Streifzüge, Heft 68
Dezember
2016

Die große Ratlosigkeit

Notizen zu Resignation und Erschöpfung, Transposition und Perspektive

Gibt es überhaupt noch so etwas wie eine Zukunft? Die kapitale Propaganda will sie ja nur noch als Fortschreibung der Gegenwart gelten lassen, als Wert- und Wertegemeinschaft auf ewig. Eher geht die Welt unter, als dass der Kapitalismus zusammenbricht. Das wird uns auch täglich mitgeteilt. Wir leben in Zeiten der großen Blasen, nicht nur der Finanzmarkt hat diese zu bieten, die gesamte Kulturindustrie zehrt davon und blüht dafür. Die große Fiktion ist überall. Doch die Brüchigkeit ist ebenfalls sichtbar und spürbar, beobachtbar und vernehmbar. Da muss man gar nicht theoretisch ausstaffiert sein.

Resignation

Ein Problem ist, dass viele radikale Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft kapituliert haben. Noch dazu eher die klügeren als die naiveren. Man hat zwar nicht Frieden geschlossen, aber beschlossen, Frieden zu geben. Die Auseinandersetzung erscheint aussichtslos, die Struktur als übermächtig. Negatives Denken ist umgeschlagen in die Negation aller Möglichkeiten. Viele ziehen sich zurück und sehen nur noch zu, auch wenn sie keine Konvertiten geworden sind. Gepflegt wird die Ohnmacht. Die Depression ist allgemein und tatsächlich gibt es wenig Gründe, nicht depressiv zu sein. Verdrängung wird sodann zu einer nützlichen Größe.

Resignation ist das Gefühl der Zeit. Selbstverständlich ist sie sympathischer als die blanke Affirmation, diese falsche Tante der Unlust, die lieben lässt, was grauslicher nicht sein könnte. Aber praktisch führt Resignation zur bloßen Hinnahme. Man ist zwar nicht dafür, aber was soll man tun? So macht man halt mangels Alternativen mit und nichts dagegen. Oft ist der Zynismus der logische Partner einer solchen Haltung. Wie sollte eins auch sonst funktionieren bei derlei Widersprüchen? Ohne Ventile geht das nicht.

Und die, die nicht resigniert haben, also die breite Mehrheit der Landsleute, haben nicht einmal resigniert. In ihrer kruden Übereinstimmung mit dem äußeren Schein der Welt ist ihnen oft kaum bewusst, wie prekär ihre Lage ist. Und wenn doch, dann individualisieren sie diese Bedrohung als eigene Schuld oder projizieren sie nach außen, indem sie gierig nach Sündenböcken suchen. Stets werden sie fündig.

Unterwerfung sagt zumindest: Ich tue etwas, was ich nicht will! Die meisten müssen sich demnach gar nicht unterwerfen. Ihnen ist ihre mentale Konstitution nie aufgefallen, diese war lediglich Aufforderung, nicht Herausforderung. Mehr als gesunder Menschenverstand ist nicht, doch der ist eine Volkskrankheit.

Erschöpfung

Viele Projekte erschöpfen sich, manche schneller, andere langsamer. Insofern ist das hohe Alter der Streifzüge nicht zu unterschätzen. Aber auch bei uns stellt sich die Frage nach dem Aufwand. Er ist relativ hoch. Das Produkt mag das rechtfertigen, aber tut es die Rezeption? Da müssten wir lügen. Im Gegensatz zur ersteren, scheint letztere kaum im Wachstum begriffen zu sein. Was wir an einigen Orten gewinnen, das verlieren wir anderswo. Wir gleichen dem Hamster im Rad …

Indes brauchen wir konzentrische Kreise von bestimmter Größe, um in zarten Ansätzen relevant zu sein, Kreise, die nicht nur konsumieren, sondern auch mit uns auf uns bauen. Vor allem also auch Menschen, die unsere Überlegungen verbreiten und ausschmücken, d.h. ihnen zusätzlich Leben verleihen. Dass der Setzung eine Fortsetzung folge. Letzteres ist immer ein wunder Punkt gewesen. Schwächen werden dann durch größere innere Anstrengungen behoben. Doch das kann es nicht sein, das trägt zwar, aber es führt auf Dauer nicht wirklich weiter. Wir schrumpfen zwar nicht, wir expandieren aber auch nicht. Reif sind wir, aber frisch sind wir nicht.

Außerakademische Kritik hat ihren Exponenten ja auch kaum existenzielle Surrogate anzubieten, sprich Entschädigungen, Versorgungen oder gar Arbeitsplätze mit Pensionsanspruch. Nicht einmal für bestellte Aufsätze vermögen wir ein kleines Honorar zu überweisen. Wir hängen sozusagen an unserem Publikum, das uns füttert wie erntet. Doch besteht dieses spezifische Publikum im wahrsten Sinne des Wortes aus Zuschauern und Zuzahlern. Insgesamt ist es eine atomisierte Menge, die sich kaum zur Selbsttätigkeit aufraffen kann. Wir wollen jedoch ein Projekt und nicht nur ein Produkt sein. Wir ersuchen, das ausdrücklich als Beschwerde zur Kenntnis zu nehmen.

Inferiore Fronten, falsche Fragen

Was wir heute erleben, ist dieses Manko an Perspektive. Nicht, dass es diese nicht gäbe, soll hier behauptet werden (vgl. auch mein „Die große Freisetzung“ in dieser Ausgabe), wohl aber dass diese nicht greift. Notwendigkeit und Möglichkeit greifen nicht ineinander, sondern klaffen weit auseinander.

Der Liberalismus vereinigt blanke Affirmation und seichte Kritik zu einem omnipräsenten Ensemble. Die Anschlussfähigkeit lässt zwar nach, aber jener beherrscht nach wie vor weite Teile der Kulturindustrie, d.h. alte und neue Medien, Hochkultur, Popkultur, Werbung und vor allem die öffentlichen Sprachregelungen (Correctness). Der Populismus hingegen ist ein Querschläger, die grobe Rache der Immanenz. Im Rechtspopulismus kämpft das System gegen das System selbst. Von allem, was wir satt haben sollten, will er noch mehr.

Was sich zur Zeit an Alternative zum liberalen Marktwirtschaftsdemokratismus geriert, ist geradezu erschreckend. Als gäbe es nur mehr die Variante, dass das noch Üblere das Schlechte hinwegfegt. Was sich da aufschaukelt und zuspitzt, das ist (zumindest in den zentralen kapitalistischen Ländern) eine Konfrontation zwischen dem satten (Links)Liberalismus und dem hungrigen (Rechts)Populismus. In dieser schrägen Konfrontation droht alles andere unterzugehen, wird alles, was quer dazu liegt, von den jeweiligen Frontoffizieren akkurat der Gegenseite zugeschlagen, um es dann entsprechend zu diffamieren. Was nicht zugeordnet werden kann, wird trotzdem eingekastelt. So verschwindet Gesellschaftskritik von der Bildfläche, wird nur als zu diskreditierende Flanke des Irrsinns wahrgenommen.

Nicht Gegenstand ist hingegen, was diese vermeintlichen Gegner eint: Marktwirtschaft, Standort, Arbeit, Demokratie, Leistung, Wachstum, Konkurrenz, Flüchtlingsabwehr. Die Liste lässt sich ins Unendliche verlängern. Was abläuft, ist eine Farce. Dass etwa die Kern-Doskozil-SPÖ noch einmal als Attraktion erscheinen kann, ist ein Treppenwitz. Und doch erfasst deren Performance mehr Leute als man für möglich hielte. Ungeheuerlichkeiten gehen fast unkommentiert über die Bühne. Ungeheuerlichkeiten werden kleiner, wenn die Etikette eine andere ist. Und von den Etiketten versteht er was, der Christian Kern, anders als sein Vorgänger, der Werner Faymann, auch wenn die Differenz in der Eloquenz liegt. Der Ruf der Coolness reicht aus, um Friends and Followers auf Facebook oder sonstwo zu kreieren.

Dass CETA, Brexit oder die Kandidatur Van der Bellens keine entscheidenden Punkte sind, darf da gar nicht kommen. Im medialen Gewitter sind es meist völlig nachrangige Probleme, die unsere Gemüter besetzen und erhitzen. Insofern wird es auch immer wichtig bleiben, die herrschenden Fragen selbst in Frage zu stellen und eigene zu formulieren. Nicht nur die Antworten sind falsch, es sind bereits die Fragen.

Transposition

Transposition meint, dass es aufgrund der sich aufschaukelnden Gefahrenlagen notwendig ist, einen Standpunkt jenseits der Konfliktebenen zu beziehen. Das ist nicht zu verwechseln mit Äquidistanz oder Ignoranz. Es schließt konkrete Solidarisierungen mit Opfern nicht aus. Solidarität gilt nicht Völkern, Kollektiven oder Staaten, sondern betroffenen Individuen, kurzum den leidtragenden Menschen in diesen Auseinandersetzungen. Transposition bezeichnet weder Partei noch Neutralität, sie versucht sich eben nicht im vorgegebenen Koordinatensystem zu verorten, sondern will darüber hinaus die Destruktivität der Konfrontationen selbst zum Gegenstand machen. Sie ist die ideelle Negation des Konflikts, die sich an der reellen Negation betreibt. Sie will ihre Fragen stellen und nicht die gestellten beantworten. Sie will nicht Flaggen hissen, sondern die Fahnen einrollen. Kurzum: Schwächt alle Fronten! Raus aus den Schützengräben!“ Was sich damals (Streifzüge 37/2007) auf die internationalen Konflikte bezog, ist durchaus von allgemeiner Natur. Falsche Fronten sind allgegenwärtig, lähmen, verunsichern und schwächen jede emanzipatorische Regung, da sie permanent in die Irre führen und unzählige Kräfte absorbieren.

Inzwischen sieht es freilich so aus, als ob alle Wege in diese elenden Schützengräben führten. Als sei unsere Betrachtung nur ein frommer Wunsch Unentwegter, man könnte auch sagen Phantasten oder Hirnederln. Inwiefern unser Gedankengut überhaupt ankommt und aufgegriffen wird, ist schwer zu sagen. Zur Zeit sieht es aus, als sei unser Part eine Mini-Minderheitennummer. 95 Prozent der Leute sind gegen euch, höre ich da von irgendwoher. Wenn es nur so wäre! Das Problem ist nicht, dass es so ist, sondern dass es nicht einmal so ist. Fünf Prozent, das wäre nämlich sogar eine beträchtliche Menge an Zuspruch.

Immer weiter so?

Welch Glück, dass es die Betriebsamkeit gibt und die Kulturindustrie noch dazu, so fällt gar nicht mehr auf, was auffällig ist: In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht eine große Ratlosigkeit, auch wenn es welche gibt, die diese halluzinativ überspringen. Damit sind nicht nur die Regimenter des Establishments gemeint. Insbesondere der Rechtspopulismus, der nicht einmal ahnt, wie wenig er weiß, wäre hier anzuführen. Es ist ja gerade seine Beschränktheit, die ihn stark werden lässt. Ressentiment und Vorurteil brauchen weder Wissen noch Erkenntnis. Was ihn aber gerade deswegen besonders gefährlich macht, droht doch das Berechenbare und Kalkulierbare von Herrschaft zu kippen. Rationaler Wahn steigert sich in irrationalen, siehe Strache, Orbán Erdoğan, Putin, Duterte, jetzt auch noch Trump. Die Welt ist nicht nur voll von solchen Typen, sie haben zunehmend Zulauf. Kleine Monster gebären große.

Die Stimmung ist ungefähr so: Nichts geht mehr, weder das, was ist, noch das, was sein könnte. So wird weitergemacht. Wird schon. Irgendwie. Doch diese Realität sollte mehr Warnung sein als Sicherheit geben. Wenn wir nur zuschauen, wird uns das mehr zusetzen, als uns lieb sein kann. Zweifellos, wir sind recht hilflos, aber am Hilflosesten sind wir, wenn wir uns ergeben. Anpassung ist die gemeinste Form verpassten Lebens. Leben darf nicht heißen, „dass man nie tut, was man will und dass man nie gewollt hat, was man getan hat“. (André Gorz, Über das Altern (1960); in: ders., Der Verräter (1958). Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Zürich 2008, S. 381)

„Sozialismus oder Barbarei?“, so formulierte Rosa Luxemburg in ihrer JuniusBroschüre (1916) die zentrale Entscheidungsfrage. Die Barbarei ist nicht nur möglich, sie hat sich in nicht wenigen Zonen schon eingenistet, man denke nur an die molekularen Bürgerkriege mit Weltbeteiligung in Syrien oder auch Libyen. Es ist uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr begreifen, was es ist, obwohl es offensichtlich ist. Das Problem ist sogar weniger, dass wir es nicht zu benennen imstande sind, sondern, dass wir es nicht spüren, weil wir empathische Spatzen sind, denen außer ihrer unmittelbaren Umgebung wenig nahe geht. Uns den Strapazen eines kritischen Denkens und warmen Empfindens zu unterziehen, wo wir doch durch Alltag und Job überbelastet sind, scheint nicht möglich. Unser Sensorium ist gestört. Es ist jedenfalls auch eine große Krise des Fühlens, in der wir heute leben, und es ist zu fürchten, dass eine bombastische Fehlemotionalisierung uns sogar die Reste unserer Menschlichkeit austreibt.

So gesehen, ist das hier auch ein kontrafaktischer Aufruf, allen Widrigkeiten zum Trotz nicht aufzugeben – eine Attacke gegen den Fatalismus und die ihm zugrunde liegende Realität. So probieren und experimentieren wir weiter. Zwar nicht blindlinks, aber doch entschlossen, den widrigen Zeiten zu trotzen. Gibt es Besseres? Eigentlich nicht! Der Zersetzung des gesellschaftlichen Gefüges kann nur effizient mit der Abschaffung desselben begegnet werden, ansonsten ist der Zusammenbruch tatsächlich einer der übelsten Sorte und eben nicht das, was er sein soll: die produktive Zerstörung einer irren Form. Was die Zukunft bringt? Nun, das hängt auch davon ab, ob und wie wir uns einbringen können ohne eingemengt zu werden.

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