FORVM, No. 235/236
Juli
1973

Die Lust am Untergang

Porträt einer kapitalistischen Zeitung

Dort, wo sich Leichtsinn mit Dummheit paart, steht am Ende meist das Verhängnis.

Thomas Chorherr, Seuche und Symptom

Der österreichische Journalismus ist nicht erst seit Karl Kraus berüchtigt. Schon im 19. Jahrhundert galt Wien, gemeinsam mit Paris, als die Stadt mit den skandalösesten Zeitungen Europas. Heute wird der Wiener Pressemarkt vom skrupellosen Konkurrenzkampf der Boulevardzeitungen beherrscht, deren Methoden an die dunkelsten Epochen aus der Geschichte des Journalismus erinnern. Auch die Zeitungen der Bundesländer werden bereits in ihrer Existenzgrundlage durch diesen Zweikampf „Kurier“-„Kronen-Zeitung“ bedroht. Als letzte Bastion des seriösen Journalismus gilt — nicht nur in den Kreisen der „Wirtschaftstreibenden“ — ausgerechnet „Die Presse“. Doch wer sich der Mühsal unterzieht, Tag für Tag diese Gralshüterin unter den Wiener Zeitungen zu lesen, vor dem rollt in ihren Spalten ein Schauspiel ab, dessen Zeuge zu werden er anderswo kaum noch hoffen durfte: „Die Presse“ ist das Boulevardblatt für verbitterte Bildungsbürger.

„Die Presse“ bezieht ihr Selbstverständnis aus der dezidierten Abgrenzung gegenüber der sogenannten Sensationspresse und den Massenmedien: sie will sich als „Intelligenzblatt“ verstanden wissen. Rein formal scheint die „Presse“ den Anspruch auf Seriosität auch zu erfüllen: ruhiger Umbruch, Angabe der Agenturen, Gliederung der Artikel, eine Menge Korrespondenten, ein ausführlicher Wirtschaftsteil, großformatige Seiten; viel Text und wenig Fotos. Doch dieses angebliche Intelligenzblatt findet mit ein paar verrotteten Schlagworten sein Auslangen; seine Sensationen bezieht es aus der Unterdrückung von Protesten und Streiks, seine Schreckensmeldungen aus den Aktivitäten der Sozialdemokratie, seine Sexgreuel aus dem Abtreibungsparagraphen.

Aus Anlaß ihres eigenartigen 125jährigen Jubiläums gibt die „Presse“ vor, ihren eigenen Status sowie den der Zeitungen überhaupt gründlich zu reflektieren, und stellt sich die Frage: „Inwieweit kann vor allem das ‚Intelligenzblatt‘ als typisches Produkt der bürgerlich-liberalen Gesellschaft mit ihrem Persönlichkeitsideal und ihrem Fortschrittsoptimismus auch in der Massengesellschaft des Industriesystems und in Konkurrenz zu den elektronischen Medien bestehen?“ („Presse“ v. 26./27.5.1973.)

Diesen hochtrabend-verschwitzten Text scheinen die „Presse“-Leute von einer ihrer bundesdeutschen Schwestern, etwa der „Welt“, abgeschrieben zu haben. Was nämlich die „Presse“ betrifft, so ist darin zwar nachdrücklich von Persönlichkeitsideal, keinesfalls jedoch von bürgerlich-liberaler Gesellschaft und beileibe nicht von Fortschrittsoptimismus die Rede. Im Gegenteil. Die ständig wiederkehrenden Schlagworte lauten etwa: kommerzielle Verdummung, Vermassung, Konsumwelt, Wohlstandsgesellschaft. Dagegen wird gepriesen: klassische Bildung, Club-Atmosphäre, Lebensernst; gepredigt wird: Einschränkung, Opfer, Verzicht; beklagt wird: Verfall der Werte, Verlust der Ideale, der Sittlichkeit und Ethik.

Das Schreckgespenst erster Ordnung ist und bleibt der „Presse“ jedoch „die Masse“ — in Zusammensetzungen mit diesem Wort ist sie geradezu schöpferisch: Massendemokratie, Massenphänomen (= Sport), Massengesellschaft, Massenpresse, Massenblätter. Um einen annähernden Begriff davon zu vermitteln, hier ein paar aus der Fülle herausgegriffene Zitate:

Unter dem Titel „Klopft nun Poujade an die Tür?“ (26./27.5.1973) schreibt Otto Schulmeister, der Chefredakteur der „Presse“, in Zusammenhang mit der Forderung der FPÖ nach einer nebulosen „Lebensqualität“: (in diesem Programm) „steckt die Möglichkeit, daß die Gesellschaft ihren Sinn jenseits von sich selbst entdeckt, was dann wieder Solidarität, Disziplin, Opfer ihren Wert zurückgeben könnte ...“ Oder er schreibt in seinem Leitartikel „Achtung, Polarisierung“ (über Abtreibung), wobei er gleich weit ausholt: „Wenn aber die Demokratie nur der Tummelplatz des Relativismus wäre, hätte dann nicht Nietzsche recht gehabt, sie als ‚Dekadenzform des Staates‘ zu bezeichnen, als das unbedachte Treibhaus von Cäsaren (oder auch nur Gangstern)? Inhaltsios an Idealen, außer jenem, sich im Eigentlichen, in der Überzeugung, nicht ernst zu nehmen, geriete eine solche Demokratie unter das Gesetz inhaltsloser, selbsttätiger Bewegung. Reflex dessen wäre die Steigerungsstufe: links, linker, am linkesten — ein Progressismus, der durchdreht. Und im Graben endet“ (23./24.6.1973).

Über „Raskolnikow 1973“, den rechtsextremen Waffenfetischisten Ernst Dostal, schreibt zum Beispiel Ernst Grolig (28.6.): „... Gewiß, man könnte auch in diesem Fall die Gesellschaft schuldig sprechen — aber eine, die Leistung und Herausforderung klein zu schreiben bemüht ist, die versucht, es allen möglichst leicht zu machen, den Jungen alles in den Arm zu legen, sie zu verhätscheln. Dem jungen Dostal fehlte es wirklich an nichts — bis auf eines: den vielzitierten Ernst des Lebens, den zu erwerben erst den Menschen ausmacht“ ...

Mörder aus verlorener Arbeitsmoral!

Zwangsläufig wird die „Presse“‘, so paradox das klingen mag, als Boulevardblatt für eine radikale Minderheit redigiert. Das Pressehandbuch von 1973 gibt darüber Auskunft: Die Auflage der „Presse“ beträgt:

  • wochentags: 57.922
  • Samstag/Sonntag: 75.919.

Als Vergleich dazu vielleicht die Auflagenzahlen der „Volksstimme“, des Organs der Kommunistischen Partei:

  • wochentags: 44.227
  • sonntags: 80.800.

Die Auflagen der „Presse“ und der „Volksstimme“ sind nahezu identisch. Desgleichen decken sich die Anzeigenpreise der beiden Zeitungen: wochentags öS 9,25 pro mm (10,—), samstags und/oder sonntags öS 11,10 (12,—): Und noch ein Vergleich: die Auflage der „Arbeiter-Zeitung“ ist beinahe doppelt so hoch wie die der „Presse“ (wochentags: 102.049; sonntags: 115.803).

Wenn sich die „Presse“ auf bürgerlich-liberale Traditionen beruft, wenn sie mit ihrer heroischen Vergangenheit „seit den Revolutionsjahren 1848“, als „Neue Freie Presse“ „mit Karl Marx und Karl Kraus als Mitarbeiter“ prahlt, wenn sie sich als „Vorkämpferin der freien Meinungsäußerung“ aufspielt, so ist das nichts als Chimäre — es gab keinen erbitterteren Kritiker dieses Blattes als Karl Kraus. Und vom Gründer der „Presse“ heißt es an anderem Ort: „In der Hauptsache aber war er Geschäftsmann, und sein Programm war darauf gestellt, mit dem möglichst geringen Opfer an liberalen Überzeugungen — denn damals war liberal en vogue — die möglichst größten Einnahmen aus seinem Unternehmen zu ziehen. Das gelang ihm auch so vollständig, daß, als er im Jahre 1867 die ‚Presse‘ an die damalige Beustsche Regierung verkaufte, er sich als ein vielfacher Millionär zurückzog.“ [1]

Ein Verehrer der „Presse“ sieht die Sache wieder anders: „Ihr (der ‚Presse‘) kometenhafter Aufstieg zum Weltblatt der Monarchie ... blieb zwar unberührt von dem haßerfüllten Kampf, den der einstige ‚Presse‘-Redakteur Karl Kraus gegen seinen früheren Chef Moritz Benedikt führte. Nach dem Ersten Weltkrieg verwelkte sie aber wirtschaftlich, so daß die ständestaatliche Regierung in den späten dreißiger Jahren das Blatt kaufen mußte, um es zu erhalten.“ [2] Was die Hahnenschwanzler nicht alles mußten ...

Heute könnte aus dem Verkauf der „Presse“ kaum jemand ein Millionär werden; die gegenwärtigen Hintermänner, der Wirtschaftsbund (ÖVP) und die Bundeswirtschaftskammer, müssen ganz im Gegenteil die jährlichen Kavaliersschulden der „Presse“ bezahlen, ein Defizit von früher zwölf, nun sieben Millionen Schilling. — Dazu eine kurze Nachricht vom 30.6./1.7.1973: „Bundeskammerpräsident Sallinger würdigte in seiner Ansprache die Tatsache, daß in der ‚Presse‘ seit 1848 der Wirtschaft breiter Raum gegeben worden sei. ‚In der liberalen Zeit nach der Revolution konnte nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch die Wirtschaft gedeihen‘, sagte er.“

Worauf die „Presse‘‘ sich beruft — das liberale Großbürgertum, das in Wien einstmals tatsächlich liberal und rationalistisch gewesen sein mag — ist heute nur mehr ein Phantom; die „Presse“ demgemäß irrational und illiberal. Die von ihr hartnäckig beschworene Tradition (als sie als Blatt florierte) meint das Wien um 1910, immerhin die Hauptstadt eines großen Staates samt dem dazugehörigen Großkapital. Mit dem Ersten Weltkrieg bricht das alles zusammen, das Großbürgertum verschwindet. Seit diesem Zeitpunkt ist die „Presse“ auf der Suche nach einem Ersatzkaiser; ausgehend vom altösterreichischen Imperialismus finden sich auch heute in dieser Zeitung immer noch — zumindest sublimierte — Großmachtideen. Im Ständestaat sah man anfangs den Versuch einer Restituierung der Monarchie; dann sollte das großdeutsche Reich für das Wiener Großbürgertum eine Art Auferstehung des habsburgischen Kaiserreichs bringen — doch wiederum war und blieb die ökonomische und kulturelle Bedeutung Wiens armselig, München zog in dieser Hinsicht allen Glanz auf sich. Das hat dem Wiener Großbürgertum den Todesstoß versetzt; darum erinnert auch die sogenannte Kultur im Wien seit 1945 mit all ihrer Burgtheater-, Staatsoper- und Balltradition so sehr an einen verwesenden Kadaver.

Zudem hat Wien auch heute keine besondere wirtschaftliche Bedeutung, die großen Industrien haben ihren Sitz in den Bundesländern. Das wissen sogar die Leute von der „Presse“ selber: Unter der Überschrift „Wiens Wirtschaft hinkt nach“ (vom 15.5.) findet sich folgender Eigenbericht: „Wien (w. sch.). Seit 1964 verliert die Wiener Wirtschaft im Vergleich mit der gesamtösterreichischen Wirtschaftsentwicklung jährlich 0,7 Prozent an Wachstum, das sind rund 600 Millionen Schilling. Dies erklärte am Montag der Vorsitzende der vom Wiener ÖVP-Gemeinderatsklub eingesetzten Initiativgruppe ‚Besser Wirtschaften‘, Ebert ... Ebert sprach von einem ‚Substanzverlust‘ Wiens und seiner Wirtschaft: Die Zahl der Erwerbstätigen ist seit 1964 um rund 50.000 zurückgegangen. In den letzten Jahren sind die Industrieinvestitionen in der Bundeshauptstadt um rund 30 Prozent unter dem österreichischen Durchschnitt gelegen ...“

Das hausbackene Hetzblatt „Die Presse“ hat es immer nur mit Kleinbürgern zu tun. Woraus sich ihre Geldgeber, der Wirtschaftsbund und die Bundeskammer, vorwiegend zusammensetzen, das sind die kleinen und mittleren Unternehmer; ihre Zielgruppe wiederum sind die Wiener „Intelligenzler“, die Akademiker (eine Zielgruppe, um die der Chefredakteur wahrlich nicht zu beneiden ist). Doch was sind Ärzte und Rechtsanwälte heutzutage anderes als qualifizierte Facharbeiter? Vor und hinter der „Presse“ steht das typische Wiener Kleinbürgertum. Ein trauriges Schauspiel! Die Intelligenzier kämpfen mit der Bildungsinflation, die mittleren und kleinen Unternehmer kämpfen mit dem Großkapital, und direkt kollidieren die Akademiker mit den Wirtschaftsinteressen. Der „Kampf um Arbeitskräfte“ (20.6.) tobt: Angesichts der „Überhitzung“ und eines „völlig ausgeschöpften Arbeitsmarktes“ plädiert die Industrie nicht nur „für mehr Vernunft in der Lohnpolitik“, sondern fordert: „Weg vom Diplomdenken!“ — „Wels (ÖAAB). Vor Delegierten des Mittelschüler-Kartellverbandes forderte ÖAAB-Bundesobmann Mock am Wochenende eine Abkehr vom bisherigen ‚Diplomdenken‘. Menschen, die vor ihren Namen einen akademischen Titel setzen können, seien deswegen noch nicht ‚besser‘. Eine gesellschaftliche Aufwertung der qualifizierten manuellen Berufe sei notwendig, forderte Mock“ (12.6.).

Ein paar Tage zuvor geht es in der „Presse“ (vom 8.6.): „Gegen Akademikerflut!“ — „Wien (apa). Der ‚Ring Freiheitlicher Studenten‘ (RFS) strebe eine Bildungspolitik an, die eine ‚Akademikerschwemme‘ in Österreich verhindern soll, wurde Mittwoch abend bei einem Pressegespräch in Wien erklärt. Hierbei dürfe man nicht auf das Mittel des Numerus clausus zurückgreifen. Als wichtige Voraussetzungen für eine moderne Bildungspolitik sieht der RFS eine praxisbezogene Ausbildung an den Mittelschulen und eine gründliche Information der Maturanten über die Berufsmöglichkeiten an ...“

So wie bei vielen Zeitungen erscheinen auch in der „Presse“ in unregelmäßigen Abständen Sonderbeilagen (mit denen ja ein gutes Geschäft zu machen ist). Neben „Japan“, „Zambia“, „Besser Bauen — Schöner Wohnen“ erschien auch eine Sonderbeilage „zum Thema ‚Berufswahl‘: ‚Bildung = Karriere‘“ (zum 8.6.). Im Grunde wird darin jedoch die Bildung verteufeit und allen Betroffenen geraten, ein Handwerk zu ergreifen. So schreibt beispielsweise ein Karl Kehrer über die „Ziele der Bildungsreform — Die Wirtschaft meldet Wünsche an“: „... Ziel aller auf das Berufsleben ausgerichteten Bildungsmaßnahmen muß es sein, im Wirtschaftsbereich Fachkräfte aller Bildungsgruppen in einem ausgewogenen Verhältnis zur Verfügung stellen zu können. Es nimmt daher nicht wunder, daß das Unbehagen zunimmt, wenn der Ansturm auf die allgemeinbildenden höheren Schulen von Jahr zu Jahr stärker wird, wenn etwa in Wien die Zahl der Maturanten an allgemeinbildenden höheren Schulen in den nächsten Jahren von rund 3.000 auf 8.000, 10.000 und 12.000 steigen wird, wenn die Ausbaumaßnahmen an Hochschulen und Universitäten mit den Inskriptionen bei weitem nicht Schritt halten können und sich, zumal für mehrere Studienrichtungen, die Frage stellt, wie hoch etwa 1980, 1985 oder 1990 der Prozentsatz jener Hochschulabsolventen sein wird, die tatsächlich einen ihrer Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz finden werden. In letzter Zeit bei uns bekanntgewordene Statistiken aus Skandinavien weisen aus, daß zum Beispiel in Schweden gegenwärtig Tausende von Geistes- und Sozialwissenschaftlern arbeitslos oder in Stellungen tätig sind, für die sie keine Hochschulausbildung benötigen ...“

Ein Absatz weiter unten stehen dann, von einem Anonymus, unter dem Titel „Was kann ich werden — Berufe mit Zukunftsaussichten“ folgende denkwürdige Sätze: „... wer also laufend mit Unzukömmlichkeiten im Gewerbe konfrontiert wird, ist nur das Opfer einer Entwicklung der Mentalität, an der er selbst einigen Anteil hat. Denn Opfer sind oft die wahren Schuldigen ihrer gesammelten Heimsuchungen. — Oder ist es etwa etwas anderem als der allgemeinen Mentalität zu verdanken, daß Mittel- und Hochschulen überfüllt sind, der Schneider, Sattler oder Orthopädist (irgendwann braucht ihn jeder) auf leere Arbeitsstühle verweist? ... Es wäre nicht notwendig. Doch die Frage ‚Was kann ich werden?‘ beantworten Eltern für ihre Kinder mit guten Ratschlägen für eine höhere Schule. Daß auch Berufe ohne das Etikett Matura, Magister oder Doktor ihren aussichts- und karrierereichen Platz in Wirtschaft und Gesellschaft haben, zeigt folgende Darstellung. (Vorher aber bitte nicht zu vergessen: Wer von einer höheren Schule oder Universität weg nicht gleich in die seidigglänzende Zukunft einsteigen kann, die er sich vorgestellt hat, wird eines Tages wohl oder übel einen anderen Beruf ergreifen müssen — wie jetzt schon in den USA oder in Schweden — oder arbeitslos sein ...“ Daher: „Es muß nicht immer ein ‚Stehkragenberuf‘ sein!“

Es sind die Gewerbetreibenden und kleinen Unternehmer, deren Interessen hier vertreten werden; doch auch den mittleren Wirtschaftstreibenden geht es nicht gerade rosig. In einer Meldung vom 15. Mai heißt es: „Club Interbaustoff. — Wien (r). Nun Klein- und Mittelbetriebe aus der Branche des Baustoffhandels gründeten kürzlich den ‚Club Interbaustoff‘, dessen vordringliche Aufgabe es sein wird, den Strukturwandel auf diesem Sektor, der auf eine Favorisierung der Großbetriebe abzielt, leichter zu überstehen. Die Gründungsfirmen repräsentieren einen Marktanteil von 25 Prozent.“

Abgesehen von dem für Wien überhaupt bezeichnenden Club-Denken (Schlagzeile in der „Presse“: „Der Klubzwang wahrt die Exklusivität!“ — diese höheren Lebensformen, nach denen der Kleinbürger unentwegt strebt), macht diese Nachricht eines deutlich: Wenn Schulmeister und Konsorten ständig hetzen — gegen „Kommunismus“, Gewerkschaften, „modernes Leben“, „Fortschritt“ — so ist das nichts als Verdrängung und umgeleitete Aggression. In Wahrheit geht es gegen das Großkapital, gegen Trusts und Konzerne: diese bedeuten die größte Gefahr für die kleinen und mittleren Unternehmer, deren Existenz ist tatsächlich bedroht, auf ihre Kosten vollzieht sich die gegenwärtige Entwicklung — die Kapitalakkumulation walzt sie nieder.

Dennoch sind auch die Interessen der kleinen Unternehmer wieder mit dem Großkapital in vielen Bereichen gekoppelt, wie Arbeitsmarkt, Mitbestimmung, etc.; sie können daher nicht explizit dagegen sein. Ein Ausweg aus der Misere wäre freilich der Faschismus oder der Ständestaat (worin man durch hierarchische Gliederung alle Entwicklungen unter Kontrolle halten kann). Und prompt tauchen in der „Presse“ auch immer wieder ständestaatliche Phantasien auf. Realiter jedoch, und das wissen auch die „Presse“-Leute, läßt sich die internationale Entwicklung nicht mehr aufhalten. Daher richtet sich der ganze Haß gegen alles Linke, gegen Minderheiten, gegen die Gewerkschaft, gegen die Sozialdemokratie, hier besonders gegen Kreisky, der ja gegenwärtig Maßnahmen zugunsten des Großkapitals trifft.

Der fanatische Persönlichkeitsfimmel der „Presse“ hat darin seine Ursache: in der bedrohten „Unternehmerpersönlichkeit“. Daher diese wahnsinnige Angst vor der „Vermassung“, dieser Abscheu vor der Technokratie, der „technischen Revolution“; daher sucht diese „Vorkämpferin der Pressefreiheit“ verzweifelt „kritische Rechenschaft darüber, vor allem in Hinblick auf die gesellschaftlichen Umwälzungen und die durch die Technik revolutionierte Situation des Menschen ...“ (v. 23./24.6.). Schulmeisters Funktion ist es, diesem Chaos Ausdruck zu verleihen. Im trüben Strom der Zeit, im „ideologischen Urschlamm“ fischt er nach den unverlierbaren Werten.

Den Stillen im Lande kommt Otto Schulmeister als Philosoph (und gewiß trifft er sich mit ihnen: im gemeinsamen bornierten Bildungsdünkel, dem einstigen Statussymbol des Kleinbürgers, und dessen einsamer Barriere gegen die Proletarisierung): „Er suche die Zeit totzuschlagen, sagt einer. In der sprachlichen Wendung steckt eine ganze Philosophie, weiß er es? Und denkt man ihr nach, zieht es einen plötzlich in die Hintergründe des Menschseins. Denn die Zeit wird hier als Feind des Menschen erlebt, in Hinfälligkeit und Tod spitzt sich diese Feindschaft zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Frage haftet an jeder Philosophie oder Ideologie wie der Schatten am Licht ...“ („Presse“ vom 9.5.73).

Meist stellt der Chefredakteur bloß Fragen — „worum es eigentlich mit uns und mit dieser Zeit geht ...“ (9.5.) — das ist es wahrscheinlich, was er unter Objektivität versteht; keine Maximen, Beobachtungen, Marginalien, Kritik: sondern nur ein Haufen Fragen. Sicherlich sollen sie den intellektuellen Zweifel suggerieren, die gescheite Skepsis und Distanz gegenüber der Seriosität einer Nachricht — nichts wie weg vom „politischen Tagesgeplänkel“! Die ‚„Presse“-Redakteure neigen doch mehr zur Philosophie als zum bloßen Tagesjournalismus. Auf diese Weise sammelt sich zum Beispiel in der Nummer vom 27.6. folgendes an fettgedruckten Überschriften an:

  • Moskau über Paris verstimmt?
  • Kissinger nach China?
  • Wendung in der Abtreibungsdebatte?
  • SPÖ wieder stärker?
  • Waldheim nach Nahost?
  • Belgrad: Armee gesäubert?
  • Wieder Läuse im Salat?
  • Nur Schönheitsoperationen?
  • Eine unnötige Biographie?
  • Ist Atomenergie ein Ausweg aus der drohenden Krise?
  • Ekuador in die OPEC?

Interessant ist in diesem Zusammenhang die ungeduldige und freudige Erwartung der „Presse“ bei allen Vorgängen, Entwicklungen, Ereignissen: „Wenn doch nur schon alles wieder vorüber wäre!“ Ohne daß man zuvor jedoch Gelegenheit gehabt hätte, dieser Ereignisse etc. auch tatsächlich, etwa durch allzu intensive Berichterstattung, müde zu werden.

Zu Skylab:

„Kosmische Ereignisse. — In unserer Ära des Mondfluges und der Sputniks rückt der Weltraum naturgemäß dem Menschen näher. Aber schon ist es wieder soweit, daß der Vorstoß des Menschen in den Kosmos den Nervenkitzel des modernen Abenteuers zu verlieren beginnt ...“ (v. 23./24.6.). Allgemeines Aufatmen. Doch leider durften „Presse“-Leser diesen Kitzel nicht genießen, als er noch aktuell war.

Zu Watergate: „Veteranen und ‚Helden‘. — Man ist Schlagzeilen wie: ‚WatergateSkandal zieht immer weitere Kreise‘ selbst in den USA allmählich müde ...“ (v. 26./27.5.).

Apropos Watergate — was es mit dieser „Vorkämpferin der Pressefreiheit“ in Wahrheit auf sich hat, konnte aufs schönste die Berichterstattung über die Watergate-Affäre zeigen. Vorauszuschicken ist, daß die „Presse“ prinzipiell vor jeder Macht auf dem Bauch kriecht; und Nixon ist für sie ohnehin eine Art Ersatzkaiser.

In der Watergate-Affäre fühlte die „Presse“ sich von allem Anfang an bemüßigt, Nixons Anwalt zu spielen — wie gesagt, schon allein deshalb, weil sie immer alles verteidigt, was die Obrigkeit verkörpert. Und die Korrespondentin der „Presse“ in Washington ist Marlene Manthey — von allen Redakteuren verdient sie es als einzige, gelesen zu werden. Frau Manthey ist die unermüdliche Agentin des republikanischen Establishments, also des Großkapitals; der Schwerindustrie, der Konzerne, Trusts und Banken, kurz — der Spitzen des Kapitals, dort, wo es am reaktionärsten und brutalsten ist. MM stellt insofern eine so durchaus interessante Quelle dar, da sie praktisch als einzige von den düsteren Mysterien innerhalb des republikanischen Bereichs berichtet. Dabei sind ihre Analysen so zynisch, daß sie geradezu, dialektisch, ins Materialistische umschlagen. (Mystifiziert wird ja bekanntlich am meisten im ökonomischen Mittelbereich; Arbeiter und Großkapital wissen da schon eher, was gespielt wird.)

Um ein längeres Zitat kommt man nicht herum. In der „Presse“ vom 16./17. Juni erschien ein ellenlanger Artikel mit der Schlagzeile: „Katzenjammer nach dem Weltmachtrausch“.

Auf bewährte gespreizte Weise stelzt der redaktionelle Vorspann seinem Thema zu: „Entziehungskuren pflegen für den Patienten schmerzhaft, unangenehm und qualvoll zu sein; nichts anderes bedeutet die Watergate-Affäre für Amerika, dem es nach jahrzehntelangem Zwischenspiel als Weltpolizist schwerfällt, sich in ein neues Maß zu schicken. Verwirrend vielschichtig zeigt sich dem Europäer das Präsidenten-Verdächtigungs-Spiel: Es ist schwer zu entscheiden, was mehr zur Entwicklung der Affäre beitrug, der pekuniäre Überfluß des Nixon-Wahlfonds oder die undurchsichtige Rolle des Geheimdienstes. Die ‚entlarvende‘ Pressekampagne wieder stützt sich nicht nur auf den Unmut der aus demokratischen Administrationen geerbten Beamten gegen die republikanische Regierung, ohne die ungeschickte Medienpolitik der Regierung Nixon wäre sie nicht so rasch angeschwollen. Andererseits hat gerade die ‚Aufdeckung‘ Watergates der Glaubwürdigkeit der US-Presse nicht gedient. Einen roten Faden, um sich in dem Labyrinth nicht zu verlieren, bietet im folgenden die Washingtoner Korrespondentin der ‚Presse‘.“

Hat man anfangs den Eindruck, hier sei von Hühneraugen die Rede, so ist dann die Garnierung mit Gänsefüßchen umso entlarvender. Für Marlene Manthey ist die Rolle der CIA keineswegs undurchsichtig, munter zählt sie deren Leistungen auf:

Denn Helms (der Direktor der CIA) wußte, was seine Organisation leisten konnte, die unter anderen den Präsidenten Arbenz von Guatemala, den Premier Mossadeq von Iran, den Präsidenten von Südvietnam, Diem, den Kongopolitiker Lumumba und viele andere direkt oder indirekt bis hin zu Che Guevara ‚ausgeschaltet‘ hatte. Es war die Central Intelligence Agency, die über diverse Konten und ‚Stiftungen‘ von politischen Parteien und Publikationen in Europa und Lateinamerika bis zu internationalen Jugendfesten und Studentenorganisationen alles unterstützte, was der Weltmachtrolle der USA nützen konnte. Von der Invasion Kubas bis zur Pazifizierung Südostasiens und den U-2-Flügen über China und Rußland, dem Elektronenschiffchen Pueblo bis zur elektronischen Überwachung von ausländischen Botschaften in Washington und Amerikanern mit ausländischen Kontakten war oder ist die CIA im Spiele.

Gegen diesen eindrucksvollen Katalog „Ist Watergate ein eher biederes Vergehen.
Und nicht nur das, es hat ihm jede Könnerschaft, jeder Schwung und sogar jeder Sinn gefehlt.“

Am 7. Mai hatte Manthey gemeint: „Es gibt nur ein einziges Wort, das den Gehalt der Vorgänge vom Sommer 1972 und Herbst 1971 widerspiegelt: stupid.“ Weiter unten bezeichnete sie die Einbrüche als „Dummenjungenstreiche“.

Doch weiter im „Katzenjammer“-Artikel: „Die amerikanischen Zeitungen, vor allem die ‚Washington Post‘, die ‚New York Times‘ und das ‚Newsweek‘-Magazin (das ja der ‚Washington Post‘ gehört), haben sich mit wahrer Wollust auf Watergate gestürzt. Sie sind dabei über das Ziel — nämlich die dringend notwendige Kontrolle der Übermacht der Exkutive durch die Offenlegung ihrer zweifelhaften Praktiken — hinausgeschossen. Man hat eine so schäbige und schmutzige Kampagne gegen den Präsidenten entfacht, daß der Voikszorn sich bereits von den Watergate-Missetätern und ihren Freunden im Weißen Haus abwendet und über die ‚Medien‘ ergießt ... Inzwischen sind durch die öffentlichen und ferngesendeten Senatsverhöre selber mindestens 90 Prozent der ursprünglich in den Zeitungen und den Massenmedien erschienenen Andeutungen und Anschuldigungen als haltlose Erfindung phantasiereicher Reporter zu den Akten gelegt worden. Man weiß auch längst, daß das Selbstlob, das die Zeitungen sich und ihren Reportern spendeten, reinste Heuchelei war ...“

Bei der Watergate-Affäre ging es nicht nur um einen Einbruch, um einige kriminelle Delikte — es ging darum, daß Nixon im Begriff war, systematisch einen Polizeistaat aufzubauen — ausgerüstet mit den modernsten elektronischen Mitteln. Er beabsichtigte eine Unterdrückung nicht nur der parlamentarischen, sondern auch der auBerparlamentarischen Opposition. Die „Vorkämpferin der Pressefreiheit“ jedoch kann darin durchaus nichts Böses sehen.

Das Leibthema, oder besser: Unterleibthema par excellence der „Presse“ ist die Abtreibung. Überflüssig, von einem erzreaktionären Blatt erst sagen zu müssen, wogegen es Partei ergreift. Der Paragraph 144 muß den „Presse“-Lesern alles an Sex & Crime ersetzen: daran darf er sich aufgeilen. Demgemäß ist die Chose auch geschickt inszeniert, geradezu dramaturgisch aufgebaut, mit effektvollen Steigerungen von Tag zu Tag.

Für dieses seriöse Intelligenzblatt ist der Abtreibungsparagraph tatsächlich ein Knüller. Hier ein paar Zahlen: In neun aufeinanderfolgenden Ausgaben der „Presse“ (vom 7. Mai bis 16. Mai 1973) kam das Thema „Abtreibung“ oder „Paragraph 144“ 16 mal vor; davon siebenmal als großer Aufmacher (oder als Leitartikelthema) auf der ersten Seite. Im Durchschnitt war also fast in jeder Nummer zweimal davon die Rede: einmal außen, einmal innen. Die Schlagzeilen lauteten etwa:

  • „Leben steht auf dem Spiel“ (7.5.)
  • „Weit, weit abgetrieben“ (8.5.)
  • „Fristenlösung Kompromiß für Broda“ (8.5.)
  • „Ärztin verurteilt“ (8.5.)
  • „§ 144 in der Schlußrunde“ (9.5.)
  • „Strafrechtsreform gefährdet?“ (11.5.)
  • „Kunst im Dienst des Lebens“ (11.5.)
  • „Öffentliche Abtreibung geplant“ (12./13.5.)
  • „820.000 Unterschriften gegen Fristenlösung“ (14.5.)
  • „Gesetze via Fristenlösung?“ (15.5.)
  • „Rösselsprung“ („Die Abtreiberagitation im Schachbrettverfahren“) (15.5.)

Wie hat es doch der philosophische Chefredakteur der „Presse“ unlängst (30.6./1.7.) so überaus glücklich formuliert: „Die Zeitung ... ist nicht bloß der nützliche Spürhund gegen Machtmißbrauch und Exploiteur in einer Welt allgemeinen Scheines, sie geht ein neues Bündnis mit den Lesern ein, dessen Grundlage die gemeinsame Suche nach der gesellschaftlichen Wahrheit sein muß, nach dem, was Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück wirklich bedeuten.“

[1J. v. Winternitz, Die Presse und ihre Leute. Wien 1911, S.4/5. Zit. nach: Wie links können Journalisten sein, Autorenkollektiv Presse, Rowohlt Verlag 1972, S. 22.

[2Wochenpresse v. 26. Juni 1973, Nr. 27, S. 4.

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