper der ArbeiterIn. Daher regiert das Kapital das Leben, weil nämlich das Leben der Träger der Arbeitskraft ist, Substrat eines reinen Vermögens. Nicht weil das Kapital die Körper als solche befehligen möchte. Folglich entsteht die Regierung des Lebens aus der Vorstellung der Arbeitskraft. Foucault kehrte Marx (wie so viele andere) allzu rasch den Rücken, mit dem Effekt, einige Zeit später zu gewissen Marx’schen Ergebnissen zu gelangen, indem er ihn aber von den Füßen auf den Kopf stellte.

Alle Nachrichten aus der Welt der Technowissenschaften und der Digitalisierung berichten uns vom Versuch, die innere Zusammensetzung und die Form der Arten – einschließlich der menschlichen – abzuändern. Gegenwärtig gibt es viele Experimente, die mit dem Versprechen, „das Menschliche zu verbessern“ oder einfach „das Leiden zu verhindern“, darauf abzielen, das Gedächtnis zu modifizieren oder einen Eingriff in das Gehirn, das Nervensystem etc. vorzunehmen. Die Technowissenschaften laborieren an der Hypothese eines informatisierten Menschen, Genoms, DNA etc. Wie beurteilst du diese Versuche tierischer und menschlicher Genmanipulation? Beginnen ihre Grenzen wirklich zu verschwimmen? Welcher Art ist der Machttypus, der auf dieser Ebene des Technokapitalismus operiert?

Das Problem ist nicht neu. Das menschliche Tier ist das einzige, das – über das Leben hinaus – das Leben selbst möglich machen muss. Dies hängt einerseits mit seiner Umwelt zusammen, andererseits reformuliert das menschliche Tier selbst stets von neuem die Beziehung zu dieser Umwelt. Es ist ein von Natur aus künstliches Tier. So viel dazu, dass der Mensch immer, zumindest gewissermaßen, seine eigene Umwelt samt seinem Körper modifiziert hat. Oder besser gesagt, die menschliche Praxis wird immer auf eben jene Bedingungen angewendet, die die Praxis menschlich machen. Heute steht dieser Aspekt im Vordergrund, er wurde eine Industrie. Meines Erachtens müssten die Bewegungen eine vorsichtige Sympathie für die Technowissenschaften zeigen. Offensichtlich vorsichtig, da diese von kapitalistischen Interessen durchzogen sind. Aber eine Sympathie, weil die Technowissenschaften – und sei es auf noch so abscheuliche Weise – die Möglichkeit aufzeigen, den alten Bruch zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften zu überwinden.

Zum „Witz“ und zur Pointe. Angenommen die „Pointe“ ist ein der Innovation und vielleicht sogar der Praxis inhärentes Diagramm, dann entsteht sofort das Problem, das den Status der „Dritten“ betrifft, eine Figur, die zugleich „öffentlich“ ist. Bei der ersten Lektüre schien es uns, dass selbst wenn der „Witz“ drei Figuren oder Positionen vereint (die Person, die den Witz macht, die Figur, über die die Pointe hereinbricht, und eine dritte Figur, die den Witz positiv aufnimmt oder ablehnt), auf denen diese ganze, unmittelbar öffentliche Struktur beruht, dennoch die PointenreißerIn eine aktivere Stelle innehat, d. h. diejenige, die ihre Pointe-Hypothese erarbeitet, deren Erfolg dann bewertet wird. Wir möchten dir daher folgende Frage stellen: Welche aktive und mögliche Politik gibt es seitens der Dritten? Verlangt nicht die Eigentümlichkeit der „allgemeinen Intelligenz“ eine stetige Sensibilisierung hinsichtlich der Einfälle der anderen und nicht nur ein aufmerksames Suchen nach dem geeigneten Augenblick, an dem man selbst eine WitzereißerIn werden kann?

Ich bin mit der von euch formulierten Hypothese völlig einverstanden. Im Witz ist die „dritte Person“ (so nennt sie Freud), d.h. das Publikum, ein wesentlicher, aber passiver Bestandteil. Im Großen und Ganzen entspricht sie der Position jener, die an einer politischen Versammlung teilnehmen und die Diskurse einschätzen, die in ihr ablaufen. Ohne die Anwesenheit dieser BeobachterInnen würden die artikulierten Diskurse keinerlei Sinn ergeben. Aber zumindest auf den ersten Blick tun sie nichts. Ist das wirklich so? Vielleicht nein. Vor allem in der neuen globalen Bewegung ist die Rolle der „dritten Person“, des Publikums, schon für sich eine Form aktiver Intervention. Wer heute einem Einfall oder einem politischen Diskurs sein Gehör schenkt, reartikuliert ihn, während er zuhört, entfaltet seine möglichen Entwicklungen und verändert seine Bedeutung: Kurzum, im Moment des Hörens wird der Diskurs oder der Einfall einer Veränderung unterzogen. Schlussendlich hat es mit einem aktiven Publikum zu tun.

September 2006

Dieser Text erscheint als Vorwort zum Buch „Die Ambivalenz der Multitude: Zwischen Innovation und Negativität“, Tinta Limón Ed. 2006)

Paolo Virno, geboren in Neapel 1953. Er war Teil der „Bewegung von 1977“, Aktivist bei Potere Operaio und später in der Autonomia Operaia. Virno war angeklagt im „Prozess des 7. April“, der viele der Aktiven ins Gefängnis brachte bzw. ins Exil trieb. Nach seiner Freilassung 1987 schrieb er für die Zeitschriften Futur Antèrieur, Luogo Comune und Derive Approdi etc. Er beschäftigte sich v. a. mit der Analyse der Transformationen produktiver Subjektivitäten im Postfordismus und der Neuzusammensetzung der sozialen Bewegung in Italien.

Publikationen: „Convenzione e materialismo“ (1986), „Parole con parole“ (1995), „Mondanità“ (1994), „Il ricordo del presente“ (1999), „Quando il verbo si fa carne“ (2004). Auf Deutsch übersetzt wurde bislang die „Grammatik der Multitude“ (Turia + Kant: Wien 2005).

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