Internationale Situationniste, Numéro 5
 
1976

Die diesjährige allgemeine Meinung über die S.I.

(Pressestimmen)

Deutschland

Die Leute der Münchner Gruppe „Spur“ laufen den internationalen Situationisten (deren Führer Asger Jorn ist) nach … Mutig in ihren Reden laufen sie doch nicht schnell genug, da sie durch ihre schwerfällige Mentalität gehemmt werden. Wollen und können — was für ein Gegensatz!

Vernissage , Oktober 1960

Wodurch aber wollen diese jungen Samsons die korrumpierte Ordnung ersetzen, die sie umstürzen wollen? Das überlassen sie der Organisation der Situationisten, der sie als Gruppe angehören. Sie zitieren aus dem Manifest vom 17. Mai 1960 … Es ist natürlich etwas Internationales, das 1959 einen natürlich internationalen Kongress veranstaltet hat. Worum handelt es sich? „Es ist jetzt schon so weit“, so das Manifest, „dass die Künstler von der Gesellschaft vollkommen getrennt sind, wie sie auch untereinander durch Konkurrenz getrennt werden.“ Schön gesagt! Gerade in dieser Situation entdecken unsere Situationisten den Ursprung der obengenannten Mißstände. Als Gegenstück bilden sich Guy Debord und seine Freunde ein, eine „situationistische Kultur“ verwirklichen zu können, die die „allgemeine Beteiligung“ verlangen würde. Anstelle konservierter Gegenstände wäre die Kunst eine „Gemeinschaft des unmittelbar erlebten Augenblicks“, eine alle umfassende und anonyme Schöpfung. Das würde eine „Revolution des Verhaltens“ voraussetzen — wie man es sich leicht vorstellen kann. Tatsächlich gibt es viele Zeichen einer zunehmenden Unzufriedenheit, einer „Kulturkrise“. Die Ziele der Rebellen sind aber untereinander nicht so sehr verschieden. Bevor sie die Einfarbigkeit als unfruchtbare Polemik definieren — sind sie nicht selbst Polemiker? — sollten die Anhänger von „Spur“ das Gelsenkirchener Theater und Yves Kleins Manifeste studieren. Die „Herrschaft der Sensibilität“ ist nicht so weit entfernt von der „situationistischen Kultur“, wie sie meinen. Sie wurde nur mit viel mehr Genauigkeit erfunden.

John Anthony Thwaites, Wütende Pioniere,
Deutsche Zeitung
vom 23.9.1960

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, sieht diese junge Gruppe nur die Alternative: auf die Malerei als eine individuelle Kunst zu verzichten, um diese in einem neuen, „situationistischen“ Rahmen anzuwenden. Was für ein monströses Wort! Solche Manifeste sind als Symptome für Beunruhigung und Unbehagen interessant. Dieses enthält auch einzelne Wahrheiten, aber seine Verfasser stehen den Phänomenen und den Slogans zu nah, so dass die Wahrheit ihnen entgeht.

Fritz Nemitz, Die Kultur, Oktober 1960

Frankreich

Über die Verwirklichung ihrer „kritischen“ Ästhetik hinaus haben die Hauptträger dieser Bewegung theoretisch den dritten Horizont ins Auge gefasst, in dem die Malerei es akzeptiert, durch eine allumfassende und konkrete Kunst aufgehoben und ersetzt zu werden, anstatt zu versuchen, über sich selbst hinaus zu gehen. Eignet sich denn die Entwicklung der Technik nicht dazu, neue, nicht mehr biIdhafte, sondern konkrete Strukturen-komplexe in der Form neuer Situationen hervorzubringen? Deren direkte Beziehung zur Aktion würde die aus dem Verlust der alten Unmittelbarkeit entstandene Leere ausfüllen. Das ist aber nur noch reine Theorie.

Francoise Choay, Arguments No.19, Okt. 1960

Die Forschungen der Kultur (nach Stoffen und Formen der Kunst, philosophischen Mechanismen und wissenschaftlichen Wahrheiten über Mensch und Natur) stellen eine lange, geduldige Bemühung dar und jeder Bruch mit diesem gesamten Wissen kann nur eine Rückkehr zur Barbarei bedeuten …

Nun werfen gewisse Intellektuelle, die unfähig sind, ihre verschwommene und falsche — durch die Erfahrung widerlegte — Anschauung in die Kultur zu integrieren, lieber die Kultur weg, als ihre Begriffe und sich selbst zu überprüfen … Die Situationisten, die es im Namen der Organisation der zukünftigen Gesellschaft in Anspruch nehmen, mit den Elementen der vergangenen Kultur zu brechen und sie sogar wegzuwerfen, um sie durch „lebendige“ sub-subkulturelle Werte an ihrer Stelle brutal zu ersetzen, sind nicht einmal Marxisten, sondern — was noch schlimmer ist — Höhlenmenschen.

Ich sage schlimmer, weil wir dann den untersten Marxismus verlassen, um uns geradezu dem Faschismus, der unter verschiedenen Vorwänden wiederholten Reaktion anzuschließen, die wir seit dem Kalifen Omar und der nie wiedergutzumachenden Vernichtung der Bibliothek in Alexandrien bis zu Goerings Antikultur kennen gelernt haben. Wenn die S.I., wie andere „Neo“-Proletarier bzw. „Neo“-Nationalisten ihre soziale Macht nur vergrößert, kann sie zwar den inneren Fortschritt der Kultur eine zeitlang von außen abzuwürgen versuchen, letzten Endes aber wird die Forschung in den verschiedenen Fächern des Wissens unsere unwissenden Reaktionäre zurückweisen und bestrafen, wie sie schon andere in der Vergangenheit zurückgewiesen und bestraft hat.

Wenn ich feststelle, wie viele Jahre so auffällige Irrtümer wie der Nazismus, der Kommunismus bzw. auf einer begrenzteren Verbreitungsebene der situationistische Ausdruck, der so viele Energien unnütz zugrundegerichtet hat, andauern, so verstehe ich, dass etliche Leute mich dazu veranlassen wollen, ein wenig von meinen Kräften auf die Entlarvung gewisser Betrügereien zu verschwenden.

Poésie Nouvelle, Sondernummer über die S.I. Nr.13, Oktober 1960
befindet sich in Paris, 13 rue de Mulhouse

Was die Beziehungen der Künstler untereinander betrifft, führt die größenwahnsinnige Ichbezogenheit zur Entstehung eines Willens, die anderen zu überwinden, wobei man darauf achtet, nicht selbst hineingezogen zu werden. Das habe ich schon geschrieben und gesagt.

Robert Estivals Brief an Debord über die Folgen des Grössenwahns (Grammes, No.5)

Kanada

Also, nein! Ich weigere mich, einen tiefen Sinn hinter leeren Phrasen und Ausdrücken zu finden, die man gebraucht, ohne deren genaue Bedeutung zu kennen … Es müssen wirklich viele daran gehen, um die französische Sprache so munter und mit solcher Dreistigkeit zu massakrieren. Eines Tages sollte doch mit diesen Pseudo-Intellektuellen einer falschen Avantgarde Schluss gemacht werden, die immer noch dabei sind, sich gegenseitig ihre Pimmel zu zeigen. Wer sich in eine „Kritik für eine Konstruktion von Situationen“ einlässt, läuft Gefahr, weit zu gehen — besonders mit Patrick Stramm als Steuermann, der darin anderswo schon zurückgewiesene Texte veröffentlicht, ohne sich zu fragen, ob seine Schriftchen nicht wegen ihrer Kühnheit sondern ganz einfach wegen ihrer Bedeutungslosigkeit und Erbärmlichkeit abgelehnt werden.

Jean-Guy Pilon, Liberté 60, No. 910, Sommer 1960

Ich stolpere über einen gleichzeitig verdrehten und schon verknöcherten Wortschatz, dem es trotzdem nicht gelingt, so viele Gemeinplätze zu erneuern. Ich stelle den mehr oder minder bewussten Wunsch nach einer intellektuellen Sicherheit fest, die ein neues scholastisches System geben könnte, dem gegenüber Terminologie und Inhalt des mittelalterlichen Denkens frisch und spontan anmuten.

Clément Lockquell, Le Devoir de Montréal, 16.7.60

Ich kann kaum sagen, wie sehr ich enttäuscht wurde. Der Ton war zwar richtig und dennoch lassen die Worte eine ganze Landschaft offen, die neu zu erfinden ist. Und dazu diese S.I., die nur in ihrem Namen international ist. Das Leben ist zu grausam, als dass man sich so wichtig nehmen kann. Der Surrealismus war echt, der Situationismus bleibt dagegen die Konstruktion einiger gebildeter Geister … Man muss aber deutlich sprechen. Nénault, Miron, Portugais, Lapointe und Dubé sprechen deutlich. Sie scheinen aber keine Situationisten, sondern nur ein Nachtrag zu Patrick Strarams Heft zu sein. Wir fangen an zu lernen, unsere sexuellen und persönlichen Probleme von denen unseres Volkes zu trennen. Und das Volk vorzuziehen … Alles sagen, aber deutlich sprechen. Erst dann werden wir diese Landschaft erfinden, damit andere in ihr leben können. Unsere Kinder z.B.

Jacques Godbout, Liberté 60, No.9/10
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