Heft 3-4/2002
Juni
2002

Die Argentinische Krise und mögliche Ansteckungseffekte

Nichts ist unmöglich in Argentinien. Jenseits der politischen Vorhersage und seit der institutionellen Explosion Mitte Dezember 2001 initiierte die Bevölkerung spontan Praktiken der direkten Aktion und ließ nicht zu, dass die “piquetes” und lokalen Versammlungen unter die Kontrolle der traditionellen politischen Parteien oder der außerparlamentarischen orthodoxen Linken kamen.

Santiago de Chile

Mitten im 21. Jahrhundert hat die soziale Explosion in Argentinien den Begriff “Revolution” zurückgewonnen. Die ökonomische Krise und die Unglaubwürdigkeit des repräsentativ-demokratischen Systems vereinen die Bevölkerung in der Verzweiflung und im Skeptizismus. Trotzdem, und um aus der Pleite herauszukommen, entwickeln die ArgentinierInnen solidarische und horizontale Initiativen, obwohl die extreme Armut und die Arbeitslosigkeit sie mit Sorgen voll ausfüllen.

Die Fälle sind zahlreich. Am 28. März dieses Jahres ließen sich in Rosario, 300 km nördlich von Buenos Aires, ganze Familien für ein paar Pesos die Haare scheren. Der Käufer war eine Perückenfabrik, die 100 Dollar pro Kilo Haar bezahlte.

In den folgenden Tagen eröffnete eine neue Welle von Plünderungen die Debatte über das Bleiben des aktuellen Regierungschefs, des in Frage gestellten Leiters der Partido Justicialista (peronistisch) Eduardo Duhalde. Wird dieser dasselbe Schicksal wie einer seiner Vorgänger teilen, der Politiker der Union Cívica Radial (UCR) Fernando de la Rua, der während der Arbeitstage des vergangenen 19. und 20. Dezember das Regierungsgebäude (Casa Rosada) im Hubschrauber verließ?

Laut der Tageszeitung Clarín vom 29. März, brachen ca. 100 Personen in eine Fleischhauerei in Merlo – in der Provinz von Buenos Aires – ein und nahmen ca. 3 Tonnen Fleisch, eine Waage und mehrere Messer mit. Ein Kaufhaus wurde am selben Tag von einer Menschenmenge überfallen, die Ware, einen Fernseher und andere Elektrogeräte, Parfums und Geld aus den Kassen mitnahmen.

Für die einen ist es das Chaos, für andere einfach der Hunger.

Aus der politischen Klasse machte Jorge Gorosito, Minister der Provinzregierung von Neuquén – wo es auch Plünderungen gab – die “linken politischen Parteien und die CTA (Central de los trabajadores Argentinos, eine der Gewerkschaftsorganisationen)” für diese Aktionen verantwortlich. Die andere Seite verteidigte sich indem sie sagte, es handle sich um “ein politisches Manöver der Regierung, um eine Psychose herbeizuführen”.

Der Privatsekretär des Regierungschefs, José Pampuro, verbarg hingegen nicht seine Besorgnis. “Bei diesen Dingen weiß man wie sie beginnen, aber nie wie sie enden”, erklärte er in der Rundsendung der Centroizquierda Pagina 12.

Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrages

Der Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrages zwischen Politikern und dem Rest der Gesellschaft ist evident in diesem lateinamerikanischen Land. Nach einer Umfrage des Instituts Equis, veröffentlicht am 1. April in Pagina 12, betrachteten 34,5 % die Leitung der politischen Parteien als vorrangigste Sorge der Gesellschaft. Und als ob das wenig wäre, 62 % der Befragten bewerteten die Regierung Duhaldes als negativ; bedrohliche 95 % versicherten, dass Argentinien nicht aus der Krise herauskommen werde; 82 % drückten ihre Ablehnung gegenüber den ökonomischen Maßnahmen der Exekutive aus und 54 % der Befragten meinten, dass der Regierungschef seine Amtszeit nicht beenden werde.

Duhalde steht mit dem Rücken zur Wand. Die erwähnte “Neugründung” der Republik Argentinien – als Rezept gegen die institutionelle Korruption – steht weiter nur auf dem Papier, Hunderte Hindernisse für eine Umsetzung aufzählend. Währendessen zittert die führende Klasse, weil sie die Proteste der ArbeiterInnen und Arbeitslosen, die in “Piquetes” (kleinen Einsatzgruppen) versammelt sind, — noch — nicht unter Kontrolle hat, und wegen der wütenden Angehörigen der Mittelschicht, die ihre Kochtöpfe benützen, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen und sich außerdem in lokalen Versammlungen vereinen. Sie verfolgen ihre “Revolution”, die den Kampf ausruft, “bis alle gehen”, wobei sie sich auf die politische Klasse als ganze beziehen.

“Der internationale Währungsfonds will Blut, Schweiß und Tränen ... Unsere Politiker sind korrupt, aber der IWF ist teuflisch. Die interessiert nur, dass wir die Auslandsschulden zahlen, die sie selbst in Komplizenschaft mit unseren diebischen Regierungen verursachten, selbst wenn es auf Kosten des Hungers oder sogar des Lebens von Millionen ArgentinierInnen geht. Wenn wir sagen, “sie sollen alle gehen”, schließen wir die Politiker, die Unternehmer und korrupten Banker ein, aber auch die Geier des IWF”, postulierte eine Teilnehmerin beim Forum Indymedia Argentinien am vergangenen 29. März.

Zumindest für die Journalistin Silvia Naishtat, “hinterlässt die Krise Werte, die einen grundlegenderen Wandel der Gesellschaft versprechen. Die Mittelschicht hat die Konversation mit den Freunden, die Stadtteilgruppen und sogar die Tauschringe wiederbelebt.” In dem, was die dritte Ökonomie Lateinamerikas wäre, funktionieren schon 4500 Tauschzentren im ganzen Land. Und nicht nur für die am wenigsten Besitzenden; die Mittelschicht kann auch ihre Tage damit verbringen, in diesen Einrichtungen Produkte oder Dienstleistungen zu tauschen.

Laut Clarín, gehören bereits etwa drei Millionen ArgentinierInnen – fast 10 % der mehr als 37 Millionen EinwohnerInnen – einem Tauschzentrum an. Und laut Robert Mulford, Ex-Analyst der Banco Nación, kann durch die kräftige Zuwachsrate — jeden Tag kommen etwa 5000 Personen dazu — bis Ende des Jahres die Zahl von sieben Millionen Mitgliedern erreicht werden. Diese alte Aktivität ermöglicht unter anderem, dass ein Arzt einen Maurer behandelt, nachdem dieser einwilligt, ihm in nächster Zeit die Ordination auszumalen.

Die Fotografien in dieser Ausgabe stammen von dem Künstler Francisco „Panchi“ Claure Ibarra, der in Bolivien geboren ist und derzeit in Wien lebt. Er hat liebenswerterweise Context XXI diese Auswahl seiner Fotografien speziell für den Lateinamerika-Schwerpunkt zur Verfügung gestellt.
Bild: Francisco „Panchi“ Claure Ibarra

Streit zwischen Linken

Die argentinische Linke ist zwar eng verknüpft mit den ständigen Protesten, die das politische System in Schach halten. Trotzdem ist es möglich unter den Agitatoren Elemente zu erkennen, die mit den ”caciques” (Herren) des Peronismus verbunden sind, oder militant nationalistischen Gruppen wie den ”carapintadas” angehören.

Im Inneren dessen, was man als ”politische Linke” kennt, zwischen orthodoxen und libertären, geht der Streit weiter. ”Sag den Unverschämten deiner Partei, welcher auch immer, dass sie zu großem Teil dafür verantwortlich sind, dass die Linke elitistisch, sektiererisch, zersplittert, reformistisch und nur für die eigene Klientel da war. Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, dass sie jenseits des Arbeiterdiskurses nie das Sprachrohr der arbeitenden Massen war”, rügte vergangenen 27. März ein Teilnehmer im argentinischen Forum von Indymedia.

Die Anschuldigungen gegen die linken Kleingruppen versuchten ihrerseits auch das horizontalistische Handeln der Nachbarschaftsversammlungen zu verteidigen: ”Die Versammlungen werden fortdauern, trotz der Parteien und nicht Dank dieser, die an den Versammlungen nur interessiert sind, um einen weiteren Gummistempel zu haben, um ihre hochtönenden Slogans zu legitimieren und die Unfehlbarkeit ”der Partei” zu betonen, welcher auch immer, aber im speziellen die Partei der Arbeiter für den Sozialismus (PTS) und der Polo Obrero (PO)”.

Goyo nahm auch am Forum von Indymedia Teil und argumentierte am 28. März aus der Sicht eines militanten Parteimitglieds. “Denen, die glauben, in einer Partei zu sein ist wie im Gefängnis zu sein, sage ich: Wir, die in einer Partei kämpfen, machen dies aus eigener Entscheidung, weil es die beste Form ist, um Kräfte für ein großes kollektives Projekt, wie es die Revolution ist, zu vereinen”, warf er ein und fügte sogleich hinzu, dass er ”deshalb immer sage, dass jene, die in einer linken Partei kämpfen die wahren Unabhängigen sind, weil sie es noch gegen die offizielle Ideologie machen, die uns sagt, die Politik sei schlecht, die Ideologien seien tot und man müsste sich individuell retten”.

Die Lösung des argentinischen Konfliktes wird nicht einfach sein. Und es wird betont, dass ”alle einen individuellen Ausweg suchen aus einer Krise, die man vom Kollektiv aus nicht lösen kann. Die Schlangen zeigen in Wirklichkeit das Misstrauen und die Unsicherheit der Leute; nicht nur in die im Amt befindliche Regierung, sondern in etwas Tieferes, wie es das Fehlen von einem Projekt eines Staates, der sie einbezieht, ist.”, klagte am 26. März Oscar Martínez, Kommentator von Clarín, an.

Macht der Mobilisierung

Die Lösung der Pleite des neokapitalistischen Systems – in dem Argentinien nur zur Avantgarde zählt – scheint die “Gegenmacht” zu sein. Sie manifestiert sich anarchisch in der direkten Straßenaktion, der Selbstverwaltung und einer radikalen Demokratie. “Diese sind Teil eines Phänomens, das seine Entsprechung im Kampf der Bewegung der Landlosen (MST) in Brasilien, der indígenas und Bauern in Chiapas und der Antiglobalisierungsgruppen, die im Inneren der großen Mächte entstehen, hat, die seit dem Gipfel der Mächtigen in Seattle (1999) relevant zu werden begannen, wo man vor der ganzen Welt die Barbarei anklagte, zu der uns dieser globale Kapitalismus führt”, meinte ein Teilnehmer am Indymediaforum am 2. März.

Wie die Journalistin Naomi Klein, Autorin des gelobten Buches der Antiglobalisierung No logo, meinte, stammt die Wut der ArgentinierInnen nicht nur aus ihren zugespitzten ökonomischen Problemen. “Ich traf Leute, die viel mehr über die Bildung, Gesundheit und Beschäftigung sprechen und erst danach über ihre Ersparnisse. Und noch dieses letzte ist für viele Leute Teil eines Musters des Machtmissbrauchs in der Geschichte dieses Landes”, erklärte sie in einem Interview, das am 24. März in der konservativen Zeitung La Nacion erschien.

Klein fügte hinzu, dass es “eine unglaubliche Wut gegen die repräsentative Demokratie gibt und einen absoluten Zusammenbruch des Vertrauens in jedwede Organisation, (aber) gleichzeitig gibt es das Glück der Wiederentdeckung der wichtigsten Basis, des Anderen, der Nachbarn”. Die kanadische Journalistin sagte, sie war bewegt, da sich in dieser neuen Praxis “ein Ende der Diktatur in ihren Köpfen und Herzen findet”, wobei sie sich auf die Jahre der Militärherrschaft in diesem Land (1976 – 1983) bezog.

In einer antiautoritären Analyse — erschienen am 12. Februar — kritisierte das Kollektiv Situaciones en Argentina die Art der Teilnahme einiger marxistischer und trotzkistischer Gruppen (Convergencia socialista, Izquierda Unida, Polo obrero, Prensa Obrera, Movimiento Socialista de los Trabajadores, Partido de Trabajadores por el socialismo, u.a.). “Diese Gruppen der übermäßigen Erleuchtung können nichts anderes als die Versammlungen abzuwerten, in dem Maße in dem sie sie nicht als Ort der Reflexion respektieren. Sie nehmen nicht am Prozess mit dem Rest der Bevölkerung teil. Sie glauben, ‚sie wissen schon’, von ‚vornherein’ was angebracht ist und was nicht”, brachte es das Dokument auf den Punkt. Und fügte hinzu: “Nichts wäre trauriger als kleine bürokratische Räume zu schaffen, voll von kleinsten Mächten in der Art von ‚Stadtteiltyrannen’.”.

Auch Klein traf den Nagel auf den Kopf. “Ich glaube, dass die Wut gegen die Repräsentanten der Demokratie sich auf jeden ausdehnt, der die Versammlungen oder die Streiks an sich reißen oder unterwandern will. Es gibt generell ein tiefes Misstrauen gegen jede Art von ‚Experten’. Ich glaube, dass jeder der kommt und sagt, ‚das ist das Modell’, mit Fußtritten hinausgeworfen wird”, schloss sie, und versicherte außerdem, dass das auch im Rest der Welt passiere und die neuen sozialen Leitfiguren auf andere Art arbeiten. “Es sind keine Leute, die viel über Ideologien oder Dogmen reden, sondern über Mechanismen; sie wollen konkret sein.”, präzisierte sie.

Explosion

Ob die Explosion in diesem lateinamerikanischen Land einem vorrevolutionären oder reformistischen Prozess entspricht, wird von der eigenen Bevölkerung abhängen. Der rechte Populismus der Partido Justicialista, einige Putschversuche, implizit von den Finanzzentren der Macht gefördert, ein ersehntes Ende der sozialen Konstruktion von unten, sind einfache offene Fragen. “Glücklicherweise müssen die aktuellen Kämpfe nicht mehr sagen, wie die Welt morgen sein wird. Ihre Legitimität verbindet sich mit der Kapazität, im Kampf selbst neue Werte der Gerechtigkeit zu schaffen, ausgehend von Initiativen und konkreten Projekten”, schlagen die AutorInnen vom Kollektiv Situaciones vor.

Zumindest der Tauschhandel ist ein gutes Beispiel. Die Kontrolle durch die Arbeiter in der Fabrik Brukman und Zanón erinnert außerdem an die Selbstverwaltung im revolutionären Spanien 1936. Im Fall von Brukman Textil fiel die Verwaltung in die Hände einer kämpferischen Gewerkschaft und im anderen Fall in jene von Arbeitern, die beschlossen, die Bürokratie hinauszuwerfen. Aber in beiden Fällen gehorchte die Entscheidung dem Interesse, die Arbeitsplätze zu erhalten und wehrte sich beständig gegen die polizeiliche Verfolgung. “Es ist eine Fabrik, in der alles funktioniert und von der Versammlung der Arbeiter abhängt. Sie treffen die Entscheidungen: wie viel produziert wird, wie viel sie verdienen, wie viel investiert wird, was sie machen, um die Besetzung aufrechtzuerhalten und sich gegen die Repression zu wehren, wie den Prozess gewinnen, um im Großen verkaufen zu können oder die Erlaubnis zu erhalten, um so mehr produzieren zu können, welche Strategie zu ergreifen ist, damit die übrigen Kollegen, die dort arbeiten, an den Arbeitsplatz zurückkehren, und die Gewerkschaft, die mit den Eigentümern geht, links liegen lassen ... es ist sehr schön ... ich erinnerte mich an die Arbeiterketten in der Zeit der UP (Unidad Popular), die Selbstverwaltung pur”, kommentierte Alonso, ein chilenischer Anarchist, der Argentinien Ende März besuchte.

Um zu verhindern, dass die argentinische Krise ihre Nachbarn ansteckt, stellte der IWF Brasilien Ende März eine Finanzhilfe von 5.000 Millionen Dollar zur Verfügung, nachdem sie mit diesem Land eine Kreditübereinkunft über 15.000 Millionen Dollar getroffen haben. Genauso erhielt Uruguay einen Kredit von 743 Millionen Dollar, was Montevideo, das durch seine geografische Nähe und wirtschaftliche Verflechtung durch die argentinische Pleite schwer angeschlagen ist, ein Aufatmen ermöglichte.

Den bevorstehenden unstabilen Perioden der Erhöhung des Dollarkurses, einer bedrohlichen Hyperinflation und der gefürchteten Unterversorgung zwischen Plünderung und Plünderung erliegend, trinkt Duhalde einen bitteren Mate und hört einen traurigen Tango, und äußert sich informell – laut Clarín vom 29. März – “Wenn ich den Leuten sage, es gibt keinen Ausweg, zerbricht alles, bevor wir wissen, wie wir da rauskommen”. Vielleicht lauert, in einem nicht abwertenden Sinn, die Anarchie hinter der Ecke.

übersetzt von Manfred Gmeiner

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