ZOOM 3/1997
Juni
1997

Deserteur

Anmerkungen zu einem nicht mehr erhältlichen Roman eines Wehrmachtsdeserteurs, einem neu aufgelegten Buch über Südtiroler Deserteure und eine in Österreich notwendigerweise noch zu führende Debatte.

Sie haben (...) vor dem Kriegerdenkmal durch besonders rücksichtsloses Verhalten (Transparent zu Allerheiligen mit der Aufschrift ’Wir ehren Deserteure’) die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt gestört, wodurch bei mehreren Passanten berechtigtes Ärgernis hervorgerufen wurde.

Aus einer Anzeige der Bundespolizeidirektion; siehe Eugene Sensenig, Salzburger Weltkriegstheater 1996.
In: Informationen der Gesellschaft für Politische Aufklärung 51/Dezember 1996.

Über 20.000 Fahnenflüchtige, Wehrkraftzersetzer und Deserteure der Deutschen Wehrmacht wurden während des Zweiten Weltkrieges hingerichtet. Über ihre Taten, Motivationen und Konsequenzen ist bis heute nur wenig bekannt. Umso wichtiger sind Dokumente, in denen jene, die desertierten, selbst über ihr Handeln schreiben. Der Wiener Anton Fuchs, nach dem Krieg zunächst in der Wiener Atombehörde tätig und dann als freier Schriftsteller in Klagenfurt lebend, hat seine Erlebnisse in einem Roman basierend auf Tagebuchaufzeichnungen während seiner Flucht festgehalten.

Auf der Flucht

Im September 1944 wird Fuchs alias Erich Kauff als Feldsanitäter an die holländische Westfront verlegt. Während eines Rückzugs vor den vorrückenden Alliierten setzt er sich ab. Bauern, deren Söhne im Widerstand aktiv sind, verstecken ihn in einem Heustadel. Seine frisch gewonnene Freiheit macht Kauff für die nächsten Tage zum Gefangenen. Um nicht verrückt zu werden, kriecht er seine dunkle Zelle im Heu auf und ab, zählt Sekunden, Getreidekörner, Löcher in Mauerziegeln. Schlafen kann er nur nach Einnahme von Luminal, von dem er einen kleinen Vorrat als letzten Ausweg für den Fall der Fälle eingesteckt hat. Als die Wehrmacht den Bauernhof in Beschlag nimmt, muß Kauff fliehen.

Ein halbes Jahr irrt er durch Deutschland. Mit gefälschten Papieren schlägt er sich nach Wien durch und wieder retour, findet Unterschlupf bei Bekannten, Verwandten, Fremden, flüchtigen Liebschaften. Immer wieder treibt ihn die Gefahr oder die Angst seiner QuartiergeberInnen weiter, bis er schließlich kurz vor Kriegsende bei einem Großeinsatz gegen Fahnenflüchtige angeschossen und beim Versuch, bei Begrenz über den Rhein in die Schweiz zu gelangen, festgenommen wird.

„Deserteur“ ist ein unter den prägenden Greuel des Krieges verfaßter tief pazifistischer Roman. Obwohl oder gerade weil literarisch wenig überzeugend, gibt er – in zeitweise quälend einfachen Schilderungen – genauen Einblick in den Alltag von einem, der im Gewand des Soldaten vor diesen auf der Flucht ist. Er veranschaulicht die Möglichkeit, sich dem „verfluchten“ und „sinnlosen“ Krieg zu entziehen, aber auch die damit verbundenen Gefahren. Kauff entkommt nur durch mehrfaches Glück.

Der Held des Romans ist keiner, manchmal nicht einmal sympathisch. Sein Verhältnis zu Kameradschaft und Männerbündelei ist weitgehend ungebrochenen, sein Frauenbild problematisch. Als Nihilist gehört Kauff nicht zu jenen, die ihr Glauben aufrecht in den Tod gehen läßt. Ihn treibt Angst vor dem Sterben und die gewachsene Überzeugung von der Falschheit des Krieges. Der Versuchung, seiner Handlung im Nachhinein ein „edleres“ Motiv unterzuschieben, widersteht er. „Weshalb ich desertiert bin?“, fragt er sich kurz vor Ende seiner Flucht: „So verurteilte ich bisher jeden, der nur aus Selbsterhaltungstrieb desertiert. Aber ist nicht der Selbsterhaltungstrieb Motiv genug?“

Unterbliebene Rehabilitierung

Jedenfalls nicht Motiv genug, als daß heute, mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende, eine solche Flucht aus der Deutschen Wehrmacht öffentliche Anerkennung fände. Eine Rehabilitation oder Entschädigung der Deserteure hat es meines Wissens in Österreich nie gegeben, ebensowenig wie eine Aufhebung der gegen sie verhängten Urteile. Doch so genau weiß das niemand, das Thema scheint nicht existent zu sein.

§ 70 Strafe für Fahnenflucht

(1) Die Strafe für Fahnenflucht ist Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

(2) Wird die Tat im Felde begangen oder liegt ein besonders schwerer Fall vor, so ist auf die Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus zu erkennen.*)

(...)

*) Amtl. Anmerkung: Die Todesstrafe ist geboten, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie nach der besonderen Lage oder des Einzelfalles unerläßlich ist, um die Manneszucht aufrechtzuerhalten (...)
(Militär-Strafgesetzbuch Berlin 1944)

Das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz betreffend NS-Urteile vom Juli 1945 umfaßt zwar Wehrkraftzersetzung, nicht aber Wehrdienstverweigerung und Fahnenflucht. Der Nationalfonds, aus dessen Mitteln in den letzten beiden Jahren eine große Zahl von Entschädigungszahlungen an Verfolgte des NS-Regimes gingen, hat nach dessen Auskunft nur einige wenige Fälle von Fahnenflucht oder Desertion bearbeitet. Voraussetzung für eine Zahlung durch den Fonds ist, wie schon bei der Opferfürsorge, der Nachweis einer Verfolgung aus politischen Gründen. Dies betrifft beispielsweise Kommunisten, die zunächst inhaftiert und später einer Strafkompanie zugeteilt wurden, von welcher sie schließlich flüchteten.

„Hier lebten und starben Män­ner verschiedener Völker im Kampf gegen den Nazi-Faschismus für die Freiheit.“ — In­schrift auf dem an das ehema­lige Polizeiliche Durchgangsla­ger erinnernden Mahnmal in Bozen/Bolzano. Aus der Erin­nerung nach wie vor getilgt sind die Frauen, die etwa 10 Prozent der Lagerinsassin­nen ausmachten.

Die Mehrzahl der Deserteure hätte da wohl kaum eine Chance auf Entschädigung. Verfolgung aufgrund von Fahnenflucht oder Wehrdienstverweigerung wird an sich noch nicht als politische gewertet, wie auch viele Deserteure sich selbst nicht als Widerstandskämpfer begriffen (die NS-Justiz erachtete Fahnenflucht „aus Furcht vor persönlicher Gefahr“ als besonders verwerflich, siehe Kasten). Die deutsche Bundesregierung brachte dies 1986 auf den Begriff: „Verurteilungen wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht oder Zersetzung der Wehrkraft haben im allgemeinen nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen, da solche Handlungen auch in Ländern mit rechtsstaatlicher Verfassung während des Krieges mit Strafe bedroht waren.“ In der BRD ist die Debatte seit damals in Gang gekommen, nicht zuletzt ein Verdienst der Bemühungen der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“ um eine pauschale Aufhebung der NS-Unrechtsurteile (siehe ZAM 7/95). Länge und Heftigkeit der öffentlichen und parlamentarischen Auseinandersetzung lassen aber auch dort nur wenig Illusionen über eine breite Akzeptanz dieser Forderung aufkommen.

Deutschland: Anerkennung zweiter Klasse

Zuletzt forderte insbesondere die sozialdemokratische Justizsenatorin Berlins, Lore Maria Peschel-Gutzeit, ein bundesweites Aufhebungsgesetz betreffend rechtsstaatswidriger NS-Strafurteile. Bei einer Einzelfallprüfung müßte allein in der ehemaligen Machtzentrale des NS-Regimes zwischen 200.000 und 300.000 Urteilen nachgegangen werden – ein kaum realisierbares Unterfangen. Schon in den 40er Jahren wurden analog wie in Österreich in allen Besatzungszonen Deutschlands Gesetze erlassen, die die Aufhebung bestimmter NS-Strafurteile oder die Herabsetzung unverhältnismäßig hoher Strafen ermöglichten. Doch der Anwendugsbereich dieser auf deklariert politische WiderstandskämpferInnen zugeschnittenen Gesetze blieb beschränkt, da die Verurteilungen zumeist – bei Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, oftmals sogar ausschließlich – aufgrund allgemeiner, heute noch gültiger Straftatbestände erfolgten (vgl. Ralf Vogl, Gleichgültigkeit gegenüber NS-Opfern, taz 19.3.1997).

Einer der ersten, dessen Todesurteil aufgehoben werden könnte, ist Franz Jägerstätter. Aufgrund des großen öffentlichen Interesses hat die Staatsanwaltschaft Berlin eine beschleunigte Behandlung des von der Witwe Franziska Jägerstätter und ihren drei Kindern eingebrachten Antrags zugesagt. In weniger bekannten Fällen habe ein derartiges Ansuchen nach Auskunft der Staatsanwaltschaft aber kaum Erfolgsaussichten.

Jägerstätter war am 9. August 1943 in Berlin auf dem Schaffott hingerichtet worden. Bis August 1944 wurden Verfahren wegen Kriegsdienstverweigerung zentral vor dem dortigen Reichskriegsgericht abgewickelt. Die Militärrichter verhängten 1189 Todesurteile, von denen 1049 vollstreckt wurden. 260 Urteile erfolgten aufgrund der religiösen Überzeugung der Verweigerer, zumeist Zeugen Jehovas (Lothar Eberhardt / Potsdamer Appell, 1.3.1997).

Einen ersten Schritt in Richtung Rehabilitierung von Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und Kriegsdienstverweigerern setzte am 23. April der Rechtsausschuß des deutschen Bundestags mit der Verabschiedung eines Entschließungsantrags, der von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP gemeinsam eingebracht worden war. Der Antrag sieht vor, Opfer der Wehrmachtsjustiz oder ihre Angehörige mit einer einmaligen Zahlung von je 7.500 Mark zu entschädigen. Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) hat angekündigt, im Sommer einen Gesetzesentwurf vorzulegen, mit dem die Militärurteile der NS-Zeit aufgehoben werden sollen.

Die Grünen, die sich ebenso wie die PDS der Abstimmung enthielten, halten nicht nur die im Entwurf gefundene Entschädigungsregelung für unzulänglich, sie kritisieren auch den Verzicht auf Einzelfallprüfungen aus „rein praktischen Gründen“. Denn die Entschließung sieht keine juristische Kassation der Militärgerichtsurteile vor. Ludwig Baumann, Deserteur und Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, spricht daher auch von einer „Rehabilitation zweiter Klasse“.

Der Antrag stellt zwar fest, daß der Zweite Weltkrieg ein Angriffs- und Vernichtungskrieg war, sein Geist entlarvt sich aber in jener Passage, in der es wörtlich heißt, daß die Urteile der Wehrmachtsjustiz „unter Anlegung rechtsstaatlicher Wertmaßstäbe Unrecht waren.“ Offensichtlich gibt es auch Wertmaßstäbe, unter deren Anlegung die Urteile Recht waren. Viel Energie verwendet der Entwurf darauf zu argumentieren, daß die Rehabilitierung keine „negativen Auswirkungen auf die Bundeswehr haben wird“. Eine solche Anerkennung, so das Resümée von Christian Semler in der tageszeitung, „bleibt im Hals stecken“.

Die österreichische Regierung engagiert sich für eine Revision von Urteilen bislang nur dort, wo diese vom Feind verhängt wurden (siehe Kasten). Doch dies könnte sich bald ändern: Vinzenz Jobst, Bildungsreferent der Klagenfurter Arbeiterkammer, hat die Geschichte des Kärntner Arbeiters Anton Uran, der wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet wurde, recherchiert und versucht nun, eine Urteilsrevision zu erreichen. Der Akt liegt zur Zeit beim Wiener Landesgericht.

Anton Fuchs hat sich nie um Rehabilitation oder Entschädigung bemüht. Wenige Monate vor seinem Tod wurde er im April 1995 anläßlich der 50-Jahrfeiern nach Kriegsende nach Holland eingeladen. Dort besuchte er auch jenen Heustadel in Leveroi nahe Limburg, in dem er im Herbst 1944 neun Tage in Finsternis zugebracht hatte. Nach Auskunft seiner Frau Lotte hat Anton Fuchs die Einladung nach Holland ebensosehr gefreut, wie ihn die unterbliebene zu einer Veranstaltung aus demselben Anlaß in Klagenfurt gekränkt hat. Wohl zu Recht schließt sie, daß die österreichischen Politiker dem Thema lieber aus dem Weg gehen.

Der Roman „Deserteur“ erschien 1958 in Holland und erst dreißig Jahre später auch auf deutsch. Er ist vergriffen.

Autor Anton Fuchs

Südtiroler Deserteure

Wieder erhältlich sind die von Leopold Steurer, Martha Verdorfer und Walter Pichler aufgezeichneten Berichte Südtiroler Deserteure der Jahre 1943–1945. „Verfolgt, Verfemt, Vergessen“ ist die bislang wohl umfangreichste Sammlung „lebensgeschichtlicher Erinnerungen“ von Wehrdienstverweigerern, Fahnenflüchtigen und Frauen, die infolge der Sippenhaft interniert wurden.

Deren Erfahrungen von Flucht und Verstecken ähneln in vielem denen Anton Fuchs, gleichzeitig sind sie stark von der spezifischen Situation Südtirols geprägt. Fast alle Deserteure entstammten dem ländlichen Milieu, zumeist den sozial unteren Schichten. Zwar waren es weniger politische als pragmatische und vor allem religiöse Gründe, die den Ausschlag zur Fahnenflucht gaben, dennoch gehörten viele von ihnen der kleinen Gruppe der „Dableiber“ an, die gegen eine Umsiedlung ins Deutsche Reich optiert hatten. Diese wurden auch nach Ende der Optionsfrist im Dezember 1939 weiterhin zum italienischen Militär einberufen. Neben der Angst vor dem Sterben, der Einsicht in die Sinnlosigkeit des Krieges und der Hoffnung auf dessen baldiges Ende spielte daher auch die Überzeugung, als italienischer Staatsbürger unrechtmäßig zur Deutschen Wehrmacht einberufen worden zu sein, eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zu fliehen.

Unterstützung erhielten die Deserteure vielfach vom entgegen der Kirchenspitze antinazistisch eingestellten niederen Klerus und von ItalienerInnen, auf deren Gebiet sie sich zurückzogen. Diese Möglichkeit, die Nähe zur Schweizer Grenze und das ein Verstecken begünstigende gebirgige Gelände waren sicherlich ausschlaggebend dafür, daß viele von ihnen überleben konnten. Die Verfolgung der Deserteure und ihrer Angehörigen ging weniger von den zentralen Stellen als von den lokalen Machtzentren aus, vom „Sicherungs- und Ordnungsdienst“ und der „Arbeitsgemeinschaft der Optanten“.

Bei vielen Deserteuren orten die AutorInnen Bauernschläue und „Gottvertrauen“. Ihr Glaube gab ihnen, in den Worten Jean Amérys, „jenen festen Punkt in der Welt, von dem aus sie geistig den SS-Staat aus den Angeln hoben.“ Nach Kriegsende allerdings trug die Haltung des christlichen Verzeihens nicht unwesentlich zur Verdrängung des Geschehenen bei. Aussagen wie die folgende sind typisch: „Und nach dem Krieg mußten wir überall – ja, unser Herr muß uns auch verzeihen – mußten wir überall verzeihen. Da sind diese Hitlerischen dann gekommen, mit Zetteln zum Unterschreiben. (...) Und dann ruft uns der Vater und sagt: ’Ja, Kinder, kommt nur herein und macht da einen Strich in Gottes Namen. Jetzt ist der Krieg aus, lassen wir es halt gut sein.’ Dann haben wir unterschrieben.“ (Anna Ennemoser)

Ein großzügiges Amnestiegesetz und die unterbliebene Entfaschisierung der italienischen Justiz verhinderten eine Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus. Genugtuung verschafften nur die – seltenen – Akte der Selbstjustiz. Sympathisch ist die Mischung aus Entschlossenheit und Milde, mit denen die Deserteure hierbei zumeist zur Tat schritten: Da setzte es halt nach dem Kirchgang eine kräftige Tracht Prügel für die ehemaligen Verfolger und Denunzianten (die sogenannte „Firmung“).

Den AutorInnen, eigentlich: HerausgeberInnen, ist es um die Anerkennung der Deserteure und jener gelegen, die sie unterstützten – Erinnern als Widerstand gegen das Vergessen und Verdrängen. So ausführlich sie diese selbst zu Wort kommen lassen, so knapp sind ihre eigenen Ausführungen. Ohne Kenntnis des historisch-politischen Umfelds, des deutsch- wie italienischsprachigen antinazistischen Widerstands oder der für die Entscheidung zur Fahnenflucht wesentlichen Konsequenzen des Berliner Umsiedlungsvertrages vom Juni 1939 fällt es aber schwer, das Phänomen Desertion in Südtirol in den historischen Kontext einzuordnen.

Eine solche Einordnung erfolgt nur in Hinblick auf das „Vorzeigen und Verstecken des antinazistischen Widerstands nach 1945“. In der Auseinandersetzung um den weiteren Status Südtirols wurde der Widerstand von beiden Seiten, den deutschsprachigen Südtirolern auf der einen und der italienischen Regierung auf der anderen, umgehend instrumentalisiert. Die Südtiroler Volkspartei (SVP) sah sich dem „doppelten Legitimationsproblem“ gegenüber, „einerseits die Zustimmung der Alliierten und andererseits der Optanten zu gewinnen“. Alle im Krieg Umgekommenen, gleich ob Angehörige der SS oder PartisanInnen, waren nunmehr „für die Heimat“ gefallen – ganz so, wie es dem Mythos vom „Südtiroler Abwehrkampf“ entsprach.

Was wollen Sie denn von mir wissen, mein Mann war ja doch nur ein Verräter.

Deserteurswitwe 1991

Kurz nach Kriegsende veröffentlichte die SVP in ihrem Parteiorgan Volksbote neben den Namen von KZ-Häftlingen und -Opfern auch jene von 245 Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren als Beleg für „Südtirols Opfergang unter dem Nationalsozialismus“ (die Liste bildete die Grundlage für die Recherchen zum Buch). Aus dem öffentlichen und politischen Leben aber wurden die „Drückeberger“ und „Verräter“ alsbald wieder ausgegrenzt, während ehemalige Optanten und Nationalsozialisten neuerlich als Helden galten: „Da hatten wir ’Kriegsverräter’ und ’Kriegsverbrecher’, wie man uns nannte, nichts mehr zu suchen.“ (Franz Thaler). Hans Egarter, „eigentliche Symbolgestalt des Südtiroler Widerstands“, war als einziger prominenter Widerstandskämpfer, der nach 1945 „Gerechtigkeit für die Opfer, Gericht für die Kriegsverbrecher“ forderte, schon bald völlig isoliert. Die Verbitterung über ihre Ausgrenzung ist den Deserteuren und WiderstandskämpferInnen bis heute geblieben.

  • Anton Fuchs, Deserteur, Alekto Verlag, Klagenfurt 1987. ISBN 3 900743 27 4.
  • Leopold Steurer, Martha Verdorfer, Walter Pichler: Verfolgt, Verfemt, Vergessen: lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–1945, 2. Aufl., ed. sturzflüge, Bozen/Bolzano und StudienVerlag, Innsbruck 1997, ISBN 3-7065-1191-6, öS 398,–

Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren in Rußland

Einer Gruppe österreichischer Wehrmachtsdeserteure wurde nunmehr die Möglichkeit zur Rehabilitierung eröffnet – nicht jenen, die von der NS-Militärjustiz, sondern jenen, die von sowjetischen Gerichten abgeurteilt wurden. Grundlage hierfür bildet das noch in der Zeit Gorbatschows beschlossene Rehabilitationsgesetz von 1991. Es berechtigt auch ÖsterreicherInnen, eine Revision politischer Fehlurteile zu beantragen. Das Spektrum reicht dabei von KommunistInnen und SozialistInnen, die in den 30er Jahren emigrierten, bis zu „Volksdeutschen“ und der Mitgliedschaft im „Werwolf“ Verdächtigten, die ab 1945 in die Sowjetunion verschleppt oder verbracht wurden, und umfaßt auch Wehrmachtsangehörige, die in Folge des Ostfeldzugs als Gefangene oder Überläufer in der UdSSR verblieben.

Aufgehoben werden können Urteile der Militärtribunale und Sondergerichte (Troika, Dvoika, Berija-Gericht, ...). Darüberhinaus sieht das Gesetz auch eine Rehabilitierung jener vor, die – ohne jemals verurteilt worden zu sein – der sogenannten „administrativen Repression“ unterlagen. Die Schwierigkeit bei letzterer Kategorie besteht darin, das sie nur InländerInnen umfaßt. Die österreichische Regierung bemüht sich nun um eine Ausweitung auf AusländerInnen. Im übrigen geht sie den Weg der Einzelfallprüfung, da sie nicht davon ausgeht, daß alle von sowjetischen Gerichten verhängten Urteile unrecht waren. Die deutsche Bundesregierung dagegen versucht in Rußland das durchzusetzen, was sie im eigenen Land so heftig zu verhindern trachtete: eine pauschale Rehabilitierung.

Sind die Bestrebungen erfolgreich, könnte beispielsweise Leopold Picej, Kärntner Slowene aus Kühnsdorf, rehabilitiert werden. Picej desertierte als einer der ersten Österreicher in der Anfangsphase des Ostfeldzugs im Jänner 1942 in der Nähe von Leningrad. Ein Jahr später starb er in einem Kriegsgefangenenlager an Hunger.

Die nicht geringe Zahl österreichischer Deserteure, die Opfer der sowjetischen Unrechtsjustiz wurden oder der administrativen Repression ausgesetzt waren, teile sich, so der Leiter des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung Stefan Karner, in zwei Gruppen. Ein Teil kam in Kriegsgefangenenlager und wurde dort wegen Vergehen im Lager verurteilt oder verhungerte. Der andere – typischerweise Dolmetscher, Schreiber, Ärzte, Sanitätspersonal – wurde in die antifaschistischen Brigaden integriert und zur Umerziehung eingesetzt. Häufig warb die politische Polizei Tscheka Deserteure als kleine Spitzel an.Viele von ihnen wurden in den Jahren 1947–50 verurteilt, als sie aus der Sicht der Sowjets zu einer Gefahr geworden waren.

Etwa 10.000 Fälle haben die russischen Gerichte, die nach Karners Erfahrung ebenso vorbildlich wie rasch arbeiten, bislang behandelt. Aus Österreich liegen bereits 500 Anträge vor (bei insgesamt 3–4000 Betroffenen). Sie werden vom Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, Graz-Wien (Schörgelg. 43, 8010 Graz), für das Außenministerium gesammelt und bearbeitet. Form- und kostenlose Anträge können nicht nur von den Betroffenen selbst, von denen viele ja bereits tot sind, sondern von jedermann und jederfrau, auch von Vereinen und Institutionen, gestellt werden. Das Institut rechnet mit Gerichtssprüchen noch in diesem Jahr.

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