FORVM, No. 114
Juni
1963

Die falsche Alternative

Zur Hinrichtung Julian Grimaus in Spanien

Wir sind zahlreich, wir, die niemals vergessen haben, daß der Westen durch sein verächtliches Versagen am Beginn des spanischen Bürgerkrieges eine Schuld auf sich geladen hat, die bis heute nicht getilgt ist.

Die junge Republik war durch eine Armee von Landsknechten und Kolonialtruppen angegriffen worden, deren Führer schon seit langem niemand andern zu besiegen vermochten als ihr eigenes, entwaffnetes Volk. Um den republikanischen Staat zu entehren, stürzten sie ihn in blutige Unordnung, vernichteten sie die junge Demokratie, noch ehe sie überhaupt in die Lage gekommen war, die alten Vorrechte abzuschaffen, die Erde den Bauern zu geben und das Land der Nation, und Spanien wieder an Europa anzugliedern.

Die Republik hätte zu ihrer Rettung die sofortige Hilfe der demokratischen Länder gebraucht, in erster Linie Frankreichs und Englands. Aber diese beiden Mächte entschieden sich für eine Politik furchtsamer Gleichgültigkeit; sie gaben ihr einen Namen: „Nicht-Intervention“. Die große Blütezeit der Feigheit, die 1933 begonnen hatte, erreichte damals ihren Höhepunkt. Sie wurde 1939/40 nur unterbrochen, denn spätestens im Mai 1945 setzte sie in allen freien Ländern wieder ein.

Die erste Wirkung der Nicht-Intervention bestand darin, daß sie der Konterrevolution Francos die erforderliche Frist sicherte, die Hitler und Mussolini zur Heranschaffung unbeschränkter militärischer Hilfe benötigten. In weiterer Folge machte die französisch-englische Politik aus Stalin den einzigen Schutzpatron der tödlich bedrohten spanischen Demokratie. Ein Jahr genügte sodann, um die totalitäre Polarisierung in Spanien zu vollenden. Von da an diente das Land den beiden konkurrierenden Systemen der totalitären Tyrannis als Probeschlachtfeld. Der mörderischeste Betrug unseres Jahrhunderts verkehrte den Sinn der Revolution. Die Männer des Volkes schlugen sich noch immer gegen den Tercio, die Phalangisten und gegen die faschistischen Divisionen, aber die Ziele, für die sie ihr Leben wagten, wurden in unerreichbare Ferne gerückt.

Obschon die Stalinisten sich ihre Waffenlieferungen mit dem Gold der Republik aufwiegen ließen, bestanden sie insgeheim darauf, daß ihnen alle Befehlsstellen von einiger Bedeutung ausgeliefert würden. Nachdem die GPU den großen Arbeiterführer Andrès Nin ermordet hatte, inszenierte sie in Barcelona, im Oktober 1937, einen Moskauer Prozeß gegen Julian Gorkin, Andrade, Arquer, Bonet und die anderen Führer des POUM („Partida Obrera Unida Marxista“ — Vereinigte Marxistische Arbeiterpartei). Sie wollten der internationalen Linken ebenso wie den spanischen Republikanern die Alternative aufzwingen: entweder bedingungslose Unterwerfung unter Stalin und seine Vertrauensmänner — oder bedingungslose Kapitulation vor Franco und seinen Verbündeten.

Seit etwa vierzig Jahren liefert die totalitäre Pseudoalternative der bedrohlichsten Erpressung unserer Zeit ihre doppelt falsche Argumentation. Sei es die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, die Ermordung Kurt Eisners, Gustav Landauers und so vieler anderer Sozialisten und Kommunisten in Deutschland; die Ermordung Matteottis und der faschistische Terror in Italien; die Schandtaten der semifaschistischen Systeme auf dem Balkan und in den lateinamerikanischen Ländern; und so weiter bis zu den permanenten Verbrechen des Nazismus: immer begründeten die Diktatoren und ihre Schergen, ihre Diplomaten und ihre gefügigen Intellektuellen das ungezügelte Wüten der Gewalt mit dem erpresserischen Argument: „Wer gegen uns ist, hilft den Kommunisten und fördert ihren Aufstieg zur Diktatur. Vergeßt nicht — es gibt nur sie oder uns! Wählt!“

Gleichzeitig verkündeten Stalins Propagandisten überall: „Wer es wagt, die Zwangskollektivisierung zu kritisieren oder die Unterdrückung der Opposition oder die administrative Verschickung nach Sibirien oder gar die Moskauer Prozesse — der stellt sich hinter Mussolini und gegen die Verbannten auf den Liparischen Inseln, hinter Hitler und gegen seine Opfer in Dachau, Oranienburg und Buchenwald, hinter Franco und gegen das ermordete Volk von Guernica. Vergeßt nicht — es gibt nur sie oder uns! Wählt!“

Die großen Erpresser sind nicht mehr. Kein Tag vergeht, ohne daß ihre früheren Spießgesellen und Speichellecker sie frenetisch verleugnen. Noch mehr als die Art ihrer Verbrechen offenbart ihr posthumes Schicksal, daß diese Übermenschen einander grotesk ähnlich waren, daß nur ihr Ehrgeiz sie in Rivalen verwandelt hatte und nur auf der Konkurrenz ihre Feindschaft beruhte.

Francisco Franco, der alte General, der sich achtzehn Jahre nach dem jämmerlichen Ende des „Führers“ und des „Duce“ noch immer „Caudillo“ nennen läßt, hat jetzt den kommunistischen Funktionär Julian Grimau unter Umständen hinrichten lassen, die in jeder Hinsicht empörend sind. Der Gefangene wurde grausam gefoltert, in einem Scheinprozeß verurteilt und sodann in verräterischer Eile umgebracht.

Offenbar glaubt der Caudillo, daß Erpressung auch heute noch so lohnend sei wie zu Lebzeiten Hitlers und Stalins, daß alles so rasch wie einst der Vergessenheit anheimfällt, und am raschesten gerade das Unrecht, das nicht mehr wiedergutzumachen ist — etwa die Ermordung Imre Nagys und seiner Gefährten, die Kádár nach einem Scheinprozeß ohne Verzug hinrichten ließ. „Das fait accompli übt auf das Volk eine besänftigende Wirkung aus“, erklärte an jenem Tage der Generalstaatsanwalt in Budapest.

Francos Minister, die für die Hinrichtung Julian Grimaus stimmten, scheinen an diesen ermutigenden Aphorismus gedacht zu haben. Vor allem aber rechneten sie auf die Wirkung des antikommunistischen Arguments. Zumindest die unausgesprochene Zustimmung der Antistalinisten hielten sie für sicher, da sie doch einen Menschen töten ließen, der tatsächlich einer der Chefs der Stalin’schen GPU in Barcelona gewesen war.

Und es ist ja auch nicht zu bezweifeln: wäre Grimau zur Macht gekommen, so hätte er, den wechselnden Befehlen Moskaus stets gehorsam, genauso gehandelt wie ein Rákosi, ein Gerö, ein Gottwald, ein Kádár ... Aber das ändert nichts am Sachverhalt, das verringert weder unsere Empörung über das Schicksal, das die Diktatur diesem Mann bereitet hat, noch enthebt es uns der Pflicht, gegen diese schamlose Justiz-Parodie zu protestieren, mit der gleichen Entschiedenheit zu protestieren, mit der wir seit jeher die falschen Alternativen der Hitler und Stalin, der Franco und Kádár zurückgewiesen haben.

„Die Wut der Dummköpfe erfüllt die Welt mit ihrem Gebrüll.“ Man hat den traurigen Refrain aus den „Großen Friedhöfen unter dem Mond“ nicht vergessen. Der Katholik Georges Bernanos hat dieses notwendige Buch geschrieben, nachdem er sich aus der falschen Alternative befreit hatte, in die man ihn im Namen der Kirche zwängen wollte.

Franco, genau wie die Mörder Imre Nagys, spekuliert auf die Pseudodialektik der totalitären Logik, die immer wieder die von ihr Verblendeten in befehlsgemäß wutschnaubende Idioten verwandelt.

„Ihr seht, es gibt nur eine einzige Opposition in Spanien: die kommunistische. Sie wird von den gleichen Männern geleitet, die während des Bürgerkrieges „so schauerliche Verbrechen verübt haben. Jede Weichheit gegenüber dieser Opposition würde nur den Kommunismus fördern und eines Tages einen neuen Bürgerkrieg hervorrufen.“ Mit solcher Argumentation versuchen die Frankisten, den zornigen Beifall der politischen Dummköpfe zu erringen und zugleich „das Volk durch ein fait accompli zu besänftigen“.

Und die Kommunisten ihrerseits verkünden allenthalben: „Ihr seht, es gibt nur eine einzige Opposition in Spanien: die kommunistische. Sie ist so wirksam und bedrohlich, daß Franco, von Panik erfaßt, sich nicht anders zu helfen wußte, als Grimau schleunigst zu beseitigen. Wer nicht mit uns ist, hilft Franco. Wer aber gegen Franco ist, muß sich auf unsere Seite stellen und darauf verzichten, uns zu kritisieren.“n

Die Wahrheit ist, daß das ganze spanische Volk den Bürgerkrieg und dessen Gewalttaten ebenso verabscheut, wie es jede Diktatur verabscheut. Es wünscht die endgültige Versöhnung aller Spanier innerhalb eines demokratischen Staates, der einem jeglichen alle Menschenrechte garantiert. Es wünscht ein freies, mit den freien Nationen Europas vereintes Spanien.

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